Vom Nachttisch geräumt

Maria Magdalena

Von Arno Widmann
14.10.2015. Andreas Bleitner porträtiert achtzehn "Frauen der 20er Jahre" mit Glamour und Stil.
Achtzehn Kurzporträts von "Frauen der 20er Jahre" aus Literatur und Kunst, Mode, Fotografie und Film, Unterhaltung und Sport. Dem Titel entsprechend kommt die bekannteste Fotografin des Zweiten Weltkrieges Lee Miller im Buch nicht vor, sehr wohl aber das Model und die Modefotografin, die sie davor gewesen war. Den fünf Kapiteln gehen jeweils zwei Seiten Einführung voran. Es geht los mit "Glamour, Stil und Avantgarde" und endet mit "Abenteuer und Sport". Dazwischen "Society und Mode", "Fotografie und Film" und "Cabaret und Tanz".

Der Band beginnt mit Zelda Fitzgerald und endet mit Clärenore Stinnes. Keine Seite erinnert an das Elend, das die Zwanziger Jahre für die meisten der Zeitgenossen waren. Hier geht es ausschließlich um die Roaring Twenties. Mit großartigen schwarz-weiß Fotos und farbigen Zeichnungen. Der Tanz auf dem Vulkan, festgehalten zu einer Zeit, als man noch nicht wusste, dass er das war. Wo das heute aufgenommen wird, hat es den unwiderstehlichen Reiz unfreiwilliger Komik. Rechts steht quer über die Seite als Motto des Artikels über die Tänzerin Anita Berber (1899 - 1928) Karl Lagerfelds Diktum: "Sie war die gewagteste Frau ihrer Zeit. Sie hat ihr kurzes Leben verbrannt. Die Jugend von heute kann sich nur zu gut mit ihr identifizieren". Links gegenüber ein Foto der 21-Jährigen mit schräg gehaltenem Kopf und einem Blick, der, bei schützend vor den Oberkörper gehaltenen Händen, dem des Betrachters ausweicht, so sehr, dass die Pupillen zu verschwinden scheinen im Weiß des Augapfels. Die Beute, die zitternd den Jäger anlockt.

Blättert man weiter, ein Foto, das die nackte Anita Berber knieend vor einem seine Blöße züchtig mit einem Lendenschurz bedeckenden Mann zeigt. Aus dem Tanz "Märtyrer", klärt mich die Bildlegende auf. Die Berber streckt den Arm aus, um den Heiligen Sebastian daran zu hindern, einer zu werden. Dergleichen Inszenierungen belegen, was ein in diesem Buch nicht vorkommender Autor der Zeit die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" nannte. Das Foto stammt aus dem Jahre 1922. Man wird wenig in diesen Aufnahmen finden, das irgendetwas mit der Jugend von heute, der Jugend fast eines Jahrhunderts später, zu tun hat. Bei der Betrachtung der Fotos wird man den Verdacht nicht los, dass die rebellische Geste der Berber, ihre demonstrative Nacktheit, kompensiert wurde durch die Zurschaustellung der Unterwerfung. Die Rollenerfüllung als Voraussetzung der Rollenüberschreitung.

Glücklicherweise gibt es auch Texte in diesem Buch. Thomas Bleitner klärt darüber auf, dass Anita Berber, bevor sie zur Künstlerin gemacht wurde, ein Nacktstar war. Im ersten Nacktballett der Republik war sie seit 1920 ein Star und lebte einer gerade erst dem Kaiserreich entronnenen Öffentlichkeit vor, was sexuelle Freizügigkeit hieß. Sie tat nichts, was nicht auch schon unter Wilhelm II. getan worden wäre. Aber jetzt geschah es in aller Öffentlichkeit. Eine Frau konnte mit mehreren Männern und mehreren Frauen Geschlechtsverkehr haben, ohne das zu verstecken, ja sie durfte sich öffentlich daran erfreuen.

Lagerfeld wird das gemeint haben. Er hat vielleicht auch an Madonna gedacht, die ebenfalls mit der Amalgamierung der Images von Heiliger und Hure Ende des 20. Jahrhunderts einen globalen Erfolg feierte. Oder denken wir an Cicciolina, die in Nachtclubs auftrat und den anwesenden Herren Einblicke in ihre Vagina gewährte und von Jeff Koons zur Muse, Ehefrau und Mutter eines gemeinsamen Kindes erkürt wurde. Mit dem entsprechenden künstlerischen Output. Wir haben es womöglich mit einer immer wieder auftretenden Mechanik im Geschlechterverhältnis zu tun. Die tief ins nazarenische frühe 19. Jahrhundert zurückreichende Bildsprache der Fotos täuscht einen darüber hinweg. Oder aber, sie weist einen darauf hin, dass schon damals die verlogene Süße ein Maria-Magdalena-Effekt war.
"Frauen der 1920er Jahre" ist nicht nur ein schönes, es ist auch ein überaus anregendes Buch. (Bilder: Anita Berber)

Thomas Bleitner: Frauen der 1920er Jahre - Glamour, Stil und Avantgarde, Sandmann Edition, München 2014,184 Seiten, 120 Abbildungen, 38 Euro.