Vom Nachttisch geräumt

Ein Bündel von Zubehör

Von Arno Widmann
27.04.2016. Wie Henry James erkannte, dass seine Stärke seine Schwäche war, lernt man in Verena Auffermanns kleiner James-Biografie.
Ich bin dieser Buchreihe verfallen. Man muss das wahrscheinlich abziehen von meinem Lob für die Einzelbände. Zum Beispiel stört mich viel zu wenig, dass Verena Auffermann erst sehr spät mit Henry James' (1843 - 1916) Homosexualität herausrückt. Sodass der Leser sich auf Seite elf noch zu Auffermanns Äußerung, Henry James behandele seine Themen "mit der Aufmerksamkeit des Forschers, unbeeinträchtigt von den Gefühlswallungen eines Empathikers" noch an den Rand notierte, ob nicht doch eine Rolle spiele, dass es sich in diesem Falle um weibliche Gefühle drehe. Schon auf Seite neun war ihm die ausgerechnet in eine Venedig-Szene eingebettete Bemerkung, James "hatte die Rolle des Außenstehenden eingeübt, um der unsentimentale, unbarmherzige Beobachter" zu sein, wie eine Anspielung auf Aschenbach, den Helden von Thomas Manns Erzählung "Der Tod in Venedig" erschienen. Es fehlt also nicht an mehr oder weniger versteckten Hinweisen. Aber was ist gewonnen, erst die Sache erst so spät beim Namen zu nennen? In einem Roman könnte es reizvoll sein. Aber in einem Essay.

Das nämlich ist das Schöne an dieser Reihe. Die großformatigen Bücher haben keine hundert Seiten. Links ist immer ein Foto, rechts der Text. Der umfasst also nicht einmal 50 Seiten à nicht einmal 2500 Anschlägen pro Seite. Das sind weniger als 125 000 Anschläge. Also knapp zehn Zeitungsseiten. Das ist an einem schönen Sonntagnachmittag in einem Café zu schaffen, selbst wenn man immer wieder nach den Nachbartischen schaut.

Ich habe mir von der Auffermann-Lektüre gemerkt, dass es eine Weile dauerte, bis Henry James erkannte, dass seine Schwäche seine Stärke war. Sein kluger, sein fünfzehn Monate älterer Bruder, der Philosoph William James, machte sich lustig darüber, dass Henry "Gesellschaftsromane" schrieb. Das war ein in seinen Augen eher mediokres Genre. Hier ging es um die Beobachtung des Alltagslebens einer bestimmten Gesellschaftsgruppe. Die wirklich relevanten, die großen Themen, so fand William James, waren in historischen Stoffen und da auch eher noch in Epos und Drama als im Roman zu entfalten. Man erinnert sich, dass in der Malerei die gleiche Hierarchie galt. Ganz oben stand die Historien-, ganz unten die Genremalerei. Im Alltag wurden keine Helden gemacht. Ihn überließen die Männer, so die Ideologie, den Frauen. Im Leben wie in der Kunst.

Es gibt ein Foto in diesem Buch, auf dem glaubt man das Verhältnis der beiden Brüder auf einen Blick zu erkennen. Es entstand zwischen 1899 und 1901. Die beiden Herren haben für den Fotografen die Hüte abgenommen, stehen nebeneinander im Freien. William James neigt sich dem Bruder zu. Er legt den rechten Arm über dessen Schulter. Henry James' Körper dagegen ist starr geradeaus gerichtet. Dafür neigt er den Kopf, den Blick zum Fotografen gewandt, dem Bruder zu. Das Ich, das sich beugt, und der Leib, der seinen eigenen Weg geht. Beide zusammen machen Henry James aus.

Der Text auf der dem Bild gegenüberliegenden Seite beginnt so: "In seinem tausendseitigen wissenschaftlichen Hauptwerk 'The Principles of Psychology' beschäftigt sich William James intensiv mit der Physiologie des Gehirns und entwickelt die These vom 'Bewusstseinsstrom', die Quelle für Henry James' Technik des indirekten Erzählens. Berühmt wurde William James zudem für die Herausarbeitung der Differenz zwischen 'I' und 'Me', dem 'I' als Subjekt und dem über sich reflektierenden 'Me'. Aus dem Zusammenwirken beider, dem 'I' und dem 'Me' entwickelt sich das Selbst."

Das ist auch ein schöner Kommentar zu den beiden Herren und ihrem Verhältnis zueinander. Mehr noch aber erschrickt man doch darüber, dass William James nicht erkannt zu haben schien, dass die Kunst nicht eine Tradition ist, die man hinter sich herschleppt, sondern dass sie sich mit unseren Kenntnissen entwickelt. Auffermann zitiert Madame Merle aus dem "Porträt einer jungen Dame': "Es gibt keine Frau oder eine Frau ganz für sich allein; jeder von uns besteht aus einem Bündel von Zubehör. Was sollen wir denn unser 'Selbst' nennen? Wo fängt es an? Wo hört es auf? Es fließt in alles, das zu uns gehört - und fließt dann von dort wieder zurück. Ich weiß, dass ein großer Teil von mir in meinen Kleidern steckt, die ich aussuche. Ich habe eine große Achtung vor Dingen. Das eigene Selbst ist - für andere - unser Ausdruck unseres Selbst; und unser Haus, unsere Möbel, unsere Kleidung, die Bücher, die man liest, die Gesellschaft, die man pflegt - diese Dinge sind alle Ausdruck unserer selbst." So Madame Merle. Zur Wahrheit gehört freilich auch, dass dieses Selbst nie zufrieden ist mit dem, wie es sich zeigt. Es bildet sich ein, noch viel mehr, ja auch das Gegenteil von dem, was zu sehen ist, zu sein. Henry James zeigte uns das.

Verena Auffermann, Henry James, Deutscher Kunstverlag, Berlin, München 2016, 96 Seiten mit 68 Schwarzweiß- und Duplexabbildungen, 21 x 28 cm, 22 Euro.