Vom Nachttisch geräumt

Die Kurzatmigkeit der Welt

Von Arno Widmann
17.08.2017. Ein Schatz, in einem 8-bändigen Kraftakt von Schirmer und Mosel gehoben: die Zeichnungen von Cy Twombly
Lothar Schirmer ist der Chef des Verlages Schirmer/Mosel. Er ist 72 Jahre alt. Er hat mir einen Brief geschrieben, den ich, die Gesetze der Höflichkeit verletzend, hier veröffentliche: "Lieber Herr Widmann! Anbei den Schlussstein unserer großen Twombly Zeichnungsedition für Sie, Ihre Bibliothek und alle Leser von DuMont Blättern. Was Besseres dürfte mir zu Lebzeiten nicht mehr gelingen. Dazu ist die Welt - mich eingeschlossen - ein wenig zu kurzatmig geworden. Aber besprechen oder einfach weiterempfehlen kann natürlich nicht schaden! Mit herzlichen Grüßen Ihr Lothar Schirmer."

Ich rezensiere wahrscheinlich seit 35 Jahren Bücher seines Verlages. Ich habe noch nie einen so traurigen Brief von ihm bekommen. Der von Nicola Del Roscio herausgegebene Catalogue Raisonné der Zeichnungen des amerikanischen Malers Cy Twombly (1928-2011) umfasst acht Bände mit insgesamt mehr als 2670 Farbtafeln. Die Bände kosten alle zusammen in zwei Schubern 1.300 Euro. Natürlich habe ich mich nie getraut, eine so teure Fracht - oder auch nur einen einzelnen Band daraus - zur Rezension zu bestellen. Dabei gehört Cy Twombly zu denen, die ich, seit ich ihn sehr spät auf der  Biennale von 1988 entdeckte, verehre wie nur wenige andere. Er ist hell, wach, verspielt und präzise wie nur Träume es sind. Aber bevor ich jetzt mir endlich ein Herz fasse und über Cy Twombly  schreibe, muss ich erst einmal sagen, dass ich gerührt bin von Schirmers Zeilen. Von der Resignation, die aus ihnen spricht. Sie klingen wie ein Abschied. Vielleicht hat er Recht, vielleicht gelingt ihm nichts mehr ähnlich Monumentales wie diese acht Bände von einem der wirklich bedeutendsten Künstler der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sicher hat er auch damit Recht, dass die Zeiten kurzatmig geworden sind. Aber das sind sie schon lange. Die großen Projekte müssen fast immer von den wenigen, die den langen Atem haben, durchgesetzt werden gegen die eilige, von Ereignis zu Ereignis japsende Gegenwart.

Schirmer hat sich die Zeit genommen, hat durchgeatmet und immer wieder gewartet darauf, dass seine großartigen Bücher ihre Käufer finden. Ich denke mir, dass man heute länger warten muss, bis man wieder aufatmen kann nach einer Durststrecke, die doch jeder große Band für einen kleinen Verlag bedeutet. Der Kurzatmigkeit der Welt hat Schirmer seinen Verlag entgegengestellt. Er hat sich freilich auch tragen lassen von ihr. Das macht Schirmers Kunst aus: Madonna und die Bechers oder Elvis Presley und Michael Frieds Essay "Warum Fotografie als Kunst so bedeutend ist…"  Es gibt nicht wenige Schirmer/Mosel-Leser, die im Laufe der mehr als vierzig Jahre, die es den Verlag nun gibt, dieses "und" ihm abgeschaut und für sich entdeckt haben.  Sie haben Wolfgang Kemps und Hubertus von Amelunxens vier Bände "Theorie der Fotografie" ebenso aufmerksam durchstöbert oder gar gelesen wie die Werkübersichten von Gerhard Richter, Cy Twombly, die Bände über Beuys, Kiefer und Kahlo.


Cy Twombly, Shield of Achilles, 1978

Aber zurück zu Cy Twombly. Er war eng befreundet mit Robert Rauschenberg und Jasper Johns, verabschiedete sich dann aber und ging nach Europa. Dort malte er riesige Bilder, die, sah man sie auf Abbildungen, nichts schienen als Kleckse und Striche. Stand man vor ihnen, ging man drei, vier, fünf, ja zehn Schritte zurück und sah riesige Landschaften, in denen das Weiß der Leinwand eine gewichtige Rolle spielte und dann mal mitten drin, lieber aber unten oder oben in einer Ecke,  eine Zeile aus einem Gedicht, aus längst vergessenen Texten, die den Betrachter weit wegschickten. Oft über Jahrtausende zurück. Da gibt es aus dem Jahr 1978 ein Bild 190 mal 170 Zentimeter ein kreisendes Etwas auf weißer Leinwand. Der Rand dunkelblau und schwarz, in der Mitte glühendes Rot. Ein Stern aus den Tiefen des Kosmos, denkt man. Dann entdeckt man darüber den Schriftzug Achilles Shield.

Seit Homers Beschreibung des Schild des Achill ist dieser Passus berühmt, ein fester europäischer Topos, wenn es um die Frage nach der Verbindung  von Bild und Text, von Malerei und Dichtung geht. Der Betrachter kann sich entscheiden. Er gibt seinen ersten Eindruck auf und verabschiedet sich von der kosmologischen Assoziation beim Anblick des kreisenden Farbkleckses. Ich habe mich geirrt, sagt er sich, das ist das Schild des Achills. Er ordnet das Bild dem Text, den er als Erläuterung liest, unter. Oder aber der Betrachter ist nicht bereit, seine kosmologische Assoziation aufzugeben. Das Schild des Achill bewahrt uns vor dem Einbruch der Welt, sagt er. Jetzt erläutert er den Text durch das Bild. "Schild des Achill" ist eine Metapher geworden. Twombly, so sieht der Betrachter das jetzt,  setzt der Kurzatmigkeit der Gegenwart nicht nur Zitate aus anderen Zeiten und anderen Künsten entgegen, sondern die Weiten des Universums.

Im Band 8 der Zeichnungen gibt es ein paar Seiten, auf denen die einzelnen Seiten eines Heftes abgedruckt sind, das ein Dutzend Vierzeiler des persischen Dichters, Philosophen, Mathematikers, Astronomen Omar Khayyam (1048-1123) versammelt. Cy Twombly  hat die Verse des Dichters auf die Seiten des Heftes geschrieben und sie bemalt mit Kreisen und Strichen. Ganz wie die großen Leinwände so die 22 Seiten eines 54x38 Zentimeter großen Heftes. Sie haben etwas Animierendes. Man möchte Wasserfarben kaufen und es ihm nachtun. Nicht weil es so einfach scheint. Nein, das nicht. Aber es scheint das Selbstverständlichste von der Welt, sich Verse zu nehmen, wenn man sie schon nicht selbst schreiben mag, und ein wenig um sie herum klecksen. Oder auch umgekehrt. Ein Heft nehmen, es bemalen und dann hier und da einen Text dazwischen, hinein oder darüber.

Cy Twombly nahm Texte wie diesen: "Der sucht nach Licht, der ist dem Zweifel nah'; / Der grübelt, forscht, was war, was nicht geschah. / Da plötzlich ruft der auf der Warte: 'Narren! / O wisst, der Weg ist weder da, noch da!'"

Bei Omar Khayyam geht es um Wein und Liebe - mit Mädchen und Männern -, um die Gewissheit der Ungewissheit. Es ist eine weltliche Philosophie, eine antike Weisheits- und Lebenslehre, die bald bekämpft wurde von den Gralshütern des wahren Glaubens. Cy Twombly, so klärt uns Cy Twomblys Lebensgefährte Nicola Del Roscio in seinem Catalogue Raisonné auf, arbeitete an diesem Heft, der Nummer 138 des achten Bandes, in den Jahren 1984 - 2002. Es scheint darauf anzukommen, sich eine solche Arbeit zu einem Begleiter zu machen oder eher zu etwas, das man einmal liegen lässt, auf das man aber zurückkommt und neu anfasst.

Ich stelle mir das Heft vor, wie es - noch kein Heft - in losen Blättern in einem der Ateliers liegt. Twombly hatte es liegen lassen. Ein wenig verärgert. Alles schien ihm misslungen. Dann sah er es Monate, Jahre später wieder. Er hatte vergessen, was er vorgehabt hatte und so sah er nur das, was da war und das schien ihm gut. Jedenfalls ließ sich daraus etwas machen und so füllte er wieder ein Blatt, zwei Blätter, fügte Verse des alten, beschwipsten Persers hinzu und ließ es wieder liegen, denn Großes wollte es wohl nicht werden. So entstand mit den Jahren etwas, das ich liebend gern hätte und für das nicht nur persische Millionäre inzwischen wohl Hunderttausende hinlegten. Das Heft, auch darüber klärt der Katalog auf,  gehört der Cy Twombly Foundation. Vielleicht war alles auch  ganz anders. Und das Heft, das so lange unabgeschlossen herumlag - wie andere auch - nahm - wie auch diese - zwanzig Jahre später der alt gewordene Cy Twombly zur Hand, weil er zu Ende bringen wollte, was er angefangen hatte. Omar Khayyams todesgewisse Verse riefen Twombly also nicht nur zu Wein und Liebe, sondern vor allem zur Arbeit. Er sah sein Ende kommen und wollte darum beenden, was noch lose herumlag.


Cy Twombly, aus der Serie Bacchus 2005

Vielleicht ging es dem Verleger ähnlich mit den mächtigen Bänden der Zeichnungen Cy Twomblys. Vielleicht hatte er Zweifel, alles noch fertig zu bekommen. Man muss nur einmal stolpern, unglücklich hinfallen. Und noch etwas, das die Jugend vergisst. Man kann nicht ewig zwölf Stunden am Tag siebenmal die Woche arbeiten. Der Körper braucht mehr Ruhe im Alter, und auch der Kopf ist darauf angewiesen. Aber Schirmer ist es gelungen. Der achte Band der Zeichnungen liegt vor. Und wir Twombly-Bewunderer blättern darin, vergessen ganz schnell den Verleger und bleiben zum Beispiel hängen an den Blättern, auf denen nur geschwungene Linien gezeichnet sind: blau, rot, grün, gelb. In Schreibwarengeschäften findet man manchmal solche Blätter, auf denen Kunden Farbstifte ausprobiert haben, und einmal nahm ich ein Blatt mit, weil es mir so gut gefiel. Dass ich seine Schönheit erkannte, habe ich Twombly zu verdanken. Er hat mir das beigebracht. Wir unterschätzen gerne, dass uns die Augen geöffnet werden müssen.

Gar nicht so sehr fürs Besondere. Das fällt uns leicht auf. Sondern fürs Gewöhnliche. Das ist uns zu bekannt. Wir übersehen es. Ein Gutteil der Anstrengungen der Kunst des 20. Jahrhunderts bestand darin, die Schönheit des Gewöhnlichen sichtbar zu machen. Duchamps Pissoirbecken von 1917 ist nur eine Etappe darin, wie Beuys' Fettecke oder seine Badewanne. Cy Twomblys Kritzeleien sind absichtslos, frei. Ihrer Schönheit aber scheinen sie mir völlig bewusst. Und dieses Bewusstsein macht sie noch schöner. Das lässt sich alles natürlich nicht beweisen. Wie soll eine Zeichnung sich ihrer bewusst sein? Aber wir wissen inzwischen: wir denken auch mit der Hand. Und erst Cy Twombly! Ein Schwabe, den es nach Berlin verschlagen hatte, schrieb, als habe er Cy Twombly gekannt: "Das Wahre ist der bacchantische Taumel, an dem kein Glied nicht trunken ist, und weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar auflöst, - ist er ebenso die durchsichtige und einfache Ruhe."

Ganz kurz sei noch darauf hingewiesen: Im Verlag Schirmer/Mosel sind nicht nur die acht Bände des Katalogs der Zeichnungen, sondern auch die sechs der Gemälde (hrsg. Von Heiner Bastian), ein Band seiner Plastiken (1946-1977) und ein Band mit der Grafik Cy Twomblys erschienen. Dazu kommen zwei Bände mit Fotos und neben anderen Bänden auch einer mit "Writings on Cy Twombly" (alle hier).  Unbedingt zu lesen ist von Mary Jacobus "Reading Cy Twombly - Poetry in Paint" und - das auch als ein Hinweis an Lothar Schirmer - "Hold Still - A memoir with Photographs" von Sally Mann. Ein großartiges Buch der großartigen Fotografin Sally Mann. Sie war in Lexington, Virginia eine Nachbarin von Cy Twombly.

Nicola Del Roscio: Cy Twombly Drawings Vol. 8, Schirmer/Mosel, München 2017, 200 pages, 341 color plates,168 Euro
Stichwörter