Post aus der Walachei

Pentru Europa - Für Europa

Von Hilke Gerdes
01.12.2003. Die Rumänen sind pentru Europa - für Europa. Von den Opfern, die sie das kostet, macht sich der Westen keinen Begriff.
Der von drei Posten bewachte amerikanische Militärattache wohnt bei uns um die Ecke. Abends können wir im Vorbeigehen durch die Fenster seinen Schreibtisch mit Bücherwand im Hintergrund sehen; auf einer Galerie gelegen, die die großzügigen Ausmaße des Wohnzimmers darunter erahnen lässt. Er wird viel zu tun haben. Auch wenn keine Verhandlungen über die Stationierung von US-Abwehrrakten im Gange sind, wie der Außenminister Mircea Geoana betont. Und damit auf Spekulationen der Süddeutschen Zeitung vom 10. Oktober reagiert. Rumänien liegt strategisch nicht ungünstig für die Amerikaner. Und die Rumänen könnten amerikanische Wirtschaftshilfe gebrauchen. Genauso wie die EU-Fonds zur Modernisierung des Landes. Am liebsten hätten sie natürlich beides, was verständlich ist. Dass das Land dabei leicht zwischen die Fronten gerät, wurde während des Irak-Kriegs deutlich.

Rumänien lässt gleichzeitig keinen Zweifel daran, alles zu tun, um 2007 in die EU aufgenommen zu werden. Pentru Europa - für Europa. Jede Gesetzesänderung, jede Preiserhöhung, jede noch so unpopuläre Maßnahme wird gerechtfertigt damit, dass sie einen Schritt in Richtung EU-Mitgliedschaft sei.

Die Menschen werden dabei auf eine harte Probe gestellt. Die Privatisierung der hoch verschuldeten Staatsbetriebe bringt den drastischen Abbau von Arbeitsplätzen mit sich. Den Konsumpreisen kann man beim Klettern zuschauen, im Vergleich zum Oktober 2002 sind sie um satte 15,8 Prozent gestiegen. Gerade hat die Post ihre Preise um durchschnittlich 21 Prozent erhöht, der Erdgaspreis ist zum viertem Mal in diesem Jahr angehoben worden. Wir bezahlen hier fast soviel für den Strom wie in Deutschland. Gleichzeitig hört der Euro nicht auf zu steigen, verliert der rumänische Leu täglich an Wert.

Das Referendum

"Pentru Europa" steht auch auf den blauen Plakaten, die man überall in der Stadt sieht. Sie rufen dazu auf, sich am Referendum zur Verfassungsänderung zu beteiligen. "Wählt die neue Verfassung, wählt Europa" schallt es aus den Fernsehern und Radios in die rumänischen Wohnstuben. Die Abstimmung wird als das Votum für oder gegen Europa verstanden. Tritt die neue Verfassung in Kraft, kann das Parlament mit einer Zweidrittelmehrheit den Beitritt zur EU und die Einführung des Euros beschließen. Ein Referendum ist dann nicht mehr notwendig.

Eine Wahlbeteiligung von 50 Prozent plus einem Wähler muss erreicht werden, damit das Ergebnis gültig ist. Die Regierung ist nervös, ob sie es schafft, das Volk zu mobilisieren. Wenn nicht, sind anderthalb Jahre mühsamer Verhandlungen zwischen Regierungspartei und Opposition um die Revision des Grundgesetzes für die Katz. Meinungsumfragen sollen ergeben haben, dass nur 30 Prozent sich am Referendum beteiligen wollen Das wäre eine echte Schlappe für die Regierung. Eine Woche vor der Entscheidung wird noch schnell beschlossen, die Wahl auf das ganze Wochenende auszudehnen. Vergebliche Mühe. Die Wahlbeteiligung liegt am Samstagabend bei unter 20 Prozent.

Blühende Landschaften?

Wir gehen zu einem Konzert in einen Jazzclub im Gebäude des Nationaltheaters, der benannt ist nach einer Molkerei, die es hier einmal in der Nähe gegeben hat: Laptaria. Früher war sie ein bekannter Treffpunkt von Künstlern und Intellektuellen. Die ersten Dada-Veranstaltungen Bukarests fanden hier statt. (Die Bezeichnung Dada kommt übrigens aus dem Rumänischen. "Da" heißt "ja" und geht auf Tristan Tzara zurück) Es ist rappelvoll. Und gute Stimmung. Der Sänger fordert sein Publikum auf, wählen zu gehen - pentru Europa -, der Sarkasmus in seiner Stimme ist unüberhörbar. Wer nichts von der Regierung hält, begeistert sich auch nicht für die Verfassungsänderung. Denn die Regierung heftet sich den möglichen Wahlerfolg an ihre Fahnen.

Einem Außenstehenden erscheint die Revision des Grundgesetzes vernünftig. So wird unter anderem das Wahlsystem verbessert, die Gewaltenteilung verstärkt, die Immunität der Politiker eingeschränkt, die Wehrpflicht aufgehoben, der Freiraum der Minderheitensprachen erweitert.

Für Investoren von Bedeutung: Das Privateigentum wird in der neuen Verfassung nicht mehr nur "geschützt", sondern "garantiert". Und EU-Bürgern ermöglicht sie den Erwerb von Grund und Boden. Billiges Bauernland kaufen und daraus naturnahe Ferienressorts mit Golfplatz machen? Wie Aga Khan auf Sardinien, durch den die Costa Smeralda zu einer der teuersten Ferienregionen Italiens geworden ist.

Man kann sich die Zukunft Rumäniens ausmalen. In hellen Farben: die Wirtschaft wird wettbewerbsfähig, es gibt neue Arbeitsplätze, Lohnniveau und Kaufkraft steigen, die Struktur- und Regionalbeihilfen führen zur Verbesserung der Infrastruktur des Landes, wobei Umweltstandards eingehalten werden. Und in düsteren: stagnierende Produktivität, hohe Arbeitslosigkeit, Billigstlöhne, geringe Kaufkraft, Struktur- und Regionalbeihilfen versickern in der Bürokratie oder werden für zweifelhafte Projekte eingesetzt, ökologische Aspekte spielen keine Rolle. Und wer nichts hat, wird weiterhin nichts haben. So denken nicht wenige.

Des Volkes Stimme

Am Sonntag marschieren Wahlhelfer mit Urnen auf den Markt, man klingelt an Haustüren und macht eine Tombola, die nationale Forstverwaltung verspricht den Gemeinden mit der höchsten Wahlbeteiligung im jeweiligen Verwaltungskreis Extraprämien Brennholz - alles illegale Wahlwerbung, weshalb einige Oppositionsparteien das Wahlergebnis später in Frage stellen. Deren Proteste verlaufen aber im Sande.

55,7 Prozent der Wahlberechtigten haben schließlich gewählt, 89,7 Prozent für die neue Verfassung gestimmt, 8,81 Prozent dagegen, 1,49 Prozent der Stimmen werden für ungültig erklärt. Staatspräsident Iliescu kommt bei der knappen Wahlbeteiligung gleich auf die Idee, dass man doch die Wahlgesetze ändern könne. Nicht mehr 50 Prozent plus eins, sondern Gültigkeit unabhängig von der Wahlbeteiligung. So kann man es auch machen.

Ich fahre im Taxi an dem Regierungssitz vorbei, sagt der Taxifahrer: "Alles Zigeuner!". Ich blicke ihn an, mir erscheint er mit seinen dunklen Teint und den tiefbraunen Knopfaugen selbst als einer (ich weiß: es gibt völlig unterschiedlich aussehende Roma). Den Bruchteil einer Sekunde überlege ich, wer von der Regierung zu dieser ethnischen Minderheit gehört. Bis der Groschen fällt. Die metaphorische Verwendung kannte ich noch nicht. Naiv frage ich zurück: "Was meinen Sie?". "Na, alles Diebe!"

Der Länderbericht der EU formuliert sybillinisch: "Rumänien kann als funktionierende Marktwirtschaft bezeichnet werden, sobald die guten Fortschritte in entscheidendem Maße anhalten." Ein abschließendes Urteil könne erst 2004 gegeben werden.

Gegen Korruption

Korruptionsbekämpfung ist eines der zentralen Themen in der Regierungsarbeit. Täglich kann man darüber in den rumänischen Zeitungen lesen. Nach dem Bericht der Organisation Transparency International, die 133 Staaten danach bewertet hat, wie die Korruption in der Geschäftswelt und von Politikexperten wahrgenommen wird, nimmt Rumänien Platz 83 ein (mit Indien und Malawi). Gar nicht so schlecht, liegt doch noch ein Drittel vor ihm.

Dennoch: Eine rumänische Bekannte klagt, dass sie ohne Schmiergeld keinen Auftrag für ihre PR-Agentur kriegt. Der britische Europa-Minister, Denis McShane, erklärt bei einem Besuch in Bukarest, Rumänien müsse die Korruption stärker bekämpfen, um Investoren anzulocken. Von rumänischer Seite ist bei dem Treffen u.a. die Ministerin für europäische Integration, Hildegard Puwak, dabei. Die selbst beschuldigt wird, dass die Firmen ihrer Familie EU-Fonds erhalten hätten. Sie ist inzwischen von ihrem Amt zurückgetreten (später wird keine Veruntreuung von EU-Geldern festgestellt, nur einige ungerechtfertigte Ausgaben).

Der Vorsitzende des Rates der ausländischen Investoren sieht das Problem nicht in der großen Korruption, die gäbe es überall auf der Welt, sondern in der kleinen. Kein Tag würde vergehen, dass man nicht mir ihr zu tun habe, ob beim Arzt, in der Schule, in der Verwaltung. Dass man mit ein bisschen Geld oder kleinen Geschenken Funktionsträger umschmeichelt, hat eine lange Tradition. Die "Bakschisch"-Praxis hat sich besonders in der Zeit der osmanischen Herrschaft ausgebildet, wovon heute noch die aus dem Türkischen kommenden Bezeichnungen für "Schmiergeld" zeugen. Und so bringen diejenigen, die es sich leisten können, der Schuldirektorin Blumen oder Kaffee mit und dem Arzt wird ein 100-Euro-Schein zugesteckt, damit er die kleine Operation auch sorgfältig ausführt.

Es ist aber auch die Bürokratie, die diesen Phänomen fördert. Mit dem Bakschisch kann man die irrwitzigen bürokratischen Hürden überwinden. Würde man jede Vorschrift regulär befolgen wollen, könnte man Wochen, wenn nicht Monate auf seine Dokumente warten. Auch das erinnert mich schon wieder an Italien vor 15 Jahren. Mit dem einzigen Unterschied: Nicht Geld, sondern Beziehungen zählten dort, um an die gewünschten Papiere zu kommen.


Autos

Ein Kapitalfehler des Kommunismus sei die Vernachlässigung der Autoindustrie gewesen, so heißt es in Richard Wagners "Miss Bukarest". Deshalb seien sie im Osten so verrückt nach Autos. Rumänien hat im Vergleich zum Vorjahr eine vierhehnprozentige Steigerung im Verkauf von Neuwagen und soll damit das Schlusslicht in Osteuropa sein. Schlusslicht hin oder her: Die Straßen sind voll von Autos. Wer hier Geld hat, zeigt es am Auto. Ganz groß in Mode sind bulldozerartige Jeeps, mit denen fast alle Neureichen fahren. Die schwarze BMW-Limousine, das Lieblingsauto der Mafia im Baltikum, ist mir dagegen noch nicht auffällig oft begegnet. Man fährt eher französische Modelle oder Mercedes

Der rumänische Dacia wird, schon aus finanziellen Gründen, am meisten gefahren. Ab und zu erinnert uns ein Trabbi an die Deutsche Demokratische Republik. Das Benzin muss hier anders sein, selbst die Neuwagen mit Kat stinken.

Die Wette, ob man in Bukarest Fahrrad fahren kann oder nicht, hat die Fahrradfraktion gewonnen. Man kann, ohne komplett lebensmüde zu sein. Und wir sehen täglich Fahrradfahrer, mindestens zwei oder drei! Es gibt auch Fahrradkuriere. Einen Kindersitz hinten drauf zu haben, scheint allerdings das absolute Novum zu sein. Wie man auch keine Frauen auf Fahrrädern sieht. Das verbieten schon die Stöckelschuhe, mit denen hier ein Großteil der weiblichen Welt herumläuft. Die Rumänen fahren ähnlich wie die Italiener, chaotisch und (meistens) aufmerksam. Der Fußgänger zählt nichts: Bürgersteige sind vollgeparkt, Zebrastreifen haben keine Bedeutung. Man muss sich sein Terrain erkämpfen.