Post aus den USA

Parallelgesellschaft im Linienbus

Von Ekkehard Knörer
13.04.2006. Güterzüge haben immer Vorfahrt, und selbst die Großstadt-Bahnhöfe erinnern an die Station in "Spiel mir das Lied vom Tod". Mit dem Zug im Osten der USA unterwegs zu sein, ist ein Erlebnis für sich.
"Murder Ink" heißt die Rubrik in Baltimores alternativer Stadtzeitschrift Citypages, die über die Morde der letzten Woche informiert. In der letzten Woche waren es vier, in diesem Jahr insgesamt bereits 64. Fast alle der Opfer sind schwarz und jung, manche davon, wie die 19jährige, schwangere Ashley Harris, sind nur zur falschen Zeit am falschen Ort, andere werden regelrecht hingerichtet in Gang- und Drogenkämpfen. Und meist findet das statt in den Gegenden der Stadt, vor denen man als Besucher nachdrücklich gewarnt wird, in Baltimore ist es vor allem der Osten. In der Regel wird die Kriminalität, hier wie anderswo, hingenommen, alle größeren amerikanischen Städte haben sich längst eingerichtet in einer Form von Apartheid, der gegenüber die viel beredeten deutschen Parallelgesellschaften nicht mehr sind als ein schlechter Witz. Groß ist das Aufsehen nur, wenn die Gewalt einmal dorthin gerät, wo sie nicht so einfach zu verdrängen ist, in die wohlhabenderen Viertel also.

Die hoch angesehene Johns Hopkins Universität in Baltimore zeigte sich denn auch höchst aufgeschreckt, als ein Student in einem der in unmittelbarer Nähe des Campus gelegenen Wohnheim von einem Einbrecher erstochen wurde. Es gibt gar nicht wenige Universitäten, die im Laufe ihrer Geschichte von besten in eher bedenkliche Gegenden der Stadt geraten sind und deshalb alles daran setzen, sich als aus der Welt gefallener Bezirk der noch immer vor allem weißen Elite gegen die Außenwelt abzuschotten, eigener Sicherheitsdienst inklusive. Die Segregation der Lebensbereiche hat gerade in Baltimore zur Folge hat, dass man sich von einem Block zum anderen in ganz unterschiedlichen Städten wähnen kann. Die Gegenden, in die sich kein Weißer wagt, werden genau so erst recht zu Gegenden, in denen kein Weißer zu sehen ist. Am ehesten kennt die weiße Mittelschicht von Baltimore die schwarzen Neighborhoods wahrscheinlich aus dem Fernsehen, aus zwei der besten Polizeiserien der USA, die hier spielen, Homicide: Life on the Street (1993 bis 1999) und The Wire (seit 2002).

Der Kontrast könnte kaum größer sein als der zwischen Baltimore und Austin, der texanischen Hauptstadt, von der ich vor drei Wochen aufgebrochen bin zu einer sehr umwegigen Reise an die Ostküste. Die Umwege verdanken sich der für amerikanische Verhältnisse sehr verschrobenen Idee, kein Auto zu mieten, sondern, wo immer es geht, die Bahn zu benutzen und nur ausnahmsweise das Flugzeug. Kaum einer der amerikanischen Freunde, mit denen ich sprach, ist je mit Amtrak gefahren, fast alle aber warnten mich, die Bahn sei unzuverlässig, langsam und teuer. Teuer, das zeigte sich rasch, ist sie nur da, wo sie viel benutzt wird und halbwegs auf dem technischen Stand der Zeit ist, nämlich an der Ostküste. Im Innern des Landes ist sie dagegen allemal billiger als das Flugzeug, schon weil sie mit den traditionell sehr günstigen Greyhound-Bussen um eine ohnehin wenig zahlungskräftige, eben autolose Klientel konkurriert. Langsam sind die Züge in der Tat, aber für die langen Strecken durchaus komfortabel, in der Sightseer-Lounge kann man Filme sehen, von Austin nach Dallas zum Beispiel gleich zwei Western mit Eastwood. Auch die Unpünktlichkeit hielt sich in Grenzen, zwei Mal war ich gar zu früh am Bestimmungsort - dass die ohnehin viel zahlreicheren Güterzüge durchweg Vorfahrt haben, kann allerdings für gelegentliche Wartezeiten sorgen.

Das eigentliche Problem mit Amtrak sind das rudimentäre Netz und der Fahrplan. Selbst in größeren Städten kommt nur zwei, drei Mal am Tag ein Zug durch. Der Bahnhof in Austin, einer Stadt mit 670.000 Einwohnern, erinnert frappierend an den in "Spiel mir das Lied vom Tod". Mit einem versprengten Häufchen zur Bahnfahrt Entschlossener sitzt man im downtownnahen Nirgendwo und hat Glück, wenn der eine Schalter, den es gibt, nicht gerade geschlossen hat. Anderswo, in Kansas City oder Chicago findet man in grandiosen Bauten aus besseren Zeiten in der hintersten Ecke einen winzigen Amtrak-Schalter mit Wartesaal: der Rest ist polierte Leere oder mehr oder minder erfolgreiche Umnutzung.

In Austin ist das Desinteresse an der Bahn recht erstaunlich, denn die Stadt erfüllt ansonsten eher wenige der Klischees, die man mit Amerika oder gar Texas verbindet. Austin ist seit Beginn der Neunziger eine prosperierende, eine rasant wachsende Stadt mit einem beträchtlichen Bevölkerungsanteil postmaterialistischer Linker. Die inzwischen zum Giganten gewachsene Edel-Öko-Supermarktkette Wholefoods wurde hier gegründet, der monströse Flagship Store ist ein Delikatessen-Schlaraffenland für die offenbar gar nicht wenigen Bewohner, die sich die enormen Preise leisten können. Und vor gut zwanzig Jahren hat ein Student der University of Texas begonnen, selbst zusammengebaute Computer aus seinem Apartment heraus zu verkaufen. Sein Name war Michael Dell, der Erfolg seiner heute in Round Rock, im Einzugsbereich der Stadt, ansässigen Firma hat Austin zu einem der Zentren computeraffiner Betriebe gemacht. (Natürlich lässt Dell inzwischen einen großen Teil der Geräte auch in China herstellen.)

Studenten dominieren das Stadtbild von Austin in vielen Gegenden, die sehr große Universität (eine der größten der USA) ist eine der Ursachen für die vielen Straßencafes und Restaurants aller Art, für die höchst lebendige Film- und Musikszene. Das alljährlich während der Frühjahrsferien stattfindende SXSW-Festival ist im zwanzigsten Jahr seines Bestehens mit weit mehr als tausend Bands, die in den unzähligen Clubs der Stadt auftreten, inzwischen das größte Musikfestival der Welt. Die Industrie präsentiert vielversprechende neue Acts oder hält nach ihnen Ausschau, aber gehypte Jungstars wie die Arctic Monkeys oder Clap Your Hands Say Yeah treten hier bei fast durchweg ausverkauften Konzerten ebenso auf wie Altmeister wie Ray Davies oder Morissey.

Natürlich gibt es auch in Austin Armut, Segregation und soziale Probleme. In ganz Texas verfallen derzeit die Schulen, und zwar weil es, das gehört zum oft bizarren Freiheitsverständnis in den USA, keine Einkommenssteuer gibt. Alle anderen Steuermittel scheinen erschöpft, aber vor den Wahlen im Herbst wird es kaum zu einer Lösung kommen und keiner kann genau sagen, wie sie überhaupt aussehen könnte. In Minneapolis, einer vergleichbar sauberen, liberalen und prosperierenden Stadt, hat sich eine republikanische Politikerin gegen den Bau einer Straßenbahn gesträubt, die Idee des Fahrplans und der vorgeschriebenen Strecke widerspreche grundsätzlich dem Freiheitsgeist der Amerikaner. Die Mehrheit der Stadtverordneten wollte diesem Argument dann allerdings doch lieber nicht folgen. Die Straßenbahn fährt und ist ein voller Erfolg. (In Austin dagegen wurde der Vorschlag zum Straßenbahnbau abgeschmettert.)

Das größte Problem des Stadt-Reisenden ohne Auto ist der Transport in der Stadt selbst. Gelegentlich gibt es tatsächlich eine Straßen- oder S-Bahn, etwa in Dallas oder St. Louis und neuerdings eben auch in Minneapolis. Meist ist das aber nur eine Linie von West nach Ost oder Nord nach Süd; längst steuert sie nicht alle Ziele an, die den Touristen und erst recht den am möglichst umfassenden Eindruck von einer Stadt Interessieren. Bleibt der Bus. Anders als man vielleicht denken würde, ist der öffentliche Bus-Nahverkehr in allen Städten, die ich besucht habe, völlig ausreichend, wenn nicht hervorragend. (Von den Sonntagen mal abgesehen.) Ich weiß nur nicht so genau, wie ich ohne Internet je herausgefunden hätte, welcher Bus auf welcher Strecke wohin fährt. Vollständige Pläne findet man in Papierform kaum, an den Haltestellen gibt es keinerlei Information. Auch für die Webseiten hätte ich manchen Verbesserungsvorschlag, aber außer in St. Louis (dringlicher Rat: Stellt einen Systemplan ins Netz!) konnte ich mir Fahrpläne für den Tag zusammenstellen, denen zu folgen sich dann tatsächlich als machbar erwies.

Fast kein Weißer freilich fährt in Dallas oder Kansas City, in St. Louis oder Minneapolis mit dem Bus. Oft sind die Preise konkurrenzlos günstig (eine Monatskarte in Austin kostet 10 Dollar) und wenn man die Klientel sieht, versteht man warum. Die Busse fahren überall hin und halten überall an, aber fast nur die Schwarzen und Hispanics steigen ein oder aus. Im Innern der Busse liegt eine andere Welt, und zwar genau jene, in die die weiße Mittelschicht der Städte nie gerät. Mit dem Bus fuhr ich in Dallas zur Highland Park Plaza, einem Einkaufscaree im Freien, angelegt wie ein Dorfplatz in Hufeisenform, mit Markenläden von Chanel bis Armani. Auf dem Parkplatz stehen Jaguars, BMWs natürlich und Mercedes, gelegentlich auch einer der furchteinflößenden Hummer, die wenig zivile Zivilversion des Golfkriegsarmeefahrzeugs. Mittelalte Damen in schicken Kostümen mit Handys am Ohr. Mit offenem Mund gehe ich über die Plaza und dann zur Bushaltestelle direkt davor. Mit mir warten nur hispanische Angestellte, ein Einwanderer aus Panama, mit dem ich mich ein wenig über die Fußball-WM unterhalte. Als ich sage, dass die Chancen des deutschen Teams nicht groß sind, tröstet er mich: "You never know." Dann kommt der Bus, ich steige ein und bin in einer Welt, die vom Chanel-Laden auf der Plaza nur einen Schritt entfernt ist, aber doch weiter als die Erde vom Mond.