Essay

Rettende Öffentlichkeit

Von Alexander Kluge
25.06.2015. Ein Zuviel an Silicium nennt man Wüste. In der Wüste gibt es Stützpunkte des Lebens. Das sind die Oasen. Oft sind sie räumlich klein, im Verhältnis zum Gesamtgelände. Zu Wolfram Schüttes Projekt einer Netzzeitung für Kritik.
An Wolfram Schütte und die Perlentaucher-Debatte
 
Ich habe zusammen mit Oskar Negt, aber auch mit Gefährten wie Florian Hopf, Peter Buchka und nicht zuletzt mit Ihnen, Wolfram Schütte, mein Leben lang für AUTHENTISCHE ÖFFENTLICHKEIT gekämpft. Nicht nur für die literarische und das Kino, sondern für Öffentlichkeit überhaupt: LIFE OF PUBLIC MAN ("maskulin/feminin"). "Öffentlichkeit und Erfahrung".
 
Ich bin entsetzt über den offenkundigen Verfall von Öffentlichkeit. Zum Schluss ist alles nur noch Werbung und verwaltetes Medium. Ich höre aus dem Elysium den Fluch der Kritischen Theorie, die in meinen Ohren nicht tot ist, sondern kräftig posaunt!
 
Meine Erfahrung mit dem Internet ist, dass es überraschende Volten schlägt. Wenn es derzeit in seinem Mainstream auf stumpfsinnige Weise die Realität durch Ungeduld, Kurzfassung, Anpassung und organisierte Gleichgültigkeit übertrifft, ist es umgekehrt auch gut für Wunder der Aufmerksamkeit. In den Chips steckt bekanntlich Silicium. Ein Zuviel an Silicium nennt man Wüste. In der Wüste gibt es Stützpunkte des Lebens. Das sind die Oasen. Oft sind sie räumlich klein, im Verhältnis zum Gesamtgelände.
 
Wenn es möglich ist auf dem Korallenriff PERLENTAUCHER eine Bühne, ein Forum, eine Arena, ein Stück klassische Öffentlichkeit zu entwickeln, dann handelt es sich um eine solche Oase.
 
Mein Herz rührt ein Werk des sans-culottischen Architekten Jean-Jacques Lequeu (kurz vor 1800): Entwurf eines Leuchtturms für Wanderer in der Wüste. Es gibt von dem Entwurf nur ein Exemplar. Es blieb in Paris und rettete deshalb keinen einzigen Wanderer in der Wüste. Und doch bedeutet es für mich ein Glaubenszeichen, dass es RETTENDE ÖFFENTLICHKEIT gibt (die Musik in FIDELIO beweist es). Solchem Spurenelement sind Sie, Wolfram Schütte, und ich Patriot.
 
Kein Zögern! Es genügt, dass wir versuchen den Verhältnissen die eine oder andere Unwahrscheinlichkeit abzuringen. Schließlich bestehen wir Menschen selbst aus lauter Unwahrscheinlichkeit und aus Spurenelementen. Und der Glaube der "sogenannten bestehenden Verhältnisse an sich selbst" ist voraussichtlich ein Irrglaube.
 
Ich wünsche Ihnen, lieber Wolfram Schütte, und dem Projekt Glück. An meiner Mitarbeit wird es nicht fehlen.
 
Alexander Kluge


***

Alle Artikel zur Debatte hier

Stichwörter