Essay

Drifting Away

Von Daniele Dell'Agli
23.12.2014. Die Bewegungsform dieser Gesten, in denen sich weder Aktion noch Passion, weder Tun noch Erleiden, weder Einverständnis noch Widerstand, sondern gelassene In-Differenz gegenüber diesen ichzentrierten Zuständen offenbart, kann man am ehesten als Driften bezeichnen. Zur Nirwanologie der Ambient Music - Aufruhr im Zwischenreich, letzter Teil.

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1. Nachspiel

Oder gewöhnen uns die Nacht und der Schlaf an das Sterben, an das Ertragen des Wissens um das Sterben?
M
ax Bense, "Über den Raum" (1934)


Am Ende also Passivität. Angewiesensein. Demut. Loslassen. Wenn das mehr als erzwungene Zuständlichkeit sein soll, nämlich Haltung, gar Form oder Stil, braucht es mehr als Schmerzmittel, mindestens gute, beste Freunde. Oft sind auch sie überfordert oder nicht (mehr) da. Gibt es eine Kunst, die das Abschiednehmen einübt, ins Geschehenlassen einstimmt, dem fortschreitenden Weltentzug Ausdruck und/oder Medium zugleich sein kann? Wo Filme und Literatur mit dem Primat gegenständlicher Bedeutungen einen Aufmerksamkeitspegel aufrecht erhalten, der die gebotenen Immersionseffekte verhindert oder teilweise neutralisiert, da kommt die Musik ins Spiel. Musik verspricht schon deshalb einen privilegierten Zugang zu Erfahrungen der Vergänglichkeit, weil sie selbst in der Zeit verläuft, Zeitlichkeit artikuliert und im Modus des Erklingens und Verklingens als solche sinnlich wahrnehmbar macht. Evident wird dieser melancholische Grundzug potenziell jeder Musik1 allerdings erst unter der neuzeitlich-aufgeklärten Voraussetzung, dass Vergänglichkeit angesichts schwindender Hoffnungen auf eine vita aeterna einen nihilistischen Schatten auf das Leben vor dem Tode zu werfen beginnt.

Darüber hinaus hatte die Entrümpelung des Jenseits einschließlich seiner höllischen Horrorszenarien der Fantasie eine unlösbare Aufgabe hinterlassen: sich das Nichts vorzustellen. Wenn es vom Danach nichts mehr auszumalen oder zu erzählen gibt, bleibt dem metaphysisch verwaisten Subjekt nur das Singen und Spielen, um sich das dereinst zu erwartende Ende hörend zu vergegenwärtigen. Vierhundert Jahre ist es her, dass die Melancholie reflexiv wurde und in den Affektmodulationen des "Lacrimae"-Zyklus John Dowlands oder der "Lamenti" Claudio Monteverdis erste und bis heute gültige musikalische Gestalt gewann. Profane Tombeaus, Threnodien und Trauermärsche ergänzen seitdem das liturgische Repertoire der Requiems, um posthum Verluste zu beklagen und sich mit der eigenen Anwartschaft auf das nämliche Schicksal vertraut zu machen. Die Ambivalenz, dass solche musikalische Konfrontationstherapie ebensogut zu trösten als auch die latente Untröstlichkeit zu verschärfen vermag, war den Melancholie-Diskursen von Anbeginn bewusst2 und dürfte sich heute weniger denn je als Sterbeerleichterung empfehlen.

Zu den grundlegenden Erkenntnissen der Psychoakustik gehört der Nachweis, dass das Gehör als erster Sinn im Mutterleib erwacht und als letzter sich auf dem Sterbebett schließt.3 Warum sollte, dieser Symmetrie folgend, der letzte Gruß nicht dem ersten gleichen? Der Mensch kommt mit einem Schrei zur Welt: Ausdruck der Panik, des Entsetzens über das Herausgeschleudertsein aus dem einen - flüssigen - in das andere - ätherische Element. Dieses Trauma zu mildern und den Neuankömmling in der ungewohnten Sonosphäre sanft aufzufangen, wird der Säugling geschaukelt und mit Singsang beruhigt. Auf den Schrei antwortet das Wiegenlied. Die schönsten Wiegenlieder sind immer auch traurig, nicht nur, weil das Kind über den Verlust des intrauterinen Versorgungsparadieses getröstet sein will; und nicht nur, weil der Rhythmus im Ewigkeitstakt einer kosmischen Ordnung hin und her pendelt und die Stimme, um die einschläfernde Wirkung zu verstärken, vorzugsweise Moll-Melodien in tiefem Alt und zartem mezzopiano intoniert; sondern weil es darum geht, in eine Bewusstlosigkeit oder eine Abwesenheit - den Schlaf - zu geleiten, die jedes Mal die letzte des Todes vorwegnimmt. Darum sind Wiegenlieder immer auch Elegien aufs Nimmerwiedersehen und nicht selten umfunktionierte Barkarolen (ursprünglich Arbeitslieder der Gondolieri), deren Klangbild - das Schaukeln des Bootes auf den Wellen - die Überquerung des Styx evoziert.

Dieser archaische Zusammenhang von Wiegenlied und Abschiedslied4 findet sich erst im Zeichen spätbürgerlicher Melancholie fast zeitgleich, wenn auch nahezu gegensätzlich auskomponiert in vorletzten Klavierwerken Liszts ("Wiegenlied", 1881 und "La Lugubre Gondola 1 + 2", 1882-1885) und Brahms ("Intermezzo" 117,1,1892), denen noch viele schwermütige Berceusen folgen sollten, darunter eine eigens dem Tod der Mutter gewidmete von Ferruccio Busoni. Manchen dieser Werke gelingt es, die Trennung zwischen Lebenden und Toten für die Dauer ihres Erklingens aufzuheben, indem sie die Geste des Mitgehens und Begleitens in die ewige Nacht gestalten, so zuletzt The Philosopher"s Hand, Terry Rileys improvisierter Abschiedsgruß an seinen indischen Lehrer Pandith Pran Nah: eine meditativ versponnene Habanera für Klavier, die zögernd ablegt vom Ufer der Stille, um sich langsam in die Weiten eines transidiomatischen Ozeans hinaus zu schaukeln.

Liszt, "La lugubre gondola", Nummer 1


Oder " Mieke"s Melody # 5", das Schlussstück aus Meredith Monks vorletztem Album "Impermanence" (2008), ein heterophoner Nachruf auf ihre Lebensgefährtin Mieke van Hoek: im ersten Teil als ritueller Silbengesang choreographiert, bei dem jede Stimme abwechselnd chorisch und solistisch mit minimalen Variationen der fünftönigen Melodie die Verstorbene (die sie bei Lebzeiten oft vor sich hin gesummt haben soll) ein Stück des Weges bei der Hand nimmt, um sie am Ende allein und ohne Illusionen gehen, eingehen zu lassen in eine andere Ordnung - dem Reich sanft metallener, freitonaler Klavier- und Vibraphonakkorde des zweiten Teils, die durch ihre schiere, beharrliche Wiederholung die Szenerie sehr bald in eine andere Stimmung tauchen: die der ratlosen Benommenheit von Überlebenden, die irgendwie weiter machen müssen.

Meredith Monk, "disequilibrium" und "Mieke"s Melody #5":



Dass das Konzept von "Impermanence" - eine Revue musikalischer Gesten, Modi, Figuren, Rhythmen und Zeitformen zum Thema Vergänglichkeit zusammenzustellen - durch die Arbeit mit Todkranken an einem Londoner Hospiz gleichsam therapeutisch authentifiziert wurde, muss man als Hörer nicht wissen;5 es ist gleichwohl bezeichnend für eine noch nie dagewesene Freiheit (nicht zuletzt von Berührungsängsten) im Umgang mit diesen existenziell heikelsten und psychisch belastendsten Situationen. Mit ihrem unentwirrbaren Geflecht aus archaisch rituellen und mithin entsubjektivierten Momenten und solchen einer hochindividualisierten - ebenso expressiven wie experimentellen - Improvisationskunst markieren die Gesangs- und Ensembleperformances Meredith Monks die Überwindung der melancholischen meditatio mortis in der Musik, deren Subjektmodell selbst wenige Jahrzehnte zuvor mit einer Radikalität und Ambivalenz sondergleichen von Arvo Pärts "Tabula Rasa" zu Grabe getragen worden war.

Der amerikanische Musikkritiker Alex Ross berichtet von Aids- und Krebspatienten, die während ihrer letzten Tage in einem New Yorker Hospiz nur noch "Silentium", den zweiten Satz aus Arvo Pärts Meisterwerk hören wollten.6 Dass Sterbende Trost in dieser "Engelsmusik" finden, erstaunt zunächst, denn das ganze senza moto (sic!) zu spielende Stück für zwei Violinen, Streichorchester und präpariertes Klavier ist von einer gnadenlos spröden Geradlinigkeit durchwirkt, die keinen Zweifel daran lässt, dass am Schluss das zugleich ausgemergelte und an die Grenze seiner Ausdrucksfähigkeit getriebene Leben, das es Revue passieren lässt, irreversibel zuende ist. Die statische(n) Melodiestimme(n) werden vom Alter Ego der halb so langsamen Tintinnabuli-Stimmen im Pendel(oder Wiege)-Rhythmus sekundiert, wobei sie je nach Zusammenklang den Resonanzraum des leidenden Subjekts erweitern oder einengen. Die große Nähe des aus der d-moll-Skala und ihrem Dreiklang gewonnenen Materials verstärkt den Eindruck, dass die prozessionsartig schreitenden Begleitstimmen die quälend einsame Melodie mit einem fatalistischen "ja, so ist es, und nun nicht mehr zu ändern" in ihrer Verzweiflung bestätigen. Doch die Insistenz dieser Bewegung erschöpft schließlich die Ausdrucks- und damit die Leidensenergien. "War das alles?" Die beklemmendste aller Fragen wird zwar nicht entschärft, aber am Ende des descensus ad inferos ist auch kein Subjekt mehr übrig, das die Antwort beunruhigen könnte.

Arvo Pärt: "Silentium":


Als komplementäres und zugleich kontrastierendes Strukturelement hat Pärt identisch wiederkehrende Arpeggi des präparierten Klaviers eingebaut, wiederum im Jenseitsmodus d-moll, aber durch die Verfremdung eher an einen kosmischen Wellenschlag erinnernd, der periodisch das Weben - ein Geschehen kann man es kaum nennen - der Streicher für die Dauer eines Taktes unterbricht, um die irdischen Dramen aufzulösen und an eine transpersonale, schicksalsindifferente Instanz zu verweisen. Ein denkwürdiges Crossover aus heidnischem und mystischem Einverständnis mit dem Weltganzen resultiert aus diesem Zusammentreffen, bei dem die Untröstlichkeit individuellen Verlöschens mit der jede Trostbedürftigkeit transzendierenden Indifferenz zeitloser Naturmacht neutralisiert wird. Die beschworenen Gestalten ziehen geisterhaft vorüber, verlieren sich mit den Violinen in der Höhe, versinken am Ende mit den Celli und dem Kontrabass ins Erdreich. Vier Takte Stille sind als Coda mitkomponiert. Weiter kann man die Katabasis elegischen Abgesangs nicht treiben.

2. Fermate

Ich war froh, als meine Lunge kollabierte.
Brian Eno

So unterschiedlich Pärts und Monks Ansätze phänomenal und konzeptuell anmuten, gemeinsam ist beiden die Evokation - von der rezeptiven Sensibilität der Hörer aus vernommen - maximalinvasiver Klangfiguren von Tod und Vergänglichkeit, Sterben und Abschiednehmen. Gleichviel ob sie eine lange Tradition abwickeln (Pärt) oder in musikdramaturgisches Neuland (Monk) vorstoßen: beide inszenieren Modelle einer affektiv hochbesetzten Thanatomimetik, von der, wie ich schon andeutete, nicht ausgemacht ist, ob sie Sterbenden den letzten Weg erleichtert oder nicht zusätzlich dramatisiert. Damit befinden sie sich durchaus im Einklang mit den großen Trauermusiken der Vergangenheit. Ist es wirklich hilfreich, wenn die Untröstlichkeit über das Vergehenmüssen selbst nicht mehr zu vergehen scheint wie im Kopfsatz von Schuberts B-Dur-Sonate? Ist umgekehrt Untröstlichkeit überhaupt vermeidbar, wenn man die Fülle und die Schönheit des Daseins vergegenwärtigt? Wem würde der Abschied von dieser Welt nach, sagen wir, dem Trio von Ravel leichter fallen? Und wie lebenssatt und/oder leidensmüde muss jemand sein, um sich etwa der Passacaglia des Präludiums gis-moll von Schostakowitsch anzuvertrauen, die - einem entschlossenen Psychopompos gleich - mit ostinaten Bassgängen und dissonant kontrapunktierenden Oberstimmen durch eine äolisch getönte Unterwelt stapft, um nach 48 Takten eine cis-Dur-Luke im Sopran zu öffnen und das sanfte Perlen einer Erlösungsmelodie aufscheinen zu lassen, die in Wahrheit aber nur die Spiegelung des volkstümlichen Gesangsmotivs im Bass ist und darum mit dem Unabänderlichen nur versöhnt - es ist vorbei, keine Angst, non dolet -, um wieder, und diesmal endgültig in die Finsternis hinabzusteigen?7 Kurz: Je sprachähnlicher, semantisch suggestiver die Musik, desto mehr Assoziationen und Erinnerungen ruft sie wach und kraft ihrer utopischen Intensität leider auch die ans Nichterlebte, Niegesehene, Niegefühlte. Wer möchte sich damit auf dem letzten Weg machen?

Schostakowitsch, Präludium und Fuge gis-moll.


2002 komponiert David Lang seine Abschiedsmeditation "Depart" 8 für die Leichenhalle eines französischen Krankenhauses. Gedacht, um die Hinterbliebenen der dort Aufgebahrten nicht allein mit ihrem Schmerz zu lassen, knüpft die minimalistische "Terminal"-Installation in gewisser Weise an jene berühmtere "Music For Airports" (1978) an, mit welcher Brian Eno den Reisenden die Flugangst oder zumindest die Anspannung nehmen und sie noch am Erdboden auf das Schweben in den Lüften einzustimmen versuchte - bekanntlich der offizielle Auftakt der Ambient Music. Es dürfte kein Zufall sein, dass Enos Hinwendung zu einem experimentell elektronischen Popminimalismus, der bereits 1973 in Zusammenarbeit mit Robert Fripp begonnen hatte, sich zwei Krankenhausaufenthalten verdankt, in deren Verlauf er zuerst (nach einem Lungenkollaps) von der Karriere des gehetzt herumreisenden und öffentlich auftretenden Bandmitglieds von Roxy Music abkommt und später (nach einem Verkehrsunfall 1975), zur Unbeweglichkeit am Krankenbett verurteilt, die Möglichkeiten einer minimalinvasiven Atmosphären-Musik entdeckt, die Teil des Raums wird und den Hörer umgibt, ohne sich ihm aufzudrängen und doch der Umgebung eine charakteristische Tönung verleiht.

"Music for Airports", das war der gewagte Entwurf einer Kontrastatmosphäre: Aufruf zur Entschleunigung mitten in der Hektik; Einladung, Angst und Nervösität abzuschütteln, sich leicht und frei zu machen, das emotionale Gepäck abzugeben und die Vorbereitungen, das Einchecken und Gatecrossing als einen Film zu erleben, der ohne eigene Beteiligung abläuft; Angebot zur Selbstdistanzierung, Virtualisierung der eigenen Existenz in einem Schwebezustand zwischen Realität und Fiktion und damit den Flug vorwegnehmend. Das therapeutische Selbstverständnis einer stressreduzierenden und anxiolytischen musikalischen Aufheiterung prekärer environments ging seitdem in die Konzeption vieler audiovisueller Installationen Enos ein, wenn auch selten explizit wie die 2013 eigens für das neu errichtete Montefiore-Hospital in Hove (East Essex) realisierten.9 Daran zu erinnern, ist nicht trivial, wenn man bedenkt, dass die Liner Notes zu "Discreet Music" (1975), "Music for Airports" (1978) und "On Land" (1981) sich rückblickend wie Gründungsurkunden jener neuen Ästhetik lesen, die zwanzig Jahre später anhand der Leitbegriffe Atmosphäre und Immersion einen epochalen, wenn auch bis heute noch nicht durchsetzungsmächtigen Paradigmenwechsel in der traditionell an Kriterien von Produktion oder Rezeption von Kunstwerken orientierten Disziplin einleiten sollte.10 Am Anfang des atmospheric turn standen also Musik und Therapie. Lange vor dem Siegeszug von Simulatoren und Datenbrillen war in der Ambient Music ein Verständnis von Immersion latent, der auch etymologisch unmittelbar einleuchtet: Ambiente kommt von "ambire", herumgehen, aber auch umgeben. Herumgehende oder umgebende Klänge erzeugen - in Umkehrung eines Diktums Schopenhauers - eine flüssige Architektur, in die man eintauchen (immergere) kann, wobei sowohl der Raum - als surrounding soundscape oder Klangfeld - als auch die Zeit - als Zyklus, Loop oder Wiederholungsmuster - sich zur Sphäre als einer jenachdem realen, fiktiven oder virtuellen Erlebniswelt totalisiert. Im Idealfall fühlt das hörende Subjekt sich in diesem Resonanzraum aufgehoben wie in einer Schutzhülle oder eben einem Palliativ (pallium = der Mantel); und wer sich berufen fühlt, dieses Einhüllen als Einlullen zu belächeln, setzt nur die unverächtliche Etymologie der lullabie ins Recht: in den Palliativklängen der Ambient Music kehrt das eutonisierend-einschläfernde Versprechen des Wiegenlieds wieder.

Die Verwandlung eines Raums in eine Atmosphäre, einen gestimmten Raum, das Wort sagt es schon, wird stets psychoakustisch vermittelt. Klänge, Geräusche, Musik mögen dabei unauffällig, im Hintergrund oder auf subliminale Perzeptionsweisen beschränkt bleiben: ihnen obliegt in jedem Fall das tuning, die Stimmung aller anderen manifesten Elemente. Dass weder die Ästhetik der Atmosphäre noch die Medienwissenschaft der Immersionstechniken die Pionierleistungen der Ambientmusik bislang zur Kenntnis genommen haben, liegt schlicht an der empirischen wie kategorialen Unterschätzung der tragenden Rolle der Psychoakustik bei der Generierung holistischer Effekte. Zwar suggeriert die Metapher vom "Eintauchen" einen Elementwechsel, von dem fraglich ist, ob er je total gelingt, weil der Mensch das offene Wesen bleibt, das allenfalls durch Überwältigung im Schmerz, Manipulation in der Hypnose, subliminal im Traum oder ekstatisch im Heroinrausch die abschlusshafte Versenkung in eine Parallelwelt vorübergehend erfahren kann. Doch ganz gleich, ob - wie beim Film - eine Gleichzeitigkeit von auditiver, visueller, räumlicher, emotionaler oder narrativer Tauchgänge die Gesamtwirkung erzeugt: synchronisiert, gesteuert und homogenisiert werden sie durch das Gehör. Daher kann das geringste Rascheln der Popcorntüte im unpassenden Moment die Atmosphäre einer Filmszene zerstören: dann bin ich "raus" (und keineswegs woanders, etwa im Kinosaal, "drin", sondern nur noch mit meinem Ärger über die Störung beschäftigt). Man kann sinvoll von multimodalen, multisensoriellen oder multifokalen Immersionen reden - das vielgebrauchte "multiimmersiv" ist ein Widerspruch in sich.

Medienwissenschaftler verkennen auch deshalb das auditive Primat, weil sie Immersionen als Erleben gesteigerter Präsenz thematisieren, obwohl die Atmosphären-Ästhetik für solche Phänomene überzeugend Bestimmungen entwickelt hat, die - unmittelbar auch für jeden als "Selbstvergessenheit" nachvollziehbar - auf eine weitgehende Dezentrierung des Subjekts hinweisen und es zumindest fraglich erscheinen lassen, was oder wer denn überhaupt in Immersionserfahrungen "präsent" ist. Hermann Schmitz beschreibt intensive Atmosphären-Erfahrungen als solche der Entsubjektivierung, des "Ergriffenseins von", des "Aufgehens in" gemäß der Tradition der unio mystica.11 Gernot Böhme wiederum betont den Zwischenstatus von Atmosphären jenseits der Dichotomie von Subjekt und Objekt und schlägt ein Modell wechselseitiger Durchdringung von "randlos ergossenen Gefühlen" des Subjekts und ekstatischer Anwesenheit von Ding-Eigenschaften im Raum vor.12 An der Musik erkennt er die Erzeugung spezifischer Atmosphären als ihr wesentliches Merkmal, ohne allerdings das psychoakustische Moment bei der Genese sphärischer oder immersiver Erlebnisse generell geltend zu machen.

Diesen letzten fundamentalaudiologischen Schritt geht Peter Sloterdijk, indem er daran erinnert, dass das Gehör "kein Gegenüber [kennt], es entwickelt keine frontale "Sicht" auf fernstehende Objekte, denn es hat "Welt" oder "Gegenstände" nur in dem Maß, wie es inmitten des akustischen Geschehens ist - man könnte auch sagen: sofern es im auditiven Raum schwebt oder taucht. Eine Philosophie des Hörens wäre daher von Anfang an nur als Theorie des In-Seins möglich - als Auslegung jener "Innigkeit", die in der menschlichen Wachheit weltempfindlich wird."13 Zugespitzt formuliert: erst das Gehör "öffnet" das Gesehene zu einem Raum, in den sich die Gefühle "ergießen" können, verwandelt das objekthaft gegenständliche Außen in jene auratisch zwischen Subjekt und Objekt flirrende Zone, die man Atmosphäre oder mit Rilke "Weltinnenraum" oder, um bei der Akustik zu bleiben, Resonanzraum nennen kann. Denn erst indem das Gehör dem Gesehenen Resonanz verschafft, wird dieses "verinnerlicht", also zugleich entdinglicht und jenachdem pathisch oder empathisch konnotiert, überhaupt hinsichtlich seiner emotionalen Qualitäten bewertet.

Brian Eno - Ambient 1: Music For Airports (6 Hour Time-stretched Version)





3. Losigkeit

Der Tod ist unerträglich, wenn du über das Ich nicht hinwegkommst.
Susan Sontag

Mit der paradoxen Figur eines psychoakustisch eingetauchten, in atmosphärischen Resonanzräumen seines Erlebens gewärtigen, aber keineswegs "präsenten" Subjekts - am ehesten dem luziden Träumer vergleichbar - kehren wir zu der Ausgangsfrage nach den Chancen eines musikalisch gelösten, angstfreien Exitus von der Welt zurück. Dass Musik aufgrund des passiven Empfangens ihrer Reize und der Verführungsmacht ihrer Stimmungsvorgaben sich grundsätzlich besser als jede andere Kunst eignet, den Individuen den Abschied von sich selbst zu erleichtern, muss nach dem bislang Ausgeführten relativiert werden. Auch wenn der Begriff der Passivität den Erfahrungsmodus am Lebensende treffender beschreibt als die Handlungszuversicht von Autonomieansprüchen, so haftet er etymologisch noch zu sehr an Passion und Patient und damit an Leiden(schaft), Erdulden und ihren subjektzentrierten Aktivitätsmustern. Wie man diesen entkommen kann, um bei seinem eigenen Tode nicht anwesend sein zu müssen, ist ein Problem, das bislang allenfalls mit Dormicum oder hochdosiertem Morphium gelöst werden konnte.

Was aber könnte die Alternative zum Präsenzerleben sein? Kann man Absenz erleben, ohne bei diesem Erlebnis präsent zu sein? Wie kann man ein Bewusstsein von etwas induzieren, ohne dessen Inhalte reflexiv auf ein erlebendes Subjekt zu beziehen, wenn selbst in dezidiert passivischen Wendungen wie "sich vergessen" oder "sich verlieren" die Aktivität eines Subjekts virulent bleibt? Unter dem Titel Abwesen hat Byung-Chul Han ebenso hellsichtige wie anschauliche Erläuterungen des Unterschieds zwischen westlichem und fernöstlichem Denken veröffentlicht, in denen er solchen Fragen nachgeht.14 Anhand der Unmöglichkeit, Wendungen, die im Koreanischen, Chinesischen oder Japanischen ein subjektloses Geschehen umschreiben, adäquat zu übersetzen, exemplifiziert er seine These dass man im Deutschen "dem Subjekt nicht entkommen kann". Unsere Sprache lässt Gedanken, die einfach "ohne mein Zutun" da sind ebenso wenig zu wie aperspektivische Wahrnehmungen oder ungerichtete Handlungen. In einer "fernöstlichen Kultur der In-Differenz von Aktiv und Passiv" hingegen macht "sich der Sprecher in gewisser Weise ganz abwesend." (op.cit. S. 120-125)

Ob Menschen aus diesem Kulturkreis das Sterben "leichter", erträglicher fällt als Angehörigen der indoeuropäischen Sprachfamilie, ist eine Frage, der eine interdisziplinäre, sprachwissenschaftlich geschulte Ethnothanatologie hoffentlich bald nachgehen wird. Von Byung-Chul Han lernen wir weiter, dass dieser transsubjektiven Poietik der Indifferenz eine Ästhetik der Leere, des Abwesens, des Zwischen und des Offenen entspricht: "Wesen ist Unterschied. So blockiert es fließende Übergänge. Abwesen ist In-Differenz. Es wirkt verflüssigend und entgrenzend... Fließende Übergänge erzeugen Orte der Abwesenheit und Leere. Das Wesen ist schließend und abschließend. Das Abwesen dagegen macht den Raum durchlässiger... Der Raum der Leere, der entinnerlichte Raum besteht aus Übergängen und Zwischenräumen..." (op.cit. S. 39, 46-53) Diese Elemente einer buddhistisch inspirierten Ästhetik, in denen wir unschwer die oben erörterten Bestimmungen einer immersiven oder atmosphärischen Raumklangkunst wiedererkennen, erlauben eine genauere Einschätzung des psychomusikalischen Potenzials von Ambient Music, die üblicherweise mit hochkulturellem Naserümpfen als eskapistisch, regressiv oder innerlichkeitsselig abgekanzelt wird.

Wer im Laufe der siebziger Jahre, frustriert vom unverdrossenen Autismus des Free Jazz, gestresst von der weltlosen Selbstreferenz negativistischer Avantgarden, genervt aber auch von der rabaukigen Munterkeit des Rock und dem Authentizitätsgejammere des Blues, immun andererseits gegen die kitschlastigen Versuchungen der Ebene (Folk, Pop, New Age) bei den unerhörten Sirenenklängen von Minimal und Ambient Music auf Empfang schaltete, hatte instinktiv mit einem laientherapeutischen Langzeitversuch begonnen, dessen Motive erst Jahrzehnte später deutlich werden sollten. Denn auf je eigene Weise bieten die neuen Richtungen einer epochalen Wende nicht nur in der Musik selbst, sondern mehr noch in den mimetischen Übertragungsverhältnissen zu ihren Adressaten, Resonanzräume meditativer und angstfreier Abwesenheit von der Welt, in denen psychoästhetische Abwehrstrategien gegen die Zumutungen der instrumentellen Vernunft im Spätkapitalismus erprobt werden konnten. Das "erschöpfte Selbst"15 wendet sich von einer erschöpften Kultur ab und entdeckt dank der exponenziell wachsenden Möglichkeiten elektronischer Klangsimulation - als Sender, als Empfänger und als Medium kreativer Rezeptivität dazwischen - den Rausch den Leere im Ocean of Sound.16

Anders als harmonisch und melorhythmisch strukturierte, expressiv, virtuos oder komplex artikulierte musikalische Verläufe taucht ambient music den Hörer in ein alphawellentemperiertes Klangbad, das den angespannten Präsentismus des leistungsbereiten Kontrollsubjekts auflöst - und damit diskret in Modalitäten des Loslassens, Nachgebens, Schweifens einführt. Die Bewegungsform dieser Gesten, in denen sich weder Aktion noch Passion, weder Tun noch Erleiden, weder Einverständnis noch Widerstand, sondern gelassene In-Differenz gegenüber diesen polaren und auf bedrängende Weise ichzentrierten Zuständen offenbart, kann man am ehesten als Driften bezeichnen. Ein Treiben oder Wegdriften vom Kurs wacher, bewusst die eingehenden Reize strukturierender und ordnender Subjektivität, unbekümmert um die Unwägbarkeiten von Strömungen oder Windstille, weil die Abwesenheit vital orientierender, Aufmerksamkeit heischender Impulse (Beat, Rhythmus, Phrasierung) von Ambient-Hörern nicht als Mangel empfunden wird, sondern als Entlastung vom Zwang zu Differenzierung, Abgrenzung, Identifizierung, überhaupt von Nach- oder Mitvollzug.

An dieser Stelle ist angesichts der inflationären Vulgarisierung des Begriffs Ambient seit seiner Einführung durch Brian Eno eine Abgrenzung unumgänglich. Gemeint ist nicht das ornamentale Hintergrundgeräusch einer musique d"ameublement im Sinne Saties, wie sie von der barocken Tafelmusik bis zur Muzak dokumentiert ist; ebensowenig die weichgespülten Ethnomixturen esoterischer "Neosynthetiker";17 nicht die plätschernden Easy-Listening-Arrangements oder die tröpfelnden und blubbernden Soundtracks, die seit ER und CSI traumatische Szenerien in eine meta-physische Distanz rücken; und auch nicht die tanzfähigen Hybridbildungen mit Dub, Triphop, House und Techno. Man nähert sich einem ästhetisch satisfaktionsfähigen Konzept von Ambient Music am ehesten, wenn man die imaginäre Frequenzmischung verschiedener, strenggenommen inkompatibler Momente anpeilt, die gleichwohl bereits in den frühen Arbeiten Enos und Rober Fripps angelegt war: die auf den kanadischen Umweltakustiker zurückgehende Soundscape-Schizophonie, die konkrete Umgebungslaute aufnimmt und elektronisch verfremdet; das von Tony Scott 1964 inaugurierte Genre der Meditationsmusik, dessen analoge Spielart wahlweise japanische Shakuhachi- oder indische Sitar-Traditionen aktualisiert, während ihre elektronische Variante 1973 eine zu Unrecht vergessene, von allen Orientalismen entschlackte Initialzündung durch die "Music for Meditation" von Eberhard Schoener erlebte; die Minimal Music in ihren verschiedenen Ausprägungen, von den Sound-Environments La Monte Youngs über Pauline Oliveros" "Deep Listening"-Drones bis zu den instrumentalen Mantras eines Terry Riley auf halbem Wege zwischen asiatischer Meditations- und elektronischer Trancemusik; und schließlich, allerdings mehr der Idee als ihrer gängigen Ausführung nach: die Chillout-Atmosphären, in denen hypertone Raver von ihren Techno-Frenesien wieder "runterkommen".

Von den philanthropischen Echo-Landschaften der "Discreet Music" über das maschinelle Rauschen von "Somnific Flux" (Mik Harris und Bill Laswell) bis zum tosenden Wabern der "Cloudchamber" von Deathprod und Thomas Köners mal chtonisch bebenden, mal weiträumig atmenden Extremlandschaften (siehe unten) entwerfen minimalistische Elektroniker, deren Arbeiten aufgrund mangelnder Gefälligkeit als Dark Ambient etikettiert wurden, seit über drei Jahrzehnten lebensferne Soundscapes, die mit statischen oder minimal bewegten Klangflächen, periodisch wiederkehrenden Mustern und aleatorisch eingestreuten Mikroereignissen an der Schwelle der Wahrnehmbarkeit einen eigentümlich hypnotischen Sog entfalten. Was hier ertönt, scheint weder Urheber noch Adressaten, weder Instrumente noch identifizierbare Emissionsquellen zu haben. Die Klänge kommen von nirgendwo, diffundieren durch den Raum, verschwinden und/oder tauchen wieder auf, als wären sie, einer akustischen Hintergrundstrahlung gleich, immer schon da gewesen und man ihrer jetzt erst gewärtig würde. Der Hörer bezeugt weniger ihre Existenz als dass er zum neutralen, unpersönlichen, transsubjektiven Medium ihres Vorhandenseins wird.

Es gehört zum wohlfeilen Selbstbetrug besonders angelsächsischer Kommentatoren, regelmäßig die "mental spaces" oder "dreamspaces" solcher Musik zu beschwören, die jeder Hörer mit seinen individuellen Assoziationen füllen soll. Das genaue Gegenteil findet statt: Entleerung, Löschung, Reinigung. Das abstrakte Dröhnen, Mahlen, Rieseln, Knirschen, Wummern et cetera eröffnet gerade keinen Raum der Innerlichkeit, in dem das Subjekt sich seinem Bewusstseinsstrom überlassen könnte, denn die korrelierenden Frequenzen lösen nicht nur die jeweils aktuellen Bestimmungen von Raum und Zeit auf, sondern überlagern auch alle biografischen Reminiszenzen an sie. Man schwebt oder gleitet in einem Zustand zwischen Innen- und Außenwelt, der sich bezeichnen lässt. Bewusstsein irgendwie noch, aber wovon? Und wäre diese Unbestimmtheit oder Bedeutungsleere gleichbedeutend mit der Erfahrung des Unendlichen? Und dieses ein Vorgefühl der terminalen Grenzüberschreitung?

Dass Dark Ambient zeitgeistkonform entweder apokalyptisch mit Umweltzerstörung oder postapokalyptisch mit den menschenleeren Wüsteneien untergegangener Zivilisationen assoziiert wird, ist angesichts des konkreten Erfahrungsgehalts solcher Klangemissionen zwar verständlich, erfüllt aber trotzdem den Tatbestand der Verdrängung. Ebenso zutreffend wie unbefriedigend bleiben medienwissenschaftliche Hinweise auf die Fortschritte der Sequenzer-Technologie, die zweifellos ihren Beitrag zur Depersonalisierung und Entsubjektivierung musikalischer Produktion geleistet haben. Und wenn Thomas Köner, der konzeptuell luzideste Klangkünstler seiner Generation bekennt, vor allem Möglichkeiten einer neuen Klangfarbenästhetik auszuloten, dann fragt man sich erstaunt, warum seine - von realen Orten inspirierte - Suche ihn regelmäßig zu so schillernden Stimmungsparadiesen wie Sibirien ("Permafrost"), Grönland ("Nuuk"), dem japanischen Kältepol ("Daikan") oder dem Atomtestgelände Novaya Zemlya führt, an denen die vorherrschende "Farbe" bekanntlich weiß ist .

Thomas Köner, "Daikan":


Mit anderen Worten: es sind Todeszonen, die von den experimentierfreudigen Audionauten des "dunklen" Äthers erkundet werden; ihre Faszination gilt einem unbewohnten Reich jenseits von... Vitalfunktionen, Bewegungsimpulsen, Farben, Stimmen, Schwerkraft. Ihre frequenzmodulierten Drones und Loops machen mit dem Menschenfremdesten schlechthin, dem Amorphen, Anorganischen, Leblosen vertraut und erinnern daran, dass bereits die (Atmo-)Sphärenklänge der frühen Ambient Music als Space-Sounds wahrgenommen wurden,18 als tönende Simulakren einer Vakuum-Region, die nicht aufhört, den fortschrittspathologischen Enthusiasmus für eine ebenso kostspielige wie nutzlose Raumfahrt zu absorbieren. Den Planeten zu verlassen - das wird noch für lange Zeit eine großspurig nautische Metapher für six feet under bleiben. Nimmt man noch die Enttäuschung über die "Leere der unendlichen Weiten", ja der schlechten Konkretisierung des Unendlichen überhaupt, so verwundert es nicht, dass die Unsterblichkeitsphantasien anschließend digital formatiert in den Cyberspace abwanderten, wie die nächste Generation den dritten Raum zwischen Diesseits und Jenseits taufte. Zeitgleich erlebte die älteste Anthropotechnik der Out-of-body-Experiences, die pharmakologische Induzierung von Rauschzuständen, eine welthistorisch einmalige Konjunktur. In den entsprechenden Erfahrungsprotokollen findet man nicht zufällig lauter Merkmale aufgelistet, die gleichsam den Ernstfall dessen beschreiben, was Ambient Music atmosphärisch virtualisiert: Weltdistanz, Indifferenz, Schweben, extrakorporale Ekstasen, Nah-Todes-Zustände bei gleichzeitig intensiven Geborgenheitsgefühlen.19

Solche Affinitäten weisen zum einen darauf hin, dass die Geschichte des Eskapismus in Zeiten totalitärer Effizienzoptimierung neu geschrieben und vor allem neu bewertet werden muss: nicht als bequeme, indolente Vermeidungs-, sondern als hellsichtige Verweigerungsstrategie. Zum anderen scheinen die Potenziale des psychoakustischen Endomorphinismus noch nicht ansatzweise erkannt, geschweige denn genutzt. Dass Ambient Music als Schule der Entschleunigung, des Seinlassens und der In-Differenz zur Erosion des Leistungsprinzips beiträgt, ist dabei nur die offenkundige, die gesellschaftspolitische Seite einer Weltflucht, zu der sie anstiftet, ohne die dafür einschlägigen neognostischen Register zu bedienen.20 Weniger evident ist das nirwanologische Moment, in dem das fernöstliche "Abwesen", für das Byung-Chul Han versuchsweise den Begriff der Entkommnis vorschlägt - dem Subjekt entkommen: die heimliche Sehnsucht aller Eskapismen - und der sterbepädagogische Aspekt einer früh und dauerhaft eingeübten Intimität mit Simulationen der Leere und des Nichtseins interferieren. Denn "der Buddhismus ist eine Religion der Abwesenheit. So bedeutet auch das Nirwana, der sanskritische Ausdruck für Erleuchtung, ursprünglich "Verlöschen"".21

Musik, die man mehr spürt als hört, ohne Anfang und Ende, Richtung, Entwicklung und Telos, folglich ohne strukturierte Zeit - was wäre besser geeignet (und ungefährlicher), auf die Ablösung von jenem Ich einzustimmen, in dem Susan Sontag zurecht den unhintergehbaren Widerstand gegen das Verschwinden ins Nichts vermutet? Man muss dazu nicht einmal in die düsteren Geräuschklangwolken der Niederfrequenzforscher tauchen; auch in ihren helleren, dezent rhythmisch akzentuierten, palliative Geborgenheit suggerierenden Varianten, die sich in Brian Enos "Music for Films" (1978) bereits exemplarisch vorgeführt finden, entfaltet diese Musik ihren nirwanologischen Sog. Zum Beispiel "Neroli" (1993), ein konsequent reduziertes, dank modaler Unschärfen und wattiertem Marimbasound ausgesprochen warmes Permutationsspiel mit den Resonanzen unterschiedlich langer Tondauern: die selbstgenerative Textur dieses einstündigen Stücks ohne definierbares Klangzentrum versetzt die wahrgenommene Umgebung sogleich in ein irreales Schweben, das zusammen mit dem Soundtrack zu einem Film verschmilzt, der "nichts" mit mir zu tun zu haben scheint. Und tatsächlich wird nichts Bekanntes evoziert, keine vorgängige Stimmung verstärkt, keine neue induziert, vielmehr - auch dank des herabgesetzten Hautwiderstands - die Grenze zwischen Ich und Welt permeabel für einander durchdringende Schwingungsverhältnisse, während irgendein Niemand außer mir teilnahmslos den Vorgang aus gefühlter zeitlicher Ferne registriert, ohne ihm Bedeutungen zuzuschreiben.

Brian Eno, "Neroli":


Die Projektion zeitlicher Ferne ist ihrerseits nicht vektoriell spezifiziert: es kann sich um Vergangenheit oder Zukunft handeln, auf jeden Fall aber um Zeitmodi, in denen das Ich nicht präsent ist. Das einzige Präsens dieser atmosphärischen Immersion ist die Virtualisierung seiner Abwesenheit - oder des Nichtseins. In dieser buchstäblichen Auszeit wird der Zusammenhang von Widerstand und Todesangst suspendiert, weil mit einer erfüllten Zuständlichkeit des intentionslosen Wegdriftens auch die Sorge sich verflüchtigt, etwas zu versäumen - oder versäumt zu haben -, was wiederum als Vorgefühl eines angstfreien Verklingens erlebt werden kann. Es geht, anders gesagt, darum, den Nexus von biologischer Selbsterhaltung und kultureller Selbstverpflichtung, der den ruinösen Durchhaltewillen bis zu den letzten erbärmlichen konditioniert, zu lockern oder gar zu unterlaufen. Ambient Music bietet nirwanologisch betrachtet eine nüchterne, rausch- und visionsfreie Trance, die den tragischen Gegensatz von Leben und Sterben zu entschärfen verspricht, weil sie das zum Medium asignifikanter Ströme geöffnete Subjekt veranlasst, die Schwäche, den sich ausbreitenden Passivismus, das langsame Ausfließen der Lebensenergie im terminalen Chillout zu affirmieren - bis zu dem Punkt, wo mich auch mein Tod nichts mehr angeht.

Dieses zugegebenermaßen idealtypische Programm - dessen Plausibilität sich erst ab einer gewissen Vertrautheit mit den beschriebenen Immersionserfahrungen einstellt - setzt auf einen musikalischen Akosmismus nicht als "Kunst der Innerlichkeit, die von äußeren Umständen und Ereignissen nur gelegentlich und zufällig berührt wird", auch nicht als "Weltvorbehalt... einer neopneumatischen Offenbarungsmystik",22 sondern als Dynamik der Entweltlichung, der Auflösung von Weltbezügen ohne kompensatorische Symbolsysteme. Die Radikalität dieser sterbepädagogischen Perspektive kann man erst ermessen, wenn man sie mit den gängigen - politischen, sozialen, philosophischen, künstlerischen - Thanatopraktiken vergleicht, die im Verlauf dieses Essays analysiert wurden: ihre Aufmerksamkeit gilt - gemäß dem eingangs beschriebenen Paradigmenwechsel - dem problematisch gewordenen Sterben, nicht jedoch dem Tod, dessen prinzipielle Überforderung ja nicht im Ereignis des Lebensabbruchs, sondern in der Unvorstellbarkeit des anschließenden Nichtmehr-Seins liegt. Fast scheint es, als wäre dies die andere für unsere Zeit charakteristische Form der Verdrängung: neben dem Carpe diem, das suggeriert, wenn man nur "genug" aus seinem Leben "macht", könnte man sich eines Tages beruhigt verabschieden, komplementär dazu: sich um das Sterben sorgen, einen würdigen Abgang organisieren - um sich den Abgrund des Nichtseins danach vom Leibe zu halten.

Alternativ zu diesen weltzugewandten, umtriebigen Vorsorgestrategien für die letzten Dinge handelt die nirwanologische Versuchung der Ambient Music - wiederum einzig Meditationstechniken und Rauschzuständen vergleichbar - davon, wie es sich anfühlen mag, nicht mehr zu sein. Die Magie dieser Umstimmung oder Einstimmung aufs Nichts ergreift dabei nahezu sämtliche Gedächtnisfunktionen. Kategorien wie Kontingenz, Langeweile oder Orientierungslosigkeit verlieren ihre unheimlichen Konnotationen; vergangene Freuden oder Leiden werden gar nicht erst wachgerüttelt, der Horror vacui, der es dem Ich unerträglich erscheinen lässt, nicht vorhanden zu sein, bleibt aus. Ereignis-, Entwicklungs- und Erwartungslosigkeit des Klanggeschehens gewöhnen an die Indifferenz von Bewusstheit und Bewusstlosigkeit, während die Suspension jedes Gefühls für Zeitlichkeit in einem schier endlos gedehnten Augenblick die Angst vertreibt, es könne das Stück, das dieses Nochleben ist und das längst anfing, bevor es erklang, jemals aufhören, wenn es verklingt. Obwohl keine andere Musik die Verräumlichung der Zeitkunst so radikal betreibt, verhallt die Grundfrage psychoakustischer Immersion: "Wo sind wir, wenn wir Musik hören?" hier ungehört. Eine Antwort könnte nicht einmal auf die triumphalpathetische Weltschmerzformel "Ich bin der Welt abhanden gekommen" zurückgreifen. Denn Ich und Welt liegen (jetzt?) vermutlich unbeachtet irgendwo herum (wo, spielt keine Rolle), die Frage müsste eher lauten: Sind wir überhaupt, wenn wir Ambient music hören?

4. Coda

musik der gleichgültigkeit
herz zeit luft feuer sand
der stille einsturz der lieben
übertöne ihre stimmen damit
ich mich nicht mehr
schweigen höre


Samuel Beckett

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Daniele Dell"Agli

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1 Am bündigsten von Wilhelm Weischedel formuliert in seinem "Fragment über Musik", in: "Wirklichkeit und Wirklichkeiten". Berlin 1960.

2 Die Geschichte der verschlungenen Beziehungen von Melancholie und Musik hat Daniel Lettgen rekonstruiert. Seine umfangreiche Studie trägt den bezeichnenden Titel: "...und hat zu retten keine Kraft." Mainz 2010.

3 Referenztext für diesen Zusammenhang ist nach wie vor Alfred A. Tomatis, "Der Klang des Lebens". Reinbek 1987.

4 Nachzuhören in jeder einschlägigen Sammlung, am beeindruckendsten von Montserrat Figueras, "Ninna Nanna", Harmonia Mundi 2005.

5 Das Projekt wurde von Rosetta Life initiiert, einer Organisation, die seit über einem Jahrzehnt in Großbritannien Künstler unterschiedlicher Provenienz zur Arbeit in Hospizen anregt: http://www.rosettalife.org/current-projects/.

7 Die Raserei der attaca zu spielenden Fuge, die alles Unerledigte eines Menschenlebens in knapp drei Minuten (und 175 Takten) aufzuräumen sucht, ergänzt den beschriebenen Eindruck um den berüchtigten Panoramafilm Sterbender. Viele der Präludien und Fugen op. 87 von Schostakowitsch muten dem Hörer Bewegungsfiguren und Stimmungsbilder desjenigen, der sich anschickt, diese Welt zu verlassen, zu. Anfang der fünfziger Jahre komponiert, hallt in ihnen die Erfahrung des Überlebenden der Leningrader Blockade nach, während die stalinistische Ächtung seines Schaffens ihren Höhepunkt erreichte. Ihr sprechender Charakter wird allerdings nur von Pianisten der älteren Generation, namentlich Svjatoslav Richter und Tatjana Nikolajewa realisiert. Selbst jüngere Russen (Sherbakov, Melnikov, Rubaycke) vermitteln nichts von der atheistischen Religiösität des Todgeweihten, nichts von dem Mehrfrontenkampf mit widerstreitenden musikalischen Traditionen (nicht einmal Ashkenazy, von Jarrett, Woodward und Mustonen zu schweigen).

8 Das Stück für vier wortlose Stimmen und Cello, eine Auftragsarbeit des Raymond Poincaré-Krankenhauses in Garches, ist auf der CD "Death Speaks" (Cantaloupe, 2013) erschienen.

9 Eine "serene atmosphere" für den Rezeptionsbereich und einen "place to escape" für Patienten und Besucher. Ursprünglich sollte das zweite Album der Ambient-Reihe "Music for Healing" heißen. Von diesem therapeutischen Selbstverständnis finden sich überall in Enos Werk Spuren, explizit in "Healthy Colors" aus "The Essential Fripp & Eno" sowie in der Installation "Music for Civic Recovery Center" (2001). Die Idee, das Konzept der Ambient Music zuerst auf Terminals anzuwenden, kam ihm übrigens am Kölner Flughafen.

10 Schlüsseltexte zu dieser Entwicklung sind: Gernot Böhme, "Atmosphäre". Frankfurt/M 1995 und "Anmutungen. Über das Atmosphärische", Stuttgart 1998; Hermann Schmitz, "Atmosphären". Freiburg, München 2014 (seine frühesten Untersuchungen über den Gefühlsraum datieren von 1969); Michael Hauskeller, "Atmosphären erleben". Berlin 1995; Peter Sloterdijk, "Sphären I-III". Frankfurt/Main 1998-2004. Sowie Beiträge in den Sammelbänden: Christiane Heibach (Hg): "Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens". München 2012. Robin Curtis, Christiane Voss (Hrsg.): "Immersion", Marburg 2008 (= montage AV 17/2-2008); "Jahrbuch Immersiver Medien" Marburg 2013; Anna-Katharina Gisbertz (Hg): "Stimmung. Zur Wiederkehr einer ästhetischen Kategorie". München 2011; Karsten Lichau, Viktoria Tkaczyk, Rebecca Wolf (Hrsg.): "Resonanz". München 2009. Marcus Maeder (Hg.), "Klangliche Milieus". Bielefeld 2010.

11 Hermann Schmitz, "Atmosphären", op. cit. S. 74, 86.

12 Gernot Böhme, "Atmosphäre", op.cit. S. 33; "Anmutungen", op.cit. S.73.

13 Peter Sloterdijk, "Wo sind wir, wenn wir Musik hören?" In: "Weltfremdheit". Frankfurt/M 1993, S. 296f. Wiederabgedruckt in ders. "Der ästhetische Imperativ". Hamburg 2007, Berlin 2014.

14 Byung-Chul Han, "Abwesen". Berlin 2007.

15 Alain Ehrenberg, "Das erschöpfte Selbst". Frankfurt/M 2004. Denkt man die zentrale These dieses zeitdiagnostisch ambitionierten Werks (grob vereinfacht: im Zeitalter des an den Überforderungen seiner Ansprüche scheiternden Individuums löst die Depression die Neurose ab) in unserem Kontext weiter, kann man sagen, dass der Melancholiker sich vor dem Versinken in die Depression mit Hilfe einer Musik bewahrt, die just ihre pathologischen Aspekte - Leere, Antriebslosigkeit, Sinnlosigkeit - ästhetisch produktiv wendet. Das wäre dann eine bislang unbeachtete Anwendung des homöopathischen Prinzips (similia similibus curentur).

16 David Toop, "Ocean of Sound". London 1995 (dt. 1997) - eine ebenso begeisterte wie materialreiche Einführung in das Thema. Kulturhistoriker, die das Neue prinzipiell nur eingebettet in Altbekanntes gelten lassen, sollten lieber zu Mark Prendergast, "The Ambient Century" (London 2000) greifen.

17 Unverzichtbar für diesen Kontext ist die Auseinandersetzung Peter Sloterdijks mit Joachim Ernst Berendts "Nada Brahma - Die Welt ist Klang" in: "Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung". Frankfurt/M 1987, S. 77-120.

18 Nicht zufällig wurde Eno mit dem Soundtrack zum Film über die Apollo-Mission beauftragt (http://en.wikipedia.org/wiki/Apollo:_Atmospheres_and_Soundtracks).

19 Sehr aufschlussreich hierzu Herbert Elias, "Der Heroinrausch. Fünfundreißig Interviews zur Pharmakopsychologie von Diacetylmorphin". Berlin 2001.

20 Zur Virulenz neognostischer Weltflucht-Motive siehe Peter Sloterdijk, Thomas Macho: "Weltrevolution der Seele". Zürich 1993. Die Aktualität ihres Ansatzes hat Hartmut Böhme anhand des Cyberspace-Eskapismus unter Beweis gestellt: "Zur Theologie der Telepräsenz", in: Frithjof Hager (Hg.), "KörperDenken". Berlin 1996.

21 Byung-Chul Han, op. cit. S. 33.

22 Thomas Macho, "Musik und Politik in der Moderne. Zur Auflösung akosmischer Konstituionsbedingungen der Tonkunst". In: Otto Kolleritsch (Hg.), "Die Wiener Schule und das Hakenkreuz". Wien 1990. So inspirierend Machos und Sloterdijks originelle Ansätze sind, die Psychoakustik auf eine religionsphilosophische, psychoanthropologische und "ontokinetische" Basis zu stellen, so wenig konnte ich ihren Konsequenzen für die Einschätzung der hier vorgestellten musikalischen Phänomene folgen.