Vorgeblättert

Marcia Pally: Lob der Kritik, Teil 1

26.02.2003.
Aus Kapitel 1:
Die schlechteste Staatsform, wenn man von allen anderen, bisher erprobten absieht.

Dritter Abschnitt, worin Voltaire zur Schule geht, Heidegger sich den Nazis anschließt und der Wilde Westen immer noch lockt.

Innerhalb von 24 Stunden nach den Anschlägen vom 11. September identifizierte die amerikanische Regierung als Verantwortlichen den von den Taliban unterstützten Saudi Osama bin Laden. Sie bat um internationale Unterstützung für einen Krieg gegen den Terrorismus und bin Ladens weltweites Terrornetzwerk Al-Qaida. Erstaunlich ist weniger die Geschwindigkeit, mit der man den Schuldigen fand, sondern die Tatsache, dass man einen einzelnen Mann als Quelle der terroristischen Gefahr ausmachte. Soweit wir heute wissen, besteht das Al-Qaida-Netzwerk aus relativ unabhängigen Zellen und basiert auf einer Mischung aus Zwang und Ideologie, der man nicht durch die Jagd auf eine einzelne Person oder durch militärische Gegenmaßnahmen herkömmlicher Art angemessen begegnen kann. Möglicherweise hält die Vergeltung an den für die Anschläge vom 11. September Verantwortlichen andere nicht von weiteren gewalttätigen Aktionen ab, und vielleicht bestärkt sie diese Leute sogar, weil sie sich zunehmend verfolgt fühlen und ihre Heiligen Stätten in Gefahr wähnen. Der französische Richter Louis Bruguiere hat eine Reihe von Al-Qaida-Aktivisten, die einen Anschlag auf die amerikanische Botschaft Paris planten, sowie weitere 17 Mitglieder einer Al-Qaida-Zelle festgesetzt. Er kennt demnach die Verhältnisse und hat dennoch erklärt: "Weder die Abdankung der Taliban noch die Ergreifung Osama bin Ladens könnten die terroristische Bedrohung verringern", da die von ihm ausgebildeten und in die ganze Welt zerstreuten Terroristen "keine Befehle von Osama bin Laden brauchen".

In den Wochen nach dem 11. September bemühten die Vereinigten Staaten sich dennoch nicht um eine vielseitige Reaktion und suchten nicht gemeinsam mit interessierten Gruppen in der muslimischen und außermuslimischen Welt nach den Ursachen der Gewalt. Als im November 2001 die Vertreibung der Taliban bevorstand, wuchs die Besorgnis, dass die Bush-Administration nach dem Krieg keine ausreichenden Mittel für die Entwicklung der Dritten Welt bereitstellen und die Verbündeten in der afghanischen Nordallianz ebenso aufgeben würde, wie die Vereinigten Staaten einst den von der CIA unterstützten bin Laden hatten fallen lassen, als die Sowjets 1989 aus Afghanistan abzogen. Selbst nach der Ermordung des Verkehrsministers der afghanischen Übergangsregierung im Jahr 2002 lehnte Präsident Bush es ab, die Internationale Schutztruppe außerhalb von Kabul durch amerikanische Soldaten zu verstärken. Weder die zunehmenden Aktivitäten der Warlords noch die von Übergangspremier Hamid Karzai und UN-Vertretern geäußerte Besorgnis, dass die geplanten Parlamentswahlen und die wirtschaftliche Entwicklung gefährdet seien, vermochten ihn zu überzeugen. Die U.S. Agency for International Development forderte 150 Millionen Dollar für humanitäre Hilfe in Afghanistan und erhielt nur 40 Millionen. In den Jahren 2001 und 2002 gab das Pentagon 13 Milliarden Dollar für den Kriegseinsatz in Afghanistan und 10 Millionen Dollar für humanitäre Hilfe aus. Die weltweiten Ausgaben für Entwicklungshilfe betragen jährlich 15 Milliarden Dollar. Als Bush im September 2002 unerwartet 80 Millionen Dollar in Aussicht stellte, fragte man sich im Inland wie im Ausland, ob es sich um eine Reaktion auf die Situation in Afghanistan oder aber um einen Schachzug handelte, mit dem er andere Länder bewegen wollte, sich seinen Plänen zur Bombardierung des Irak anzuschließen. Dieser Gedanke lag nahe, weil er seine Ankündigung in der Rede machte, in der er sich gegenüber den Vereinten Nationen für einen Angriff auf den Irak einsetzte. In ganz ähnlicher Weise mischte er die Botschaften, als er eine Woche später ankündigte, die Hilfe für jene Staaten, die "den Erfordernissen einer nationalen Reform entsprochen haben", um 50 Prozent zu erhöhen, und zugleich erklärte, die Vereinigten Staaten würden in Zukunft alle Staaten daran zu hindern versuchen, auf militärischem Gebiet mit den USA gleichzuziehen. Die gesamte Auslandshilfe der Vereinigten Staaten liegt zurzeit (im November 2002) bei einem Zehntel Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts; das ist der geringste Anteil unter den 22 Geberländern; zur Zeit des Marshallplans lag er noch bei 3 Prozent des Bruttosozialprodukts.

Die von der Bush-Administration und ihren Anhängern in der Öl- und Rüstungsindustrie im Afghanistankrieg verfolgten Ziele sind keineswegs konfus, sondern eindeutig von Eigennutz geprägt. Ihre finanziellen Ziele sind ebenso offenkundig wie die "Rekordzahl ehemaliger Firmenmanager in hohen Regierungspositionen", von der die New York Times gesprochen hat. Die beiden für Navy und Army zuständigen Staatssekretäre hatten vorher hohe Posten in der Rüstungsindustrie inne, und nach ihrem Amtsantritt stiegen die Aktien von Rüstungsunternehmen deutlich, da Analysten weit höhere Gewinne bei Staatsaufträgen voraussahen, als bei vorangegangenen Regierungen üblich. Und das obwohl die berufliche Erfahrung des für die Army zuständigen Staatssekretärs Thomas White sich auf die Leitung einer betrügerischen Enron-Tochter, der Enron Energy Services, beschränkte, die ihre Verluste durch Buchführungstricks verborgen hatte. Kurz vor dem Bankrott der Firma verkaufte er seine Enron-Aktien für 12 Millionen Dollar, erklärte später jedoch, als Staatssekretär habe er keinen Zugang mehr zu Insiderinformationen besessen, obwohl er vor dem Zusammenbruch des Unternehmens mehr als 70 Gespräche mit Enron-Managern geführt hatte.

Die finanziellen Motive für den Afghanistankrieg müssen im Zusammenhang mit den gescheiterten Verhandlungen gesehen werden, die man zuvor mit den Taliban über den Bau einer Ölpipeline geführt hatte. Nach der Einsetzung einer den USA verpflichteten Regierung in Afghanistan hofft man nun freie Bahn zu haben. Doch die Gewinne aus den Ölgeschäften werden nicht den vielen Menschen in Amerika und anderswo zufallen, die an das auf einen einzelnen Feind zugespitzte Bild des Terrorismus glauben, in dem der Held und der Bösewicht einander in einer staubigen Landschaft gegenüber treten wie in dem Film Zwölf Uhr mittags. Die bereitwillige Übernahme eines Bildes, das ihnen keine finanziellen Vorteile einbringt, und zudem noch eine unangemessene Reaktion auf den Terrorismus darstellt, zeugt von gewissen Schwierigkeiten, komplexere Ansätze zu begreifen. Vielleicht weil man keine anderen Erklärungen kennt, weil es schwerfällt, sie sich vorzustellen, oder weil es Widerstände dagegen gibt. Letztlich zeigt sich darin eine Abneigung gegen die Auflösung von Gewissheiten, wie sie vertraute Erklärungsmuster und deren Inhalte bieten - aber auch der Reiz einer idealisierten Vergangenheit, in diesem Fall der konventionellen Kriegsführung oder der alten Geschichten aus dem Wilden Westen. In der intellektuellen Presse Amerikas wurde die Diskussion über die vielfältigen Ursachen des Fundamentalismus intensiv und mit eindringlichen Argumenten geführt, die für die politische Auseinandersetzung wie auch für das außenpolitische Verständnis der Öffentlichkeit ungewöhnlich waren. Auch in Europa kam es in der intellektuellen Presse zu einer umfassenden Debatte, doch die Neigung, die USA einerseits wegen eines Alleingangs zu kritisieren und andererseits darauf zu warten, dass die Vereinigten Staaten handeln, entsprach doch sehr den bekannten Mustern der Nachkriegszeit.

Im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 11. September wurde die Vergangenheit gleich zweifach fetischisiert, nämlich einerseits von den muslimischen Fundamentalisten, deren idealisierte Theokratie in Wirklichkeit niemals existiert hat, und andererseits von den Menschen im Westen, die sich als Gegengift einen "Kreuzzug" wünschten, wie Präsident Bush den Krieg anfangs nannte und auf den der italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi anspielte, als er im Gefolge des 11. September die gemeinsamen "christlichen Wurzeln" und die angebliche Überlegenheit der westlichen Kultur beschwor. Der palästinensische Politikwissenschaftler Edward Said schrieb dazu:

Besonders gefährlich wird der Terrorismus, wenn er sich mit abstrakten religiösen und politischen Vorstellungen verbindet und an vereinfachende Mythen anknüpft, die immer weniger mit der historischen Wirklichkeit und vernünftigem Denken zu tun haben. Hier muss das säkularisierte Bewusstsein versuchen, sich Geltung zu verschaffen, in den USA ebenso wie im Nahen oder Mittleren Osten? "Der Islam" oder "der Westen" eignen sich nicht als Banner, denen man blind folgt. Einige werden es tun, doch dass die zukünftigen Generationen sich selbst zu endlosem Krieg und Leid verdammten, ohne jemals zur Besinnung zu kommen?, erscheint doch eher willkürlich als unabwendbar.

Manche sehen darin weniger ein Ergebnis von Willkür als von geringer Bildung. (...)Doch schlechte Schulbildung als Erklärung für konfuses Denken kann kein Trost sein, denn die Bildung war noch nie ein guter Indikator für kritisches Denken. Die Geschichte ist voll von klugen Köpfen, die sich in fetischistisches Denken flüchteten. Man weiß kaum, wo man anfangen soll. In der Neuzeit vielleicht mit Rousseau oder Joseph de Maistre und all denen, die sich auf einen Volksgeist unterschiedlichster Ausprägung beriefen, und das selbst bis ins 20. Jahrhundert hinein. Eine ausgezeichnete Bildung veranlasste den aus Russland stammenden französischen Hegel-Interpreten Alexandre Kojeve irgendwie, die Menschenrechtsverletzungen der Sowjets zu tolerieren. Er sah darin eine Übergangsphase in der dialektischen Bewegung der Hegelschen "Linken" hin zu einem klassenlosen Staat, der schließlich die Gleichheit unter allen Bürgern verwirklichen sollte (während die Vereinigten Staaten für ihn die "Rechte" bildeten). Linksintellektuelle Kreise in Europa und in geringerem Maße auch in den Vereinigten Staaten begannen nur sehr langsam, die Sowjetunion mit kritischen Augen zu betrachten. Manche fühlten sich erst nach Chruschtschows Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen bemüßigt, etwas genauer hinzusehen, und bei einigen, vor allem in Frankreich, dauerte es sogar bis 1974, als Solschenizyns Archipel Gulag in Übersetzungen erschien, bevor ihre Gewissheiten unter der wachsenden Last der Beweise ins Wanken gerieten.

Zwei weitere Beispiele sind Gottfried Benn, der Nazi wurde, und Martin Heidegger, der trotz seiner Beziehungen zu Hannah Arendt 1933 für das Amt des Rektors der Universität Freiburg kandidierte und die Universität nach seiner Wahl im Sinne des Nationalsozialismus "revolutionierte". Er hielt im ganzen Land Vorträge für die NSDAP und brach die Beziehungen zu seinen jüdischen Freunden ab, so auch zu seinem Lehrer Edmund Husserl. Schon ein Jahr später trat er von seinem Amt als Rektor der Universität Freiburg zurück, doch vom Nationalsozialismus sagte er sich nicht los.

Abweichungen vom Weg des kritischen Denkens sind interessant, weil Vergleich und Überprüfung von Tatsachen so grundlegende Bedeutung für die Moderne besitzen. Als Voltaire in die Schule ging, gehörten Logik, Disputation und Rhetorik selbst in katholischen Ländern zur Grundausbildung der Schüler, denen man beibrachte, Argumentationen und Debatten zu analysieren. (...)Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde die Lücke, die durch den Verlust eines in das Weltgeschehen eingreifenden Gottes entstanden war, zunehmend durch das denkende Individuum gefüllt, das in seinem eigenen Interesse in Natur und Gesellschaft eingreift. Im weiteren Verlauf der Neuzeit gewann die Idee des denkenden Individuums immer größere Bedeutung, selbst bei ihren Kritikern. (...)Empirismus und die Prüfung von Hypothesen haben zwar grundlegende Bedeutung für die Moderne, aber selbst Menschen, die in der Tradition kritischen Denkens erzogen sind, halten sich nicht immer daran. Auch für die Demokratie ist kritisches Denken nicht der einzige wichtige Faktor, der sie erblühen ließe und alle Mängel behöbe. Das Fehlen kritischen Denkens ist nicht das einzige Übel, unter dem die Demokratie oder die Welt leiden. Kritisches Denken steht nicht in Konkurrenz zu Fantasie oder Kreativität; es hat nicht einmal sonderlich viel damit zu tun. Selbst in der Politik vermag kritisches Denken allein noch nicht die Sittlichkeit, Gleichheit und Freiheit, das Glück oder den Konsens aufgeklärter Interessen zu schaffen, nach denen die Aufklärung strebte. Kritisches Denken führt nicht zu Übereinstimmung und klaren Lösungen, sondern zu Auseinandersetzungen, wie Popper sie bei seiner Darstellung der Entwicklung und Prüfung von Hypothesen anhand unterschiedlichster Daten beschrieben hat.

Dennoch können liberale Demokratien zumindest bei politischen Entscheidungen nicht auf dieses Vorgehen verzichten, so unzulänglich es auch sein mag. In weiten Teilen halten die Demokratien und ihre Bürger sich daran, doch wenn das eigene Denken versagt, verzichtet man auf einen Teil seiner Selbstbestimmung zu Gunsten der Annahmen, Binsenweisheiten, Gemeinplätze oder Programme anderer Leute. Man überlässt sich den schnellen Lösungen radikaler oder futuristischer Szenarien oder einer angeblich besseren Vergangenheit, aber die wahren Probleme bleiben ungelöst. Es gibt noch weitere Möglichkeiten, sich dem kritischen Denken zu entziehen, doch die Flucht in Vergangenheit oder Zukunft macht einen Großteil jener von Edward Said angesprochenen "Willkür" aus, die keine Rücksicht auf die Vernunft oder die historische Wirklichkeit nimmt.

Teil 2