Vom Nachttisch geräumt

Was übrig bleibt

Von Arno Widmann
24.04.2017. Zeigt architektonische Relikte gescheiterter Hoffnungen: Alessandro Biamontis Geschichte der "Archiflops".
Wer mit dem Auto durch Deutschland reist, der sieht ab und zu eine Brücke in der Landschaft stehen, zu der keine Straße führt oder einen einsamen Rohbau. Er weiß, da haben Menschen und Ämter weiter geträumt als ihr Geldbeutel das zuließ. Wenn er jung ist und hinten im Auto sitzt, während vorne die Eltern sich unterhalten, dann träumt auch er und schnell werden aus einem Haus ganze Städte, verödet, verlassen von ihren Bewohnern. Er denkt sich ein neues Erdzeitalter, in dem wieder Dinosaurier durch New York streifen, bei jedem Schritt ganze Häuserzeilen krachend zum Einsturz bringen.

Sehr nahe kommen diesen pubertären Träumen die Aufnahmen, die Alessandro Biamonti zusammengetragen hat. Da ist zum Beispiel der "Spreepark", der einstige und einzige Vergnügungspark der DDR. 1969 in Betrieb genommen, musste die Anlage 2002 eingestellt werden, danach verrotteten große Teile still vor sich hin. Ein Geisterort für Gruselpartys. Jetzt sollen Teile davon wiederbelebt werden.

Eine ganz andere Dimension hat "Kangbashi New Area", eine Erweiterung der Stadt Ordos. Sie liegt 500 Kilometer westlich von Peking in der Inneren Mongolei. Das neue Gelände ist eingerichtet auf bis zu einer Million Einwohner. Zur Zeit leben dort gerade mal 30 000 Menschen. Es werden auch nicht mehr werden. Es ist nicht damit zu rechnen, dass die riesigen Kohlevorräte im Boden dieser Weltgegend, angesichts der inzwischen gewonnenen Erkenntnisse über die Umweltbelastung, die die Nutzung dieser Energie bedeutet, in absehbarer Zeit von dem jetzt schon im Smog versinkenden China gefördert werden könnten. So stehen jetzt riesige Wohnsiedlungen leer. Sie abzureißen würde noch einmal Geld kosten. Also verziehen sich nicht nur die Investoren, sondern auch der Rest der Menschheit und suchen nach lukrativeren Orten.


Von Saúl BriceñoAttribution

"Eine Sammlung aus 25 Pleiten-, Pech- und Pannen-Bauten zwischen Pjöngjang, Caracas und Berlin", steht im Spiegel. Man kann Biamontis Buch auch betrachten als eine Geschichte des Fortschritts, eine Geschichte der gescheiterten Versuche voranzukommen. Wir vergessen sie gerne. Wir zeigen die Skylines erfolgreicher Investitionen. Dass aus dem kleinen Neu-Amsterdam einmal Wallstreet, der wichtigste Finanzplatz der Welt wurde, daran erinnern wir uns, daran werden wir erinnert. Wer und was auf diesem Weg - von den Algonkin-Indianern, denen Manhattan für Waren im Wert von 60 niederländischen Gulden abgekauft worden war bis hin zu denen, die heute obdachlos durch die Stadt irren - davon wird nur selten erzählt. Biamonti konzentriert sich sehr auf die architektonischen Relikte der gescheiterten Hoffnungen. Die sozialen Seiten der Geschichten muss der Leser sich meist andernorts besorgen. Das ist schade. Aber heute steht jede Veröffentlichung im Kontext des World Wide Web. Alles ist Anregung. Vielem kann man leicht nachgehen, hat man erst einmal einen Anstoß bekommen.

Beim David-Turm in Caracas erzählt Biamonti auch ein wenig von der Sozialgeschichte des Verlassens. Der Bau fiel gewissermaßen die gesellschaftliche Leiter herab. Begonnen hatte er im Kopf und in den Kalkulationen des Investors David Brillembourg. Er plante ihn als Centro Financiero Confinanzas, als Sitz einer Großbank, als Bürokomplex und Hotel. Daraus wurde nichts. Den David-Turm in Caracas sah ich das erste Mal in der amerikanischen Serie "Homeland", der ich ein paar Monate lang völlig erlag. Aber ich dachte, es sei der Einfall eines megalomanischen Kulissenbauers. Ich hatte keine Ahnung, dass es diesen Bau wirklich gab. 1990 war mit dem Bau des 47 Stockwerke hohen Gebäudes begonnen worden. 1994 wurden die Bauarbeiten eingestellt. Es gab keine Fahrstühle, kein Wasser. Es stand nichts als der Rohbau. 2007 wurde er Hausbesetzern überlassen. Die legten Wasserleitungen bis ins 22. Stockwerk. Am Ende beherbergte der Davidsturm 2500 Familien. Der Staat hatte sich abgewandt von dem einstigen Prestigeobjekt - das dritthöchste Gebäude Venezuelas. Das organisierte Verbrechen übernahm. Im Juli 2014 wurden die Bewohner von der Polizei vertrieben. Die Nationalgarde, die Feuerwehr und der Zivilschutz, so hieß es damals, sollten das Gebäude nutzen. Auch daraus ist bis heute nichts geworden.

Alessandro Biamonti: Archiflop. Gescheiterte Visionen. Die spektakulärsten Ruinen der modernen Architektur, DVA, München 2017, 192 Seiten, 120 Farbfotos  29,95 Euro.