Vom Nachttisch geräumt

So viel Hoffnung

Von Arno Widmann
16.07.2019. Elias Canettis Briefe zeigen ihn als Meister des vergifteten Lobs und Freund der 68er.
Eine Auswahl von Briefen von Elias Canetti (1905-1994). Briefe befriedigen meine voyeuristischen Interessen. Wenn man zum Beispiel vergleichen kann, wie ehrfurchtsvoll Elias Canetti über Theodor W. Adorno schreibt, wenn er an ihn schreibt, und wie anders es klingt, wenn er einem anderen über Adorno schreibt, ist man kuriert von der Idee, man könne die Meinung eines Menschen seinen Äußerungen entnehmen. Äußerungen fallen immer in einem Kontext und der prägt sie meist doch mehr als sie ihn. Canetti lobt zum Beispiel Adorno so: Ich staunte "immer wieder über die unglaubliche Elastizität und Offenheit Ihres Geistes". Das sind nicht gerade Canettis Vorzugsqualitäten. Er bewundert sonst mehr das "allen Gewalten zum Trotz sich erhalten", also eine gewisse Sturheit und Starrköpfigkeit. Das Lob klingt schon so leicht vergiftet. Nun fügt er hinzu: "Verzeihen Sie, dass ich das so gerade heraus sage und dass ich etwas hervorhebe, das Ihnen selbstverständlich und vielleicht auch gar nicht besonders wichtig erscheint. Aber es ist nach meiner Erfahrung eben die Eigenschaft, die Menschen von höchstem geistigen Rang gewöhnlich abgeht. Umso aufregender war es für mich, sie bei Ihnen endlich zu finden." Mit anderen Worten: Wer so rezeptiv ist, der wird wirklich produktiv nicht sein können.

Man wird davon ausgehen können, dass Adorno das vorgebliche Lob der Offenheit - ausgerechnet von Canetti - richtig zu nehmen verstand. Ähnlich bizarr ist das Loblied auf Adornos Ehefrau, das Canetti ihr singt: "Ich war auf das tiefste beeindruckt von der Atmosphäre, die Sie um Adorno geschaffen haben. Dass man so wirksam für einen anderen Menschen leben kann, ohne selbst unglücklich zu werden, d.h. ohne dabei im geringsten etwas von der eigenen Persönlichkeit aufzugeben, das habe ich noch nicht erlebt. Ich hatte es sogar nach den Erfahrungen mit den geistigen Menschen meiner Umgebung, für unmöglich gehalten." Es ist der gleiche Dreh wie in dem Brief an Adorno: dem Adressaten wird ein Verhalten zugeschrieben, dessen Unmöglichkeit Canetti im selben Satz bekräftigt. Man kann sich entweder für weltweit einmalig oder für vergackeiert halten. So sehr jeder von uns zu ersterem - mit guten Gründen - neigt, so wenig wird er Canetti diese Einsicht zutrauen.

Elias Canetti. London 1959. Aus dem besprochenen Band. Copyright: Canetti Erben Zürich über Carl Hanser Verlag


Am 24. März 1970 schreibt Canetti an den Chefredakteur der Neuen Rundschau über den damals viel verwendeten Begriff "faschistisch": Mit dem Wort stimme etwas nicht. "Es verfremdet zu sehr, was uns noch so nahe ist. Es ist kein gutes Wort… Ich glaube, dass es ein gutes Wort für die Sache, die wir meinen, auf Deutsch noch nicht gibt." Daran hat sich nichts geändert. Auch weil es die Sache nicht gibt. Es gibt gar zu viele Ansichten auf sie, gar zu viele Varianten von ihr. Dennoch kann es uns immer dabei um dasselbe gehen. Aber wir tun uns offenbar schwer, es festzuhalten. Derzeit redet man gerne von Populismus. Nichts anderes hatte Canetti im Auge als er von "Masse und Macht" sprach und die frühe Frankfurter Schule zielte auf dasselbe mit ihrer Rede vom "autoritären Staat". Jedenfalls ist das mein Eindruck. Aber natürlich weiß ich, wie viele Kämpfe und Auseinandersetzungen hinter diesen Begriffen und den Entscheidungen für den einen oder den anderen stehen. Es waren und sind nicht Kämpfe um Worte, sondern um das richtige Verständnis der Welt.

Das war knapp zwei Jahre zuvor wieder einmal ordentlich durchgeschüttelt worden. Canetti war im Mai 1968 in Paris stecken geblieben, hatte sich zu den Demonstranten begeben, mit ihnen gesprochen und sich von ihnen begeistern lassen. Er schrieb am 25. Juni 1968, inzwischen wieder in London, an Rudolf Hartung, den Redakteur der Neuen Rundschau: "Ganz sicher bin ich, dass die Dinge sie ebenso ergriffen hätten wie mich. Das Gefühl, das man schon seit einiger Zeit hatte: dass es wieder eine Jugend gibt, die nicht bloß auf Promiskuität und Rauschgifte aus ist, die von den wirklich wichtigen Dingen erfüllt ist, hat sich einem überwältigend bestätigt. Der Stolz und das Misstrauen dieser Jugend, ihr Trotz, ihr unerbittlicher Hass gegen diese Gesellschaft, ihre Verachtung für die enorme Überzahl der Bürger, Bürokraten, Streber, Technokraten, Auto-Anbeter, Pop-Idioten, Russo-Amerikaner, Großmächtigen, Polizei-Sadisten, unter denen sie doch schließlich tagtäglich existieren, sind derart, dass es einem jetzt noch die Tränen in die Augen treibt, wenn man nur daran denkt. Ihnen gegenüber schäme ich mich nicht zu sagen, was jedem anderen lächerlich erscheinen müsste: wenn ich heute sterben müsste, würde ich nicht mehr in dieser absoluten Verzweiflung über den Zustand der Welt sterben, von der man seit weiß Gott wie vielen Jahrzehnten erfüllt war, sondern in Hoffnung. Was immer geschieht, ich weiß jetzt, dass diese Menschen sich nicht ersticken lassen werden. Ich habe sie gesehen, mit ihnen gesprochen, sie angehört. Sie haben zumindest eines: einen Instinkt für das, was Befehle sind, und eine Einsicht in die Gefahr starrer Pläne und Ziele."

Elias Canetti: Ich erwarte von Ihnen viel - Briefe, herausgegeben und mit Anmerkungen versehen von Sven Hanuschek und Kristian Wachinger, Carl Hanser Verlag, München 2018, 864 Seiten, s/w-Fotografien,42 Euro.