Vom Nachttisch geräumt

Hühnerfutter, Arbeiterklasse und Weltrevolution

Von Arno Widmann
14.05.2018. Sein Stalinismus ist ihr Stalinismus: Gespräche mit dem Kommunisten und Philosophen Hans Heinz Holz.
Der Mann war hochgradig gebildet, und er war hochgradig verrückt. Der Niedergang des Kommunismus begann, so erklärte Hans Heinz Holz (1927-2011), mit dem 20. Parteitag der KPdSU, mit der zaghaften Aufklärung über Stalins Verbrechen. Nein, Holz wirft Chruschtschow nicht Zaghaftigkeit, sondern Verrat am Kommunismus vor. Auf die Millionen Toten der Stalinschen Variante der Utopie geht Holz nicht ein, stattdessen immer wieder auf dessen Verdienste. Zum Beispiel so: "Das Problem der Diktatur des Proletariats ist, die Kontrolle über die Mitläufer zu behalten (Lachen). Das ist bei Stalin geglückt - um manchen hohen Preis." Das ist nun wirklich verrückt. Denn die Stalinschen Säuberungen haben ja nicht etwa dafür gesorgt, dass die wirklichen, die überzeugten Kommunisten das Sagen hatten in der Partei, sondern im Gegenteil die Mitläufer, die Opportunisten. Wie jede Gangsterbande achtete die KPdSU darauf, dass jeder Dreck am Stecken hatte, der sich im Bedarfsfall gegen ihn verwenden ließ.


Hans Heinz Holz bei den Römerberggesprächen 1976

Holzs fünfbändiges Werk "Dialektik: Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart", erschienen 2010 in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, gehört mit Sicherheit zu den großen Werken der Philosophiegeschichte. Nicht nur als Herausgeber der Werke von Gottfried Wilhelm Leibniz und deren genaue Interpretation gehört er zu den wichtigsten Philosophieprofessoren seiner Generation.

Im Februar 2011 führten der damalige Chefredakteur der Tageszeitung Junge Welt Arnold Schölzel (geboren 1947) und Johannes Oehme (geboren 1984) eine Reihe von Gesprächen mit Hans Heinz Holz an dessen Schweizer Wohnort. Johannes Oehme ist der Sohn von Matthias Oehme, des Chefs der Eulenspiegel-Verlagsgruppe - zu der auch der Verlag "Das Neue Berlin" gehört. Die beiden Holz befragenden Männer freuen sich, wann immer er etwas sagt gegen die Bundesrepublik, wann immer er zum Beispiel gegen Gorbatschow polemisiert. Wenn er es einmal vergisst, dann erinnern sie ihn daran. Sein Stalinismus ist ihr Stalinismus. Unerträglich.

Unerträglich? Die Wahrheit ist, es macht Spaß, diesem verqueren, hoch intelligenten Hans Heinz Holz zuzuhören. Wenn er über Vorgeschichte und Anfänge der Bundesrepublik erzählt - er wurde in Frankfurt am Main geboren -, dann ist das ein Blick auf die Geschichte dieses Teils Deutschlands, wie man ihn selten, sehr selten geboten bekommt. 1945 trat er in die KPD ein. Erst 1994 wurde er - widerstrebend - Mitglied der DKP.

So sehr Holz die Pointe liebt, manchmal lässt er sich auch eine entgehen. Bei seiner Johannes-Semler-Geschichte zum Beispiel: 1948 weigerte sich Semler (1898-1973), damals Direktor der Wirtschaftsverwaltung der Bizone (USA/Großbritannien), Maisgries aus den USA zu importieren. Das sei "Hühnerfutter" erklärte er. Er wurde abgesetzt. Statt seiner kam Ludwig Erhard. Der hatte nichts gegen "Hühnerfutter". So weit Holz. Johannes Semler erlebte allerdings noch, wie sein Sohn Christian Semler (1938-2013), die Mutter war Ursula Herking, eine KPD gründete und Kapitalismus, US-Imperialismus und Sozialimperialismus den Krieg erklärte. Diese Pointe ließ Holz leider weg.


Holz mit dem Freund und Sinologen Joachim Schickel

Wer den vertrauten wilden Ritt der III. Internationale durch die Geschichte der Dialektik von Parmenides über Leibniz, Kant, Hegel, Marx, Lenin und Gramsci mal schnell auf drei Seiten mitmachen möchte, der braucht nur Holz zuzuhören, der das lässigst zum tausendsten Male extemporiert. Sehr interessant sind auch seine Ausführungen zur Studentenbewegung von 1968. Er war Kommunist, orthodoxer Marxist-Leninist. Die Frankfurter Schule war in seinen Augen ein bürgerlicher Versuch, den Marxismus zu kapern. Oder gar - in der Gestalt von Herbert Marcuse - die Speerspitze eines Angriffs des US-Imperialismus auf die revolutionäre Theorie. Gleichzeitig war der studierte Sinologe Hans Heinz Holz ein Parteigänger Mao Zedongs und ein Befürworter der Kulturrevolution. Das rückte ihn weg von seinen alten Genossen in der KPD und ein wenig in die Nähe der von ihm gerne auch verachteten studentischen Revoluzzer. Wenn diese Erinnerungen nicht lügen, liebäugelte er allerdings niemals mit den nach den Septemberstreiks von 1969 überall neu aufsprossenden marxistisch-leninistischen Parteigründungen.

Die Frankfurter Schule, so erklärt er, habe "mit der Arbeiterklasse keine Berührung gehabt". Das ist völliger Blödsinn. Oskar Negt zum Beispiel, promoviert von Adorno, von 1962 bis 1970 Assistent von Jürgen Habermas, war seit den frühen 60er Jahren eng mit den Gewerkschaften verbunden. Er arbeitete in der Bildungsabteilung der IG Metall und war auch stellvertretender Leiter einer DGB-Bundesschule. Aber das ist Holz natürlich zu wenig, und wenn er von "Arbeiterklasse" spricht, denkt er nicht an Gewerkschaften.

Seine eigene Position zur Arbeiterklasse reflektiert Holz nicht. Ganz am Ende des Buches erzählt er, wie er nach dem Untergang von DDR und Sowjetunion versuchte, dem Revisionismus entgegenzuwirken: "Jetzt kam es darauf an, die Basis zu mobilisieren. Zwischen 1995 und 2008 bin ich ununterbrochen herumgefahren und habe in jeder Ortschaft, die mich eingeladen hat, Vorträge gehalten. Ich habe im Jahr ungefähr 50 bis 60 Vorträge gehalten. Immerhin war ich da schon über 70, aber ich war gut drauf und habe alles aus eigener Kasse bestritten. Ich habe also diese Tätigkeit entfaltet, bei der ich zum ersten Mal eine große Nähe zu der Partei-Basis bekam. Ich meine, vorher war ich immer einer von den Parteiintellektuellen und hatte mit dem Parteivorstand zu tun und mit den führenden Leuten."

Ein halbes Jahrhundert in der kommunistischen Bewegung und jetzt erst Kontakt mit der Basis! Von einer Berührung mit der Arbeiterklasse konnte bei Holz, glaubt man diesen Erinnerungen, niemals die Rede sein. Das war keine sinnliche, sondern stets eine ideologische Frage. So viel zum Titel des Buches. Dietmar Dath ehrte Holz in seinem Nachruf in der FAZ als "lebhaften Begriffslehrer mit einer hartnäckigen Liebe zum Nichtgegenständlichen". Das ist nicht nur schön formuliert, sondern auch ein wichtiges Stück Wahrheit über Hans Heinz Holz.

1927 vertrat der französische Philosoph Julien Benda in "Der Verrat der Intellektuellen" die Ansicht, die wären dazu da, das Ganze im Auge zu haben und keine partikularen Interessen zu vertreten. Wenn sie davon abließen und sich politisch für eine einzige Sache engagierten, begingen sie Verrat an ihrem gesellschaftlichen Auftrag, ihrem Daseinszweck, dem einzigen Grund ihrer Existenz.

Hans Heinz Holz: Die Sinnlichkeit der Vernunft - Gespräche mit Arnold Schölzel und Johannes Oehme Februar 2011, Das Neue Berlin, Berlin 2017, 329 Seiten, s/w-Fotos, 20 Euro