Vom Nachttisch geräumt

Merseburg und Umgebung

Von Arno Widmann
24.04.2017. Man schreibt gerne, in Deutschland vergehe kein Tag ohne einen rassistischen Überfall. Doch in Wahrheit sind es viel mehr, zeigt Andrea Röpke in ihrem "2017 Jahrbuch Rechte Gewalt".
Andrea Röpke beobachtet seit Jahren die rechte Szene in der Bundesrepublik. Sie hat darüber unzählige Artikel in den wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften geschrieben, sie hat bisher - wenn ich richtig zähle - ein halbes Dutzend Bücher zum Thema Rechtsradikalismus veröffentlicht. Sie bekam unter anderen die Auszeichnungen "Reporterin des Jahres" und "Journalistin des Jahres". Ihr neuestes Buch heißt "2017 Jahrbuch Rechte Gewalt", es hat  298 Seiten, in deren Zentrum Chroniken stehen, die vom Oktober 2015 bis zum September 2016 reichen. Dazwischen Analysen einzelner Vorkommnisse wie zum Beispiel "das Reker-Attentat in Köln, der terroristische Akt eines braunen Schläfers" oder zusammenfassende Erwägungen zu "Opfer, Überfälle, ein 'Klima der Angst'" oder gleich zu Beginn "Die rechte Hassbewegung und ihre Facebook-Armee".

Andrea Röpke liebt das genaue Hinsehen und Zahlen. Gegen die Rede vom linken Meinungskartell, das Andersdenkenden den Mund verbiete, weist sie darauf hin: "In jeder fünften Talkshow von ARD und ZDF sitzt im Jahr 2016 ein Vertreter der AfD." Ich habe diese Zahl nicht nachgeprüft, ich habe auch keinen Eindruck, da ich nur selten Talkshows sehe, aber ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie lange es dauerte, bis die Grünen es zu regelmäßigen Talkshow-Auftritten geschafft hatten. Es wäre schön, wenn die Öffentlich-Rechtlichen aus dem damaligen Fehler gelernt hätten. Schrecklich wäre es, wenn es aus Affinität geschähe. Wenn Andrea Röpke, sie wurde 1965 geboren, über AfD-Politiker schreibt, "sie nutzen die Medien - die sie ablehnen - gezielt für ihre Zwecke. Tabubrüche sind Kalkül", dann erinnert sich der älteren Zeitgenosse sehr wohl an seine Jugend, in der die gleiche Taktik mit gleichem Geschick verwendet wurde. "Rechte Apologeten gehen dabei geradezu lässig mit liberaler Hilflosigkeit um. Immer scheinen sie einen Schritt voraus." Exakt so wurde 1968 über den Studentenprotest geschrieben. Man sollte sich nicht gar zu lange bei diesen Formen aufhalten, sondern - so sehr sie einen verwirren mögen - sich doch mehr den Inhalten zuwenden. Genau das macht Andrea Röpke.

Man schreibt gerne, in Deutschland vergehe kein Tag ohne einen rassistischen Überfall. Das ist, das zeigt sich beim Blick in die Chroniken des Buches, Schönrednerei. Im Februar 2016 kam es zu 113 Überfällen. Allein am 28. Februar waren es zehn. Im September 2016 waren es 64. Es sind Vorfälle wie diese aus der ersten Maiwoche: "Personen beleidigen ihre Nachbarin, die ein neugeborenes Kind im Arm hält, rassistisch und greifen sie an. Die Frau wird dabei verletzt." (Berlin Tiergarten). "Drei Männer und eine Frau brüllen 'Heil Hitler!'. Ein junger Mann, der sie daraufhin anspricht, wird attackiert. Gemeinsam schlagen die Hitleranhänger auf ihn ein." (Schwerin). "Mehrere Täter greifen vier Geflüchtete aus Syrien und Libanon an und verletzen sie mit Gegenständen" (Premnitz, Brandenburg). Selbst wenn ich in unseren Zeitungen diese Meldungen finde, so lese ich schnell weiter, weil ja nichts wirklich Gravierendes passiert sei. Das ist genau die falsche Haltung. Erst auf der soliden Grundlage dieser massenhaft jeden Tag geschehenden kleinen Gewalttaten entstehen die großen Brandanschläge, die Tötungskommandos von  Gruppen, die sich bei den "kleinen" Übergriffen gefunden und erprobt haben.

Sie werden nicht nur von Politikern, sondern auch von Polizei und Gerichten ermutigt. Ein Fall aus Merseburg: "Zwei Männer im Alter von 47 und 63 Jahren überfallen am 5. Oktober 2016 einen 44-jährigen Mann aus dem westafrikanischen Liberia sowie dessen Lebensgefährtin und ihren fünfjährigen Enkel in der eigenen Wohnung. Mit einem mitgebrachten Teleskopschlagstock und einem Schlagring prügeln sie brutal auf die Familie ein. Das fünfjährige Kind muss daraufhin mehrere Tage im Krankenhaus behandelt werden. Als die Polizei vor Ort eintrifft, kehrt der 63-jährige Täter zurück und beschimpft die Familie vor den Beamten lautstark mit rassistischen Beleidigungen. Das Amtsgericht Merseburg weigert sich, Untersuchungshaft gegen die beiden Täter anzuordnen." Wer die Website des Amtsgerichts aufruft, der findet auf dem Bildschirm rechts die Parolen: "Weltoffen Willkommen Sachsen Anhalt" und "Opfer Schützen! Sachsen Anhalt".

Andrea Röpke: 2017 Jahrbuch Rechte Gewalt - Hintergründe, Analysen und die Ereignisse 2016: Chronik des Hasses, Knaur Verlag, München 2017, 298 Seiten, 12,99 Euro.