Vom Nachttisch geräumt

Eine etwas vollere Mondsichel

Von Arno Widmann
27.02.2017. Drama? Postdrama? Matthias Hopfs Studie führt in die entlegendsten Seitenpfade des Hohenlieds Salomons
Eine theologische Dissertation. Ich sage das nicht, um die Arbeit schlecht oder gut zu machen. Ich sage das nur, damit klar ist, es geht nicht um ein Buch für ein breites Publikum. Sondern es wurde geschrieben, um einen akademischen Grad zu erlangen. Es hat mich aber dennoch interessiert, weil es untersucht, ob man das "Hohelied" als dramatischen Text begreifen kann, also als Vorlage für eine Aufführung. Das "Hohelied" ist ein Buch des Alten Testamentes. Es handelt sich um Liebeslieder, die hier wohl nur zusammengestellt wurden. Es gibt freilich eine schon sehr alte Tradition, die diesen immer wieder gern König Salomo zugeschriebenen Text als eine zusammenhängende Handlung begreift. Schon der 185 in Alexandria geborene christliche Autor Origines, von manchen wird er zu den "Kirchenvätern" gezählt, erklärte in seinem Kommentar zum Hohenlied, es sei wie ein Drama geschrieben.

Matthias Hopf geht dieser Frage nach. Er tut das als ein aufgeklärter Mann des 21. Jahrhunderts. Das erschwert die Sache ungemein. Für die Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts stand fest, das Hohelied war kein Drama. Es gibt keine Charaktere, es gibt ja nicht einmal im Ernst eine Handlung. Wer Elfriede Jelineks Texte vor Augen hat, wer sie gar auf der Bühne erlebt hat, der weiß, so einfach ist die Frage, ob es sich bei einem Text um einen dramatischen handelt, nicht mehr zu entscheiden. So einfach war es wahrscheinlich - von wenigen akademisch durchorganisierten Phasen der Weltgeschichte abgesehen - niemals. Das Postdramatische hat wohl immer schon zum Drama dazugehört. Das kann man lernen bei Hopfs bis in die entlegensten Seitenpfade des Textes führenden sorgfältigen Analyse des Fürundwider.


Illustration aus der Große Heidelberger Liederhandschrift (Codex Manesse)

Schon der flüchtigste Blick auf die Problemlage macht klar, dass eine eindeutige Antwort bei Texten, die wohl mindestens zweieinhalb Tausend Jahre alt sind, nicht zu erreichen sein wird. Nur ganz nebenbei: Auch Texte, die Handlung und Charaktere zeigen, müssen nicht für Aufführungen gedacht gewesen sein. Es gibt schließlich auch das Genre "Lesedrama". Dem gehört das Hohelied nun definitiv nicht an. Es gibt keine Regieanweisungen. Dadurch ist oft völlig unklar, wer spricht. "Wende dich um,/ wende dich um,/ o Schulamit,/ wende dich um,/ wende dich um,/ auf dass wir dich anschauen./ Was schaut ihr die Schulamit an wie beim Tanz der zwei Lager?/ Wie schön deine Füße in den Sandalen gewesen sind,/ Tochter eines Edlen!"

Ist das "Was schaut ihr die Schulamit an wie beim Tanz der zwei Lager?" ein empörter Zwischenruf und danach spricht der erste weiter? Was aber ist der Tanz der zwei Lager? Jede dieser Fragen behandelt Matthias Hopf und er berichtet, wie andere die Stelle interpretiert haben. Bei den zwei Lagern handelt es sich möglicherweise um einen sexuell anzüglichen Contre-Tanz. Es geht dann weiter mit: "Die Biegungen deiner Hüften sind wie Geschmeide,/ Werk der Hände eines Künstlers,/ Dein Schoß ist eine runde Schale,/ es möge nicht an Mischtrank mangeln!/ Dein Bauch ist ein Weizenhaufen,/ umsäumt von Lilien./ Deine zwei Brüste sind wie zwei Kitze, Gazellenzwillinge./ Dein Hals ist wie der Elfenbeinturm…" usw. Ich weiß, wie ich als Schüler mich erregte bei dem Gedanken, dass die Brüste sind wie zwei Kitze. Bis ich mich fragte, wie sie denn seien, wenn sie wie zwei Kitze seien. Das war nicht das tiefe Dekolletee von Sofia Loren, die in meiner Jugend in meiner Umgebung als die schönbusigste Frau der Welt galt. Das wären doch eher die leicht zitternden von Audrey Hepburn gewesen. Dachte ich ein paar Jahre später. Das sind Fragen, die Matthias Hopf nicht stellt. Aber das "der", über das ich stolperte in "Dein Hals ist wie der Elfenbeinturm", das erklärt er mir. Es sei möglicherweise ein ganz bestimmter Elfenbeinbeinturm gemeint.

Die umfangreichste Fußnote dieses Abschnitts ist dem "Schoß" gewidmet. Im rabbinischen Hebräisch, meine das Wort eher den Nabel, schreibt Hopf. Aber schon andere vor ihm haben aufgrund des Kontextes die Stelle mit "Scham" oder "Schoß" übersetzt. Er weist auch auf differierende Interpretationen hin. Zum Beispiel die "runde" Schale. Das Wort, das hier mit "runde" wiedergegeben wird, könne auch "Mond" bedeuten. Hopf merkt an: "wobei sich natürlich die Frage anschließt, welche Mondphase gemeint sein könnte. Bedenkt man, dass die Mondsichel in den Breitengraden Israels stark liegend ist, könnte das zusätzlich für die Deutung des hebräischen Wortes als "Scham" sprechen, da die, die Schambehaarung entfernt, einer etwas volleren Mondsichel ähnelt." Das hebräische Wort, das er mit "Mischtrank" übersetzt, erklärt Hopf, sei ein hapax legomenon, also ein Ausdruck, der nur an einer einzigen Stelle vorkommt. Man kann also nicht mit Sicherheit sagen, was gemeint ist. Hopf schließt sich denen an, die den "Mischtrank" als Vaginalsekret identifizieren. Luther übersetzte die Stelle so: "Dein Nabel ist wie ein runder Becher / dem nimer getrenck mangelt." Es lebe die Wissenschaft! Was die Aufführbarkeit angeht, darüber werden Regisseure, Schauspieler, Dramaturgen und das Publikum entscheiden.

Matthias Hopf: Liebesszenen - Eine literaturwissenschaftliche Studie zum Hohenlied als einem dramatisch-performativem Text, TVZ (Theologischer Verlag Zürich) 2016, 416 Seiten, 76 Euro.