Vom Nachttisch geräumt

Durch die Ideen wie durch Länder

Von Arno Widmann
27.02.2017. Ernährt sich von Pantherfüßen: Francis Picabia in seinen gesammelte Schriften "Lasst den Zufall überquellen".
"Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann" ist wohl der bekannteste Aphorismus des französischen Malers und Schriftstellers Francis Picabia (1879-1953). Er ist zu einem beliebten Postkartenspruch geworden. Aber natürlich ist er Quatsch. Unser Denken kann die Richtung ändern und wir haben runde Köpfe. Das "damit" ist gelogen. Aber es schafft erst den Aphorismus. Der Satz leuchtet ein, weil er nicht stimmt. Dieser Satz verfährt genauso. Das "weil" sagt: schaut her, wie schön paradox ich bin. Den gleichen Zweck erfüllt das "damit" in Picabias Satz. Es sagt weniger etwas aus, als dass es auf etwas hinweist. Sprache spielt sich immer auf mehreren Ebenen ab. Manchmal erreicht man einen riesigen Effekt, wenn man damit ein wenig spielt.

Francis Picabia, blablablaFrancis Picabia, Udnie (Jeune fille américaine; danse) 1913
Es kommt immer wieder vor, dass das Publikum die Sache aber ganz ernst nimmt. In der Darstellung der Evolution zum Beispiel hat das "damit" eine verhängnisvolle Rolle gespielt. Bestimmte Vögel haben eben nicht einen langen Schnabel, um tief in den Blütenkelch einer Blume hineinreichen zu können. Sondern sie können es, weil sie ihn haben. Der Schnabel passt sich nicht dem Kelch an. Genau so kann unser Denken die Richtung ändern, aber nicht etwa, weil unser Kopf rund ist. Es wird wohl auch unter Spitzköpfen oder Flachschädeln Denker geben.

Francis Picabia, blablablaFrancis Picabia. Égoïsme (Selfishness). 1947-48/c. 1950. Museum Boijmans Van Beuningen
Naja, lassen wir das. Es soll bei diesem Hinweis ja um die Gesammelten Schriften von Francis Picabia gehen, die vom Verlag Nautilus unter dem Titel "Lasst den Zufall überquellen" wieder vorgelegt wurden. Nur zuvor noch eine Erinnerung an die Ausstellung "Francis Picabia - Unser Kopf ist rund, damit das Denken die Richtung ändern kann". Sie war bis zum September im Kunsthaus Zürich und ist jetzt noch bis zum 19. März im New Yorker Museum of Modern Art zu sehen. Der Katalog, herausgegeben von Cathérine Hug und Anne Umland, ist im Berliner Hatje Cantz Verlag erschienen: 368 Seiten, 461 Abbildungen, 55 Euro. Über diese und andere Dada-Ausstellungen gibt es zwei sehr interessante Aufsätze. Beide in der New York Review of Books. Der eine stammt von Alfred Brendel. Der Pianist, Essayist, Dichter und Erzähler veröffentlichte seine Betrachtung über eine Reihe damals aktueller Dada-Ausstellungen in der Ausgabe vom 27. Oktober 2016 unter dem Titel "The growing Charme of Dada". Sanford Schwartz schreibt über die New Yorker Ausstellung über "Picabia's Big Moment" in der mit dem 23. Februar 2017 datierten Ausgabe der Zeitschrift. Beide sprechen von der überraschenden Aktualität dieser Kunst. Schwartz zitiert aus dem Katalog den Künstler David Salle, der erklärte, bei Picabia sei völlig unklar, wie seine Kunst zu verstehen, ja ob sie überhaupt ernst zu nehmen sei.

Francis Picabia, blablablaFrancis Picabia. Portrait d'un docteur (Portrait of a Doctor). 1935/c. 1938. © Tate London
Picabia antwortet auf die allgemeine Verunsicherung nicht mit einem Ruf nach Ordnung, nicht mit der Besinnung auf alte - malerische, literarische, denkerische - Tugenden. Er führt vor, dass sich mit diesen Verunsicherungen spielen lässt. Es gibt Alternativen zur Angst. Das Unberechenbare mag schlimm sein, aber womöglich ist das Berechenbare noch schlimmer. Realist ist nur, wer die Unübersichtlichkeit sieht. Zu der gehört auch, dass man nicht recht unterscheiden kann zwischen der Gefahr und dem Rettenden. 1921 schrieb Picabia: "Dada, sehen Sie, war nicht ernst, deswegen hat es wie ein Lauffeuer die Welt für sich gewonnen; und wenn einige es nun ernst nehmen, dann deswegen, weil es tot ist! Viele Leute werden mich einen Mörder schelten - und zwar die Tauben und die Kurzsichtigen! Übrigens gibt es keine Mörder; sind Tuberkulose und Typhus Mörder? Sind wir für das Leben verantwortlich? Dann gäbe es meiner Meinung nach nur einen Mörder und zwar denjenigen, der die Welt geschaffen hat. Da aber niemand die Welt geschaffen hat, gibt es also keinen Mörder und Dada wird immer leben!"

Francis Picabia, blablablaFrancis Picabia, Parade amoureuse, 1917
Eine sehr schöne Sequenz. Nicht, weil "weil" weil bedeutet und "da" da, sondern weil der Leser den Trieb und das Tempo, mit dem der Schreiber ihm folgt, wahrnimmt. Die Logik steht da, um die Irlogik des Gedankenganges deutlich zu machen. Gleich danach dekretiert Francis Picabia - ganz ohne Weils und Das: "Man muss ein Nomade sein, durch die Ideen wie durch Länder und Städte gehen, Sittiche und Kolibris essen, lebende Pinseläffchen verschlingen, Giraffen das Blut aussaugen und sich von Pantherfüßen ernähren! Man muss mit Möwen schlafen, mit einer Boa tanzen, mit Heliotropen Liebe machen und seine Füße in Zinnober waschen!"

Francis Picabia, blablablaFrancis Picabia. Les Amoureux (Après la pluie) (The Lovers [After the Rain]). 1925. Musée d'Art moderne de la Ville de Paris
Man muss natürlich überhaupt nicht. Und schon gar nicht mit Heliotropen, mit Pflanzen also, die sich ganz darauf konzentrieren, sich niemand als der Sonne zuzuwenden. Picabia kannte den Kunstbetrieb, die Rasanz, mit der die eine die andere Mode ablöste, also wusste er: "Das Publikum hat es nötig, in seltenen Stellungen vergewaltigt zu werden." Der alt gewordene Picabia, dessen Blick auf die Welt sich ganz auf die eigenen bitteren Erfahrungen verengt hatte, notierte: "Ich fürchte, dass sehr junge Frauen skeptischer als alle Männer sind."

Francis Picabia: Lasst den Zufall überquellen - Gesammelte Schriften, aus dem Französischen übersetzt von Pierre Gallissaires und Hanna Mittelstädt, mit einem Vorwort von Margrit Brehm, Nautilus, Hamburg 2016, 304 Seiten, 25 s/w Abbildungen, 39,90 Euro.