Vom Nachttisch geräumt

Bevor die Musik ihren Zauber entfaltet

Von Arno Widmann
27.02.2017. Hat seine ganz eigene Magie: John Eliot Gardiners Bach-Biografie.
Ein Jahrhundertbuch. Das ist klar, bevor man auch nur einen Blick hinein geworfen hat. Der Dirigent John Eliot Gardiner, geboren 1943 in Fontmell, Dorset, hat so viel von Bach eingespielt wie kaum jemand sonst. Er legt eine Biografie des Komponisten vor. Etwas Vergleichbares gibt es von keinem Dirigenten. Gardiners Bachbuch ist ein monumentales Porträt. Die deutsche Ausgabe hat über 700 Seiten. Man braucht Monate, um das Buch zu lesen. Nein, sagen Sie, mit den 700 Seiten könnte jemand, der sonst nicht viel zu tun hat, in einer Woche fertig werden. Aber das wäre ja weniger als der halbe Reiz des Buches. Interessant wird doch erst die Möglichkeit, zum Beispiel nicht nur die klugen, detailfreudigen Seiten über die Johannespassion zu lesen, sondern auch die Einspielungen, die Gardiner davon gemacht hat, zu hören und sich zu überlegen, wo er was wie herausgearbeitet hat. Monate würden nicht langen für diese Arbeit, die ein großes Vergnügen, eine den Verstand erhellende, eine aufklärerische Tätigkeit wäre. Man käme ein wenig dahinter, wie Wissen und Kunst sich zu einander verhalten, wie Klugheit und Einbildungskraft, wie Training und Fantasie. Nicht nur bei Gardiner, sondern auch bei Johann Sebastian Bach. Wenn man dann gar noch Gardiners Interpretation zum Beispiel mit der von Karl Richter oder Nicolaus Harnoncourt - von allen gibt es Einspielungen kostenlos auf Youtube - vergleichen möchte, weil man weiß, vergleichen erst hilft der Einsicht auf die Sprünge, dann werden aus den Monaten leicht Jahre. Man gibt auf.



So erging es mir. Schon aufgrund meiner Ahnungslosigkeit. So habe ich diesen Hinweis nicht noch vor Weihnachten schreiben können. Ich kann ihn auch jetzt noch nicht so schreiben, wie ich wollte. Ich muss so schreiben, wie ich es kann. Viel zu oberflächlich, viel zu dumm.

Jede Zeile dieses Buches ist eine Lust zu lesen. Verstand und Gefühl, Begeisterung und Analyse verbinden sich wie selten in einem Text. Bleiben wir bei der Johannespassion. Gardiner schreibt: "Die Lichter im Saal verlöschen, der Dirigent betritt den Orchestergraben, die Musiker warten auf den ersten Einsatz. In der Luft liegt jene einzigartige Spannung, die man nur in einem abgedunkelten Opernhaus antrifft, bevor die Musik ihren Zauber entfaltet und die dramatische Handlung ihren Lauf nimmt. Ich kenne keine Opernouvertüre aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in der die Stimmung der Ouvertüren zu 'Idomeneo' oder zu 'Don Giovanni' besser vorweggenommen würde als im Eingangssatz von Bachs 'Johannespassion'; ebenso wenig gibt es einen direkteren Vorfahren von Beethovens drei Leonoren-Ouvertüren." Das hat doch nichts mit Bach zu tun! rufen die Puristen empört. Bach saß nicht im Orchestergraben, sondern in der Kirche. Kein Licht ging aus. Alles trug sich in jedem Augenblick vor aller Augen ab.



Gardiner weiß das natürlich auch, und er beschreibt es uns auch. Aber er macht uns auch klar, dass Bach nicht allein verstanden werden kann als ein Produkt der Welt, aus der er kam, in der er lebte, sondern begriffen werden muss auch von der Zukunft her, in die er führte. Gardiner beschreibt sehr genau, wie Bach sein Musikdrama entwickelt, wie er aber gleichzeitig niemals wirklich hinüberwechselt in die Oper. "Gut möglich, dass diese einzigartige Verquickung von Musik, Exegese und Dramatik das ursprüngliche, bibelfeste Publikum ebenso verblüffte, wie sie über die Köpfe vieler heutiger, mit der Bibel oft wenig vertrauter Konzertbesucher wohl hinwegrauscht; und doch können auch Letztere sich ihrem Bann nicht entziehen." Gardiners Buch ist ganz wesentlich auch ein Versuch, sich darüber klar zu werden, wie Bachs Kunst, die aus sehr speziellen religiösen und musikalischen Voraussetzungen hervorging, so etwas wie "Weltmusik" werden konnte.



Für die Generation der Großeltern der Leser dieser Hinweise war Karl Richters Einspielung das Modell, so hatte es zu sein. Wer mit von Gardiners gerade zitiertem Text gespitzten Ohren Richter hört, der hört das Opernhafte deutlicher als bei Gardiner selbst, der ja davon gerade weg wollte. Aber er wollte nicht weg, um es nicht mehr spüren zu lassen. Sondern es sollte durchscheinen, nicht die eigentliche Botschaft sein. Bei Richter aber ist die Überwältigung das Ziel der Performance. Das ist seit der Wiederentdeckung der Alten Musik anders geworden. Der Zuhörer ist involviert in das Drama. Aber er ist Akteur darin, nicht Opfer. Das hat, Gardiner erinnert daran, mit dem Charakter des lutherischen Gottesdienstes zu tun. Er ist keine Schauveranstaltung, sondern eine gemeinsame Handlung. Publikum und Chor und Orchester sind nicht eins, aber sie sind alle Akteure. Verbunden im Gottesdienst. In dem mitgedacht wird.

Dieser kleine Hinweis möge genügen, Sie in die Buchhandlung eilen zu lassen und eines der klügsten und schönsten Bücher des Jahres 2016 - die Originalausgabe erschien schon 2013 -zu kaufen. Lesen Sie es! Oder lesen Sie mindestens darin. Tun Sie es, bevor die Musik ihren Zauber entfaltet. Und danach. Das Buch, werden Sie merken, hat seine eigene Magie.

John Eliot Gardiner: Bach - Musik für die Himmelsburg, aus dem Englischen von Richard Barth, Carl Hanser Verlag, München 2016, 735 Seiten, zahlreiche s/w und farbige Abbildungen, 34 Euro.