Vom Nachttisch geräumt

Ein grünes Europa

Von Arno Widmann
03.06.2015. Heinrich Böll Stiftung: Grünes Gedächtnis 2013. Ein Blick zurück mit Milan Horacek in die Zeiten des Kalten Krieges.
104 Seiten hat die Broschüre. Sie ist das 2014 erschienene 2013-Jahrbuch des Archivs Grünes Gedächtnis, berichtet über die Aktivitäten der Institution - zum Beispiel über eine Tagung zur Frage der Archivierung elektronischer Publikationen in Bibliotheken-, stellt Dokumente zur Verfügung wie Erklärungen der Grünen von 1981 zum Kriegsrecht in Polen oder Fotos, die 1975 in Wyhl, beim Kampf gegen den Bau des Atomkraftwerks, gemacht wurden. Am Anfang des Heftes steht ein Interview mit Milan Horáček, geboren 1946 in Velké Losiny in Nordmähren. Milan Horáček war Mitbegründer der Grünen, Stadtverordneter der Partei in Frankfurt, Mitglied des Bundestages und des Europaparlamentes. Vor all dem aber war er als Kind eines mährischen Vaters und einer deutschen Mutter in der Tschechoslowakei aufgewachsen, wo er Elektromonteur lernte und sich als Drummer in einer Beatgruppe vergnügte. Heute weiß er, dass ihn damals schon die tschechoslowakische Stasi beobachtete. Statt des normalen Militärdienstes kam er in ein Strafbataillon. Er war eine Art Bausoldat. Zusammen mit anderen politisch Verdächtigen, aber auch mit Mördern und Schwerverbrechern. "Meine Universitäten" hat Maxim Gorki den entsprechenden Band seiner Lebensgeschichte überschrieben.

Dann kam 1968: die Hoffnung und die Flucht. Horáček kam nach Frankfurt, ging hier noch auf eine richtige Universität und half nebenbei - oder auch in der Hauptsache - den Kampf im Exil zu organisieren. Gleichzeitig tauchte er ein in die Frankfurter Sponti-Szene. Ich mag diese Lebensgeschichte jetzt hier nicht nacherzählen. Es sind zwanzig Seiten in der Broschüre, es müssten zweihundert Seiten sein und ein Buch. Milan Horáček war ein Stachel im Fleisch der westlichen Linken. Zu seiner Freiheitserfahrung gehörte der Kampf mit einem sich sozialistisch nennenden System. Die USA waren nicht sein natürlicher Feind. Sein natürlicher Feind war die Sowjetunion. Horáčeks Freunde saßen in sozialistischen Gefängnissen und hofften darauf, dass westliche Medien und westliche Regierungen sich für ihre Freilassungen einsetzten. Das war ein völlig anderer Blick auf die Welt als der vom Protest gegen den Vietnamkrieg der USA zum Anti-Atom-Kampf gleitende seiner westlichen Freunde.

Milan Horáček erinnerte seine Freunde immer wieder daran, dass es keinen Grund gab, der Sowjetunion, den sozialistischen Regimen freundlicher gesonnen zu sein als anderen Diktaturen in der Welt. Das war für ihn eine politische Frage, eine Frage auch der Klarheit im Kopf. Vor allem aber war es die Grunderfahrung seines Lebens, ein Stück Geschichte, aus der er auf keinen Fall hinaustreten wollte. Das machte sein Leben nicht leichter. Er war immer wieder der als naiv Belächelte. In Wahrheit freilich war ihm die Komplexität der Situation einer wirklichen, einer freiheitssehnsüchtigen Linken im Westeuropa des Kalten Krieges klarer als den meisten seiner grünen Mitkämpfer. Zur Einsicht in die Komplexität der Situation gehörte auch, dass für ihn, anders als lange Zeit für seinen Freund Rudi Dutschke, eine neu zu gründende linke Partei nicht nur links sein durfte. Die Grünen mögen ein Produkt der Alternativbewegung gewesen sein. Sie waren auch das Projekt sehr unterschiedlicher Linker, die die neue Partei als ein Boot ansahen, das sie nur kapern müssten, um endlich den Erfolg zu haben, den sie mit ihren bisherigen Organisationen nicht hatten.

Viele von ihnen änderten dann nicht die Grünen, sondern wurden von den Grünen geändert. Dabei spielte Milan Horáček und sein hartnäckiger Kampf gegen die Regime in Osteuropa eine wichtige - gleichwohl gerne übersehene - Rolle. Ein wenig erahnen kann man davon in dem hier abgedruckten Gespräch mit ihm. Ein grünes Europa - darunter versteht man heute ein Europa, das weiß, dass es sich ökologisch definieren muss, um überleben zu können. Ein grünes Europa - das hieß aber auch einmal: ein Europa, das mitarbeiten muss am Umsturz der Diktaturen in Mittel- und Osteuropa. Grünes Europa war auch ein politisches Projekt, das versuchte, über den Kalten Krieg hinaus zu denken. Zum Grünen Gedächtnis gehört die Erinnerung daran, wie auch das Wissen darum, dass die Zeiten sich gewaltig geändert haben. Ein klitzekleinwenig auch Dank der Anstrengungen der viel zu wenigen Männer und Frauen wie Milan Horáček.

Heinrich Böll Stiftung: Grünes Gedächtnis 2013, Heinrich Böll Stiftung, Berlin 2014, 104 Seiten, als PDF kostenlos abrufbar.
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