Vom Nachttisch geräumt

Eine asthmatische Hornisse

Von Arno Widmann
03.06.2015. Auch eine Geschichte vom Wahr-Lügen - lange nach Louis Aragon: Nino Vetris "Mamas wunderbares Herz"
Bevor Andreas Rostek im Jahre 2007 seinen Verlag edition.fotoTAPETA gründete, fragte er mich, was ich von seiner idee hielte. Ich erschrak. Ich mochte Andreas und sah ihn in den Untergang gehen. In einem schrumpfenden Buchmarkt, ohne jede Erfahrung mit dem Machen von Büchern, mit dem Buchhandel, ja ohne jede Unternehmererfahrung, einen Verlag zu gründen, erschien mir eine Selbstmordaktion. Ich sagte ihm das. Zwei Stunden lang. Als dann die ersten Bücher kamen, schöne, interessante Bücher, freute ich mich.

Aber als ich vergangenes Wochenende Nino Vetris Erzählung "Seid nett zu Mama und sprecht nicht mit Kommunisten" las, war ich glücklich, dass Andreas Rostek sich nicht um meinen gut gemeinten, miserablen Rat gekümmert hatte. Von dem 1964 in Palermo geborenen Nino Vetri hat Andreas Rostek jetzt schon drei Bücher herausgebracht. Ich bin ihm dankbar für die Entdeckung dieses Autors für ein deutsches Publikum. Er hat Vetris Bücher ja nicht nur verlegt, er hat sie auch hervorragend übersetzt. Es wird keinen Leser geben, den Vetris Erzählungen - die genannte ist die erste in dem Band "Mamas wunderbares Herz" - nicht glücklich machen. Sie sind genau und doch zart. Er zeigt uns, wie ein Kind die Welt sieht, und er zeigt uns darin den Autor, der uns zeigt, wie ein Kind die Welt sieht. Er ist heiter dabei und weise, ohne auch nur einen Halbsatz lang überheblich zu sein. Der Leser schaut nicht nur der Geschichte zu, die Vetri erzählt. Er hört auch sehr genau auf das Wie dieser Erzählung.

Die Geschichte, deren Loblied ich hier zu singen versuche, schildert aus der Sicht eines Neunjährigen das gerade erst entstehende Neubauviertel Michelangelo. Die Familie wird dort eine Wohnung beziehen. Noch stehen aber nichts als Rohbauten. Dächer und Wände fehlen. Dennoch geht die Familie jeden Morgen auf die meist stille Baustelle, setzt sich dorthin, wo einmal die Küche sein wird, und frühstückt. Mittags essen sie im Wohnzimmer. Wie sie tun es in den benachbarten Häusern auch andere Familien. "Es gab absolut keinen Verkehr. In den anderen Straßen der Stadt stauten sich schon die Autos, aber im Michelangelo kam nie jemand vorbei. Ab und zu hörte man das Dröhnen eines Motordreirades. Es hörte sich an wie eine große Hornisse. Wenn"s dann auch noch stickig war, hörte es sich noch lauter an, langsamer, keuchend. Als hätte sie Asthma."

Ich mag diese Stelle besonders. Ich höre das Motorrad. Ich höre es, weil der Erzähler sich Zeit lässt. Erst das Grundgeräusch. Dann eine Spezifikation, eine Differenzierung, die mich mitnimmt in diesen wandlosen Neubau und ich höre von dort aus das Motordreirad mal bei dieser, mal bei jener Wetterlage. Es sind drei Zeilen, aber ich bin Monate mit in dem Quartiere Michelangelo. Sehr schön ist auch, dass es dem Jungen gelingt, mit seinen Geschichten den Zorn seines Vaters zu besänftigen und wie hilflos der ist, als sich herausstellt, dass manche dieser Geschichten einfach die Wahrheit waren. Ich bewundere diesen mir unbekannten Autor. Und ich bewundere den Verleger, der wider alle Vernunft das Vernüftige tat und diesen Verlag gründete, um Bücher wie dieses zu verlegen. Es gibt nichts Gutes, es sei denn, man tut es.

Nino Vetri: Mamas wunderbares Herz - Geschichten aus Palermo, edition.fotoTAPETA, Berlin 2015, aus dem Italienischen von Andreas Rostek, 117 Seiten, 14,80 Euro.
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