Vom Nachttisch geräumt

Die Straße ist die Story

Von Arno Widmann
19.03.2018. Nationbuilding und ihre Medien: "Die neunundsechzig Stationen des Kisokaido", ein Meisterwerk der japanischen Holzschnitzkunst von Utagawa Hiroshige und Keisai Eisen.
Utagawa Hiroshige (1797-1858) gehörte zu den großen Meistern des japanischen Farbholzschnitts. Das war eine erste Massenkunst des Neuen Japan. Die mit der Industrialisierung Japans entstehende neue Mittelschicht fand hier eine erschwingliche Kunst, die ihr ihre neue Welt zeigte. Nicht in großen Einzelgemälden, sondern in umfangreichen Bildfolgen, die in gebundenen Alben verkauft wurden. Hiroshige zum Beispiel hat unter anderem "28 Ansichten des Mondes", "Berühmte Ansichten (21) der Osthauptstadt", "Die 53 Stationen des Tokaido" und sein Vermächtnis "100 berühmte Ansichten von Edo" gemalt. Manche Serien entstanden in Zusammenarbeit mit anderen Künstlern. So zum Beispiel auch die vergangenes Jahr bei Taschen erschienenen "69 Stationen des Kisokaido", die Utagawa Hiroshige zusammen mit Keisai Eisen (1790-1848) im Jahre 1843 vorlegte.

Tokaido und Kisokaido waren Straßen, die im frühen 17. Jahrhundert erbaut worden waren, um Japan von der damals neuen Hauptstadt Edo (Tokio) aus zu erschließen. Natürlich auch, um auch umgekehrt die Schätze des Landes in die Hauptstadt zu bringen. Die Kisokaido-Straße führte von Edo bis Kyoto über neun Gebirgspässe, von denen sechs mehr als 1000 Meter über dem Meeresspiegel lagen. Wer den Band durchblättert, liest ihn vielleicht sogar richtig. Jedenfalls stellt sich der Eindruck eines Road Movies ein. Allerdings eines, das auf eine Story verzichtet. Die Straße selbst ist die Story. Nicht ihre Entstehung, sondern ihre Nutzung.



Es geht wie in den amerikanischen oder auch in den indischen Road Movies darum, den Menschen zu zeigen, wie unterschiedlich die Landschaften, die Städte, die Menschen ihres großen Reiches sind. Hier wird so etwas wie eine nationale Identität hergestellt. Ästhetik scheint bei diesem Unternehmen eine riesige Rolle zu spielen. Man denke an die deutsche Entwicklung, überhaupt an die Rolle der Historienmalerei bei der Herausbildung des europäischen Nationalismus im 19. Jahrhundert. So wird man elektrisiert auf die Bilder von Eisen und Hiroshige blicken.

Man betrachte Eisens Blick vom Shiojiri-Pass über den gefrorenen Suwa-See auf die Burg Takashima und den in weiter Ferne aufragenden Fuji. Es ist ein erhabenes Bild, und ein Reiter und ein Knabe stehen in seinem Vordergrund und betrachten es mit uns. Wir wissen alle, wie sehr der europäische Impressionismus auch ein Kind des Japonismus war, aber angesichts dieses Bildes der Station Shiojiri wünsche ich mir eine Arbeit, die mir erklärt, was die Japaner von den europäischen Traditionen kannten und wie sie ihr Wissen nutzten. Die Kommunikation ging wohl schon lange in beide Richtungen. Wohl nur selten auf so gut gebahnten Wegen wie denen der von Hiroshige gezeichneten Verkehrsverbindungen innerhalb Japans. Betrachtet man die im Anhang des Buches gezeigte Ansicht von Shiojiri, wie Akisato Rito sie 1805 gezeichnet hatte, dann wird die "Modernität" Eisens noch deutlicher. Alles rückt näher. Bei Akisato Rito geht es um die Darstellung einer sich wie ins Unendliche weitenden Landschaft. Hier dagegen werden ein Ziel und der Weg dorthin fixiert. Die Zentralperspektive organisiert den Blick und bahnt den Weg.



Es ist auffällig, wie der in Japan sich herausbildende Nationalstaat zu ganz ähnlichen Bildstrategien greift wie die europäischen Staaten es taten. Die Entdeckung der Landschaft gehört dazu. Sie soll nicht mehr nur wirtschaftlich verwertet, sondern auch ästhetisch genossen werden. Zu einem richtigen Reiseweg gehören auch Herbergen und Bordelle. Das war in Europa nicht anders. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der in dieser Serie auch fünf Prostituierte um Kunden werben, wird man im gleichzeitigen Europa vergeblich suchen. 1835 hatten dort noch die Nazarener das sagen. Aber man ist doch sehr verblüfft, bei der Station Kano in den Erläuterungen zu lesen: "Das 1635 eingeführte System der 'wechselnden Anwesenheit' verpflichtete die Provinzfürsten, jedes zweite Jahr oder mehrere Monate eines Jahres in Edo zu verbringen, bevor sie in ihre jeweiligen Lehen zurückkehren durften. Die daimyo-Prozessionen, die in die Hauptstadt zogen oder sie verließen, entwickelten sich zu aufwendigen, paradeähnlichen Spektakeln mit Hunderten oder gar Tausenden von uniformierten Gefolgsleuten zu Pferd oder zu Fuß…" Ganz ähnlich und aus exakt den gleichen Gründen zwang ein paar Jahre später Ludwig XIV. nach der Niederschlagung der Fronde die Granden Frankreichs zur Anwesenheit bei Hofe.



Hiroshige war auf dem Kisokaido unterwegs. Es sind Skizzenbücher überliefert. Aber man darf sich jedes seiner Bilder nicht als akribische Übertragung genauer Beobachtungen vor Ort vorstellen. Dazu hatte Hiroshige oft keine Zeit. "Seine gesamte Holzschnittproduktion beläuft sich auf mehr als 4500 Druckvorlagen sowie Illustrationen für fast 150 Bücher. Hinzu kommen mehrere hundert Gemälde, darunter 200 Auftragsarbeiten für die Fürsten des Oda-Clans in der Provinz Tendo", schreibt Andreas Marks in seiner Einleitung. Er weist auch auf das Geschick hin, mit dem Hiroshige Arbeiten anderer Künstler in seine eigenen Kompositionen einzubeziehen verstand. Man darf wohl keinen gar zu strengen Maßstab, was die "Authentizität" angeht, anlegen. Es ging häufig wohl mehr darum, die anderswo gefundenen, den Betrachtern vertrauten Motive in eine eigene überraschende, oft vielleicht auch nicht gar zu überraschende Komposition einzufügen.

Der prächtige Taschenband zeigt auch Varianten der drei verschiedenen Ausgaben, die von den "Neunundsechzig Stationen des Kisokaido" erschienen. Jeder der drei Verleger achtete sehr darauf, dass seine Ausgabe sich von den vorangegangenen unterschied. Dabei wurden auch mal die Siegel des Vorverlegers entfernt. Sodass nur noch das eigene zu sehen war. Eisens Name wurde nur in der Erstausgabe genannt.

Hiroshige & Eisen. Die neunundsechzig Stationen des Kisokaido, herausgegeben von Andreas Marks und Rhiannon Paget, Taschen Verlag, Japanische Bindung in einer Box, in Leinen gebunden, 44 x 30 cm, 234 Seiten, in einem Karton mit Tragegriff, 100 Euro.