Vom Nachttisch geräumt

Der Petersdom von Jena

Von Arno Widmann
08.12.2017. Führt uns auf den ozeanischen Urgrund: Die Kunst und Wissenschaft des Biologen und Zeichners Ernst Haeckel.
Im Mai 1860, ein halbes Jahr nach Erscheinen von Darwins "On the origins of species", las Ernst Haeckel die deutsche Übersetzung. Er wurde der erfolgreichste Darwinschüler. Seine Welträtsel von 1899 wurden in 30 Sprachen übersetzt. Haeckel machte aus dem Darwinismus eine Weltanschauung. 1859 wanderte er mit einem Malerfreund durch Süditalien und begeisterte sich so sehr, dass er überlegte, Landschaftsmaler zu werden. Stattdessen wurde er einer der bedeutendsten Zoologen der Zeit und wohl einer der besten Zeichner von Tieren und Pflanzen, vor allem kleiner Meereslebewesen. Seine "Generelle Morphologie" war, obwohl zunächst wenig gelesen, ein epochales Werk. Sie war der Versuch, die verschiedenen Lebensformen in einen evolutionären Zusammenhang zu stellen. Rainer Willmann weist in seiner knappen Einleitung darauf hin, dass und warum Haeckel das noch nicht ganz glückte. Zu Haeckels Grundüberzeugungen gehörte, dass die Ontogenese, also die Entwicklung eines jeden Individuums, die Phylogenese, also die Stammesgeschichte, wiederhole. Willmann erinnert auch daran, dass er die Idee, einen Stammbaum des Lebens zu entwerfen, von seinem Freund August Schleicher übernahm, der, ebenfalls dem Evolutionsgedanken Darwins folgend, einen Stammbaum der indogermanischen Sprachen gezeichnet hatte.

Willmann nimmt den Haeckel-Leser mehr als den Haeckel-Betrachter bei der Hand und erläutert ihm, wo die heutige Forschung anders auf die Naturerscheinungen blickt als Haeckel es tat. Wichtig ist zum Beispiel der Art-Begriff. Zu Haeckels Zeiten galt das "merkmalsbezogene" Artkonzept. Eine Art wurde aufgrund gemeinsamer Merkmale definiert. Die Merkmale waren Geschmackssache. Für Haeckel zum Beispiel gehörte der Eskimo einer anderen Art an als der Europäer. Die Evolutionstheorie hatte also einerseits der Spezies Homo ihre Einzigkeit genommen, sie eingebettet ins Tierreich. Andererseits aber wurden die Artschranken nicht evolutionär, sexuell, biologisch verstanden, sondern folgten noch überkommenen Klassifikationssystemen. So gingen Evolution und Rassismus zusammen. Eine verhängnisvolle, das nächste Jahrhundert tief prägende Entwicklung.

Haeckel selbst schrieb 1915 angesichts der Toten des Ersten Weltkriegs: "Uns Deutsche treffen diese schmerzlichen Verluste ganz besonders hart; denn bei uns wie bei unseren österreichischen Bundesgenossen ist die geistige Bildungshöhe und damit der persönliche Lebenswert im Durchschnitt weit größer als bei unseren Gegnern, welche ihr Riesenheer zum größten Teil aus ungebildeten Menschen niederer Klassen zusammensetzen, aus gekauften Söldnern und aus farbigen Angehörigen wilder und halbwilder Rassen, die sie aus allen Erdteilen zusammengeworben haben! Ein einziger deutscher Krieger hat einen höheren intellektuellen und moralischen Lebenswert als hunderte von den rohen Naturmenschen." So schrieb Haeckel, der 1910 noch einen "Aufruf zur Begründung eines Verbands für internationale Verständigung" unterzeichnet und 1913 zusammen mit der französischen Sozialistin Henriette Meyer die Friedensvereinigung "L'Institut Franco-Allemand de la Réconciliation" gegründet hatte. Auch die Ontogenese Ernst Haeckels folgte der Phylogenese des Stammes der Deutschen.


Ernst Haeckel, Actiniae (Ausschnitt)

Die 1974 geborene Julia Voss ist Kunsthistorikerin und Honorarprofessorin an der Universität Lüneburg. Sie trägt zu dem Buch das Kapitel "Ernst Haeckel und die Evolution der modernen Kunst" bei. Hier geht es also nicht um die politischen Folgen von Haeckels Verständnis der Evolutionstheorie, sondern um die ästhetische Wirkung jener Tafelwerke, deren Essenz der Band vorstellt, also der Abbildungen von Radiolarien, Siphonophoren, Schwämmen, Korallen, Medusen usw. Dieses usw ist natürlich gänzlich unangebracht. Aber so ungerecht es ist, den prächtigen Band und ein Gutteil des Lebenswerkes von Ernst Haeckel einfach so beiseite zu schieben, so unmöglich ist es doch - wenigstens mir - in die feinen Verästelungen der Meeresbio- und -zoologie einzudringen. Ich bin froh, dass ich hier nichts machen darf, als einen kurzen Hinweis zu geben auf dieses überreiche, nahezu unerschöpfliche Buch.

Was schreibt Julia Voss?  Sie beginnt mit einer großartigen Szene: der Eröffnung des Naturkundemuseums in Jena, eine "Kirche für die Evolutionstheorie, der Petersdom von Jena". In der Eingangshalle stand eine inzwischen verschollene Statue des von Wilhelm II. sehr geschätzten deutschen Bildhauers Harro Magnussen (1861-1908), die eine sehr üppige nackte Frau zeigte. In der rechten hielt sie eine Fackel hoch, in der Linken hielt sie den Kopf eines Schimpansen. Haeckels Nachfolger schrieb darüber: "Die Wahrheit, dass der Mensch von tierischen Vorfahren abstammt, wird wie eine Fackel die Welt erleuchten."

Am Anfang steht in dem kleinen kunstvollen, dabei völlig sachlichen Roman, den Julia Voss über Ernst Haeckel schreibt, eine unglückliche Liebe. Schon achtzehn Monate nach ihrer Hochzeit stirbt im Jahre 1864 Anna Sethe, die große Liebe seines Lebens. Der dreißigjährige Witwer ist verzweifelt. Er flieht ans Mittelmeer. Dort entdeckt er in einem Gezeitentümpel eine tote Qualle. "Ihre zarten gelben Tentakel erinnerten ihn an die blonden Haare von Anna Sethe und er benannte das Geschöpf nach seiner verstorbenen Frau. Als er später von einem Kollegen eine Meduse erhielt, die ihm noch schöner erschien, gab er dieser den Namen "Desmonema annasethe." So heißen diese Scheibenquallen bis heute.


Ernst Haeckel, Desmonema Annasethe (links), Disconalia Gastroblasta (rechts)

Am schönsten ist die Anna Sethe von Tafel 8 (Desmonema) in Haeckels "Kunstformen der Natur". Julia Voss schreibt: "Haeckel hatte 'Desmonema annasethe' in blaue und goldene Rüschen gekleidet, ihren Schirm formte er gleich einer riesigen tropischen Blüte und ihre Tentakel flossen wie Haare über das gesamte Blatt. Angesichts der überwältigenden Pracht von 'Desmonema annasethe' wirken die beiden anderen Medusen wie Kammerzofen einer Prinzessin. Den wirklichen Proportionsverhältnissen entspricht das nicht." Im Begleittext schrieb Haeckel, der seit dreißig Jahren mit seiner zweiten Frau verheiratet war: "Der Speziesname dieser prachtvollen Discomeduse verewigt die Erinnerung an Anna Sethe, die hochbegabte, feinsinnige Frau, welcher der Verfasser dieses Tafelwerkes, die glücklichsten Jahre seines Lebens verdankt."

Kubin und Klimt sind nur zwei Beispiele für Künstler, die Haeckels "Kunstformen der Natur" konsultierten. Anlässlich der Pariser Weltausstellung stand an der Place de la Concorde eine "Porte Monumentale" des französischen Architekten René Binet. Er hatte die Radiolarie Clathrocanium reginae auf eine Höhe von zwanzig Metern gebracht, ihr zwei Minarette von 35 Metern an die Seiten gestellt. Das "Tor war von oben bis unten mit Glühbirnen besetzt und wurde zusätzlich mit farbigem Licht angestrahlt, ydas von Rubinrot zu Blau, Violett und Smaragdgrün wechselte. Mit dem riesenhaft vergrößerten Strahlentier kehrten die Weltausstellungsbesucher zudem symbolisch an den Anfang der Evolutionsgeschichte zurück. Die Besucher traten durch das Tor, aus dem sie vor Millionen Jahren gekommen waren, dem ozeanischen Urgrund."

Ich muss jetzt aufhören. Es ist spät in der Nacht. Ich habe noch kein Wort über die Abbildungen verloren. Dabei sind sie es, um die es geht.

The Art and Science of Ernst Haeckel, mit Texten von Rainer Willmann und Julia Voss, Taschen, Köln 2017, 704 Seiten, Englisch, Deutsch, Französisch, unzählige sw und farbige Abbildungen, 150 Euro