Magazinrundschau - Archiv

Liberties

3 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 07.12.2021 - Liberties

Der Autor und Übersetzer Benjamin Moser hat nicht nur eine gefeierte Susan-Sontag-Biografie geschrieben, er hat vor allem eine Biografie Clarice Lispectors geschrieben und mehrere ihrer Bücher übersetzt, die die brasilianische Autorin gewissermaßen auf die Karte der Weltliteratur gesetzt haben. Dass Übersetzen eine gute Sache ist, daran hatte er nie Zweifel. Bis er in einem Apartment in London auf eine Bibliothek stieß, deren Bücher ihn sofort in die Welt seiner Großeltern versetzte. Diese Welt, meint er, kennt heute kaum noch jemand. Aber kann man andere Kulturen und ihre Bücher verstehen, wenn man seine eigene Kultur nicht mehr kennt? "Es ist harmlos, schwedische Kriminalromane oder Elena Ferrante zu genießen, aber ein solcher Genuss impliziert ebenso wenig eine Vertrautheit mit der skandinavischen oder italienischen Literatur wie der Genuss mexikanischer Speisen eine Vertrautheit mit der mexikanischen Kultur bedeutet. Übersetzung ohne Kontext kann eine Form des Konsumismus, des Alibiismus, der - ich wage es zu sagen? - 'kulturellen Aneignung' sein. Das eigentliche Problem bei der 'kulturellen Aneignung' ist, dass sie nicht tief genug geht. Clarice Lispector nannte die Brasilianer 'falsche Kosmopoliten', und der Begriff erscheint uns unangenehm passend: Menschen, die ständig in Kulturen eintauchen, die sie kaum verstehen. Indem wir uns in zu viele andere Welten ausdehnen, haben wir die Tiefe unserer eigenen geopfert und uns von dem abgeschnitten, was an uns besonders und tiefgründig war. Die Übersetzung - nicht die Sache selbst, sondern die unhinterfragte Betonung ihrer Tugend - kommt mir wie ein weiteres Spießbürgertum vor, das sich als Weltoffenheit tarnt: ein weiterer Teil der Infrastruktur. Die Art und Weise, wie wir lesen, die Art und Weise, wie wir uns mit der Welt auseinandersetzen, ähnelt der Art und Weise, wie wir reisen: Reisen, die, auch wenn sie kilometermäßig weit entfernt sind, fast immer innerhalb unserer eigenen Klasse stattfanden. Wie Chesterton bemerkte, verengt das Reisen den Geist."

Magazinrundschau vom 09.11.2021 - Liberties

In einem langen, sehr nuancierten Essay denkt Richard Thompson Ford, Juraprofessor in Stanford, darüber nach, wie stark Sklaverei und Rassismus heute noch das Leben schwarzer Amerikaner bestimmen. Dass sie Folgen hatten, die noch zu spüren sind, ist klar, meint er. Aber sind sie wirklich das Grundübel von allem? Von Kapitalismus, Polizeigewalt, Armut? Ford ist das zu einfach gedacht: "Die Schrecken der Sklaverei waren reale und objektive Tatsachen. Aber die Gemeinschaft, die durch die Sklaverei definiert wurde, ist, wie alle Gemeinschaften, die durch Landkarten, Flaggen, Hymnen, Museen, politische Institutionen und militärische Macht definiert werden, eine Vorstellung. Das bedeutet nicht, dass sie unbedeutend oder phantastisch ist, sondern nur, dass sie nicht direkt als solche erfahren werden kann - sie muss aus den Fragmenten kleinerer Begegnungen, Symbole und Geschichten über bedeutende Unterschiede und Umstände über Jahrhunderte hinweg imaginativ rekonstruiert werden. Und die Phantasie kann ein unzuverlässiger Erzähler sein. Eine Darstellung der zeitgenössischen Rassenungleichheit, die sich unerbittlich auf die Sklaverei konzentriert, ist unvollständig und verzerrt. In einer solchen Darstellung, die eigentlich eine Mythologie ist, wird die Sklaverei zu einer transhistorischen Kraft, die unvermittelt nach außen dringt und allzu leicht soziale Muster zu erklären scheint, die komplexe und vielfältige Ursachen haben. Wenn das Erbe der Sklaverei die heutige Rassenunterdrückung definiert, welcher Raum bleibt dann noch für die universelleren Übel des ausbeuterischen Kapitalismus, der kastenähnlichen sozialen Hierarchie, des strafenden Moralismus und der banalen technokratischen Bösartigkeit der modernen Zivilisation, wie sie von Hannah Arendt und den Philosophen der Frankfurter Schule in Kontexten erforscht wurden, die weit von den Übeln der Sklaverei entfernt, aber von anderen unaussprechlichen Übeln durchdrungen sind?"

Magazinrundschau vom 09.02.2021 - Liberties

Die Überschreitung, das "Epater le bourgeois", die Transgression waren eine lange Zeit der Hauptgestus der Kunst. Das ging von Edouard Manet und seinem "Déjeneur sur l'herbe", der das Bürgertum erzürnte, bis zu den Performance-Künstlern gegen Ende des 20. Jahrhunderts wie Vito Acconci, der mit seiner intelligent inszenierten Masturbationskunst schockierte. Heute undenkbar, schreibt Laura Kipnis in einem elegischen, aber durchaus nicht einfach nostalgischen Essay. "Wenn in den Manet-bis-Acconci-Jahren das 'ob's dir gefällt oder nicht' der Leitsatz war, dann ist es heute der beklagte Übergriff. Transgression wurde vom Trauma als künstlerisches Konzept ersetzt: Regeln setzen statt brechen ist der ästhetische Gestus der Stunde, so ist es nun mal, es gibt kein Zurück. Neue historische Akteure haben die Bühne betreten, streben kulturelle Hegemonie an und schicken die alten ins Umerziehungslager. Die Opfer der Transgression sind die Protagonisten des Moments: die Beleidigten, Leute, die sich sehr aufregen, ihre Interventionen sind ein Trommelwirbel in den sozialen Medien, ihr Tremolo ist durchdringend. (Online-Kulturkommissar ist ein neues Karrierekonzept.)"