Im Kino
Fortgesetzte Seitwärtsbewegung
Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
21.11.2007. Mit fließender und vibrierender Kamera evoziert Cristian Mungius Palmen-Gewinner "4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage" das spätkommunistische Rumänien des Jahres 1987. Die Verfilmung von Marjane Satrapis Erfolgs-Comicroman "Persepolis" balanciert west-östliche Innen- und Außenperspektiven.
Und so verharren wir auch mit der Kamera auf minutenlangen starren Einstellungen, die aber, anders als man es von starren Einstellungen annehmen sollte, nichts stillstellen, die selbst so wenig austariert sind wie der Mann, der die Kamera trägt. Sie sind auch nicht als Tableaus komponiert, sondern unfertig, vorläufig, wie vorübergehend da hingestellt. Der Enge, der Trübnis, dem Elend, der Starre einer grauen Gesellschaft stellt Cristian Mungiu das Fließende seines Erzählens, das lebendige Zittern seiner Bilder entgegen - was mit dem falschen Authentizitätsgefuchtel des Dogma-Stils wirklich rein gar nichts zu tun hat. So kommt in der fabelhaftesten Szene des Films beides zusammen, soziale Klaustrophobie und das Ethos eines Widerstands: Otilia beim Geburtstagsfest der Mutter ihres Freundes, eingeklemmt zwischen Fremden am Tisch, aufgehalten, abgelenkt. Ein starres, aber dynamisches Bild, von Kräften des Wegwollens, Davondrängens und Nicht-Aushaltens durchzogen. Es geht nicht um die Rahmung, sondern um das fortgesetzte Blicken, das immerzu aktiv bleibt. Das Gegenteil eines analytisch stillstellenden Medusen-Blicks. Ein aktiver Blick, der aktiviert, was er zeigt, ein Blick, der belebt auch da, wo er verharrt. Dies kann nur gelingen, weil dieser Blick auf Darstellerinnen und Darsteller trifft, die diesen Modellierungen gewachsen sind. Was am Spiel insbesondere Anamaria Marincas fasziniert, ist die souveräne Aufwandslosigkeit, mit der sie sich durch die von der Kamera geschaffenen Raum-Zeit-Kontinuen bewegt.

Welche Geschichte in "4 Monate, 3 Wochen, 2 Tage" mit all den genannten Vorbehalten dann doch zu finden ist, ist dabei natürlich alles andere als egal. Gabita ist schwanger und will das Kind nicht austragen. Abtreibung ist im Rumänien des Jahrs 1987 verboten, also lässt sie sich aufs Risiko eines illegalen Abbruchs ein - mit einem ihr unbekannten Arzt, in einem schmuddeligen Hotel. Das geht erst einmal furchtbar schief. Wir sehen die Ohnmacht der Schwangeren, wir erleben die Solidarität ihrer Freundin. Der Film erspart uns explizite Bilder mancher Ereignisse. (Mungiu beweist auf diese Art einen Takt, den Ulrich Seidl in "Import/Export" nachdrücklich verweigert; eigentümlicher Weise haben sie aber beide recht.) Umso schockierender der Moment, in dem der tote Fötus zu sehen ist, als einziges Ausrufezeichen dieses sonst auf ein Vibrieren und Fließen und Gleiten setzenden Films. Darin aber, wie er dies Ausrufezeichen mit scheinbarer Seelenruhe setzt, wird die Souveränität Cristian Mungius exemplarisch sichtbar.
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Marji erweist sich jedoch als das in allen Diktaturen hochgefährdete Phänomen einer Dissidenz, die sich nicht auf den Privatwiderstand beschränken will. Nicht zuletzt deshalb schicken ihre Eltern sie zu Verwandten nach Wien, wo sich die auch hier widerborstige Jugendliche bald auf eigene Faust durchschlagen muss. Sie gewinnt Punks zu Freunden, sie verliebt sich in einen jungen Mann, der sich zu beider Überraschung rasch als schwul erweist; und sie verliebt sich ein weiteres Mal, es ist wieder der Falsche. Interessant ist, dass Satrapi in der Österreich-Darstellung justament (und mit Absicht) auf jene Klischees setzt, die sie in den Iran-Szenen und -Bildern bewusst vermeidet. In gewisser Weise kommt sie andererseits den stets das Unerwartete fordernden Erwartungen des gebildeten westlichen Publikums genau dadurch entgegen, dass sie das handelsübliche Bild des von den Mullahs regierten Landes gezielt unterläuft. Den gewohnten exotisierenden Orientalismus-Klischees gibt sie Kontra - vor allem, indem sie zeigt, wie westlicher Mainstream (von Michael Jackson bis Iron Maiden) von der Jugend in Teheran subkulturell angeeignet wird.

Comic-ästhetisch ist Satrapi auf dem avancierten Stand des französischen Avantgardeverlags "L'association", in dem "Persepolis" erschienen ist. Fluide verschiebt sie den grafischen Abstraktionsgrad ihrer Bilder von Masereelscher Holzschnitthaftigkeit bis hin zu Kara-Walker-ähnlichen Scherenschnitt-Szenerien. Kongenial ist die Umsetzung der statischen Panels ins dynamische Filmbild - gerade weil sie auf umstandslose Verflüssigung und Dynamisierung verzichtet und das Holzschnitthafte gezielt bewahrt.
4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage. Regie: Cristian Mungiu. Mit Anamaria Marinca, Laura Vasiliu, Vlad Ivanov, Alex Potocean, Luminita Gheorghiu und anderen. Rumänien 2007, 113 Minuten
Persepolis. Regie: Marjane Satrapi, Vincent Paronnaud. Mit den Stimmen von Jasmin Tabatabai, Nadja Tiller, Hanns Zischler, Eva Kryll, Marcus Off und anderen. Frankreich / USA 2007, 93 Minuten