Im Kino
Dämmerung in Boston
Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
29.11.2007. Von erstaunlicher Subtilität ist Ben Afflecks Regiedebüt, die Krimiverfilmung "Gone Baby Gone". Scott Wipers gänzlich unsubtiles Knochenbrecher-Spektakel "Die Todeskandidaten" gehört eigentlich auf den Direct-to-Video-Markt, bringt aber die Übertretungswünsche seines Publikums präzise auf den Punkt.
"Gone Baby Gone" ist die Verfilmung eines frühen Krimis des Bostoner Autors Dennis Lehane, der mit seinem Großroman "Mystic River" (verfilmt von Clint Eastwood) zu Ruhm auch außerhalb des Genres gelangte. Mit "Mystic River" ließ Lehane die weit weniger ambitionierte - oder jedenfalls ihre Ambitionen weit weniger lautstark hinausposaunende - Serie um das Privatdetektivpaar Patrick Kenzie (hier gespielt von Ben Afflecks Bruder Casey) und Angie Gennaro (Michelle Monaghan) hinter sich, deren einen Teil Affleck nun verfilmt. In den Umrissen ist das gar nicht unangenehm Sozialkrimihafte der Geschichte noch zu erkennen, die Handlung selbst ist von einer besseren Tatortfolge nicht so weit entfernt. Das Verschwinden des Mädchens, ein Arsenal sozial devianter Verdächtiger und im Hintergrund die Frage danach, wie denen zu helfen ist, die als Kind in solche Verhältnisse geboren werden und wenig Chancen haben, ihnen zu entkommen.

Die Subtilität von Casey Afflecks Darstellung und von Ben Afflecks Regie macht daraus nie ein großes Drama. Alle Erkenntnis dämmert Patrick Kenzie eher als dass sie ihn schlagartig überfällt. Und auf diesen Dämmerton, in dem klare Entscheidungen denkbar schwer fallen, ist "Gone Baby Gone" von Anfang bis Ende gestimmt. Es hätte dem Film gut getan, hätte er den überkomplizierten Plot von Lehanes Roman, überhaupt die dem Genre geschuldeten Wendungen und Rätsel aufs Wesentliche reduziert. Er ist so stark gerade im Unaufgeregten, in der Sättigung seiner Milieubilder, im sanften Berühren der großen Themen, dass die Aufdeckung der Hintergründe des Verbrechens fast überflüssig scheint. Die subtile Stärke von Ben Afflecks Regie beweist sich nicht zuletzt im Schlussbild von "Gone Baby Gone", einem stillen Nachbild der Geschehnisse: Zwei Menschen auf einer Couch, die einander nichts zu sagen haben und einander nicht berühren. Eine doppelte Rückkehr, die vielleicht keine Rettung ist. Ein denkbar konzentiertes Bild, das doch alles offen lässt.
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Nun aber ist er hier, in deutschen Kinos, macht Krach und legt auf die Aufmerksamkeit der Kritik nicht den mindesten Wert - der deutsche Verleih "Sony" zog es vor, für den Film erst gar keine Pressevorführungen anzubieten. (Ich habe ihn auf einer Import-DVD aus Thailand gesehen.) Dabei ist "Die Todeskandidaten" gar nicht uninteressant, nicht als Filmkunst natürlich, sondern als Artefakt, das Tendenzen der Zeit knackig verpackt. Die Plot-Grundidee war schon nicht mehr ganz neu, als Kinji Fukasaku vor ein paar Jahren in "Battle Royale" ein faszinierendes Spektakel daraus machte: Eine begrenzte Anzahl Menschen (hier: zehn - acht Männer, zwei Frauen; allesamt zuvor von Gerichten zum Tod verurteilt) werden für begrenzte Zeit (hier: dreißig Stunden) auf begrenztem Raum (hier: einer karibischen Insel) zusammengesperrt, um einander den Garaus zu machen. Brachialdarwinistisches Ziel: Nur eine/r wird überleben, der Rest ist zehn kleine Negerlein, aber nicht als schleichendes Verschwinden a la Agatha Christie, sondern als Dezimation in Nahkampf und Gemetzel und Feuerball.

Was "Die Todeskandidaten" in den Augen von Sony kinotauglich machte, ist vermutlich die Tatsache, dass der Film in jeder Hinsicht auf konsequente Umsetzung verzichtet. Er denunziert, was er zeigt und sein Zeigen und sucht zugleich doch die Faszinationskraft seines Entgrenzungs-Szenarios. Er spielt mit ethischen Grenzen, findet aber - etwa durch Wegschwenken im entscheidenden Moment - bequem immer die sichere Seite. Er ist der ungezogene kleine Bruder politsch korrekter Blockbuster und der brave große Bruder wirklich kruder Direct-to-DVD-Machwerke. Er ist "exploitation", die wenig wagt, aber gerade darin die Übertretungswünsche seines Zielpublikums ziemlich präzise auf den Punkt bringt.
Die Todeskandidaten. Regie: Scott Wiper. Mit Steve Austin, Vinnie Jones, Trent Sullivan, Rick Hoffman, Nathan Jones, Robert Mammone und anderen. USA 2007, 113 Minuten.
Gone Baby Gone - Kein Kinderspiel. Regie: Ben Affleck. Mit Casey Affleck, Morgan Freeman, Ed Harris, Michelle Monaghan und anderen. USA 2007, 114 Minuten.