Essay

Queer - oder die Einebnung von Unterschiedlichem

Von Jan Feddersen
14.07.2021. Die Entschwulung der Sprache zugunsten des Wörtchens "queer" bedeutet, alles in allem, nicht nur die Entkörperlichung der Bilder, die mit "schwul" aufgerufen werden; in "queer" ist alles getilgt, was an Begehren eben im Sexuellen unhintergehbar, mit Freud gesprochen, triebschicksalhaft ist. Die Vokabel "queer" macht aus dem Schicksal eine Lifestyle-Option - und zugleich eine neue Normierung: In "schwul" war lediglich ein antinormativer und antihomophober Impetus geborgen, nicht jedoch ein moralischer Anspruch, dass ein homosexueller Mann in allen Aspekten anders zu sein habe.
Dieser Essay ist ein Vorabdruck aus dem "Jahrbuch Sexualitäten 2021", das übermorgen im Wallstein Verlag erscheint. Sie können es auch hier bestellen. Am Freitag gibt es eine Release Party in der taz, mehr hier. Wir danken dem Autor und dem Verlag für die Abdruckgenehmigung. D.Red.


Es muss Anfang der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts gewesen sein, das ist gewiss. Ein präzises Datum jedoch, von wann an gleichgeschlechtlich begehrende Männer sich in der Selbstwahrnehmung mit dem Wort "schwul" bezeichneten, lässt sich nicht benennen. Gewöhnlich wird die Uraufführung von Rosa von Praunheims Film "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt" von 1971 (1) und die im Zuge seiner Aufführung in überwiegend studentisch besuchten Kinos bewirkte Gründung einer Vielzahl von Schwulengruppen in der Bundesrepublik als Zeitpunkt für die atmosphärische Umdeutung des eigentlich als Schmähattributierung gedachten Wortes markiert. (2) Programmatisch heißt es im Film:

"Jetzt aber ist die Zeit da, wo wir uns selbst helfen müssen. […] Das Wichtigste für alle Schwulen ist, dass wir uns zu unserem Schwulsein bekennen. […] Wir schwulen Säue wollen endlich Menschen werden und wie Menschen behandelt werden. Und wir müssen selbst darum kämpfen. Wir wollen nicht nur toleriert, wir wollen akzeptiert werden. Es geht nicht nur um eine Anerkennung von Seiten der Bevölkerung, sondern es geht um unser Verhalten unter uns. Wir wollen keine anonymen Vereine! Wir wollen eine gemeinsame Aktion, damit wir uns kennenlernen und uns gemeinsam im Kampf für unsere Probleme näherkommen und uns lieben lernen. Wir müssen uns organisieren. Wir brauchen bessere Kneipen, wir brauchen gute Ärzte, und wir brauchen Schutz am Arbeitsplatz. Werdet stolz auf eure Homosexualität! Raus aus den Toiletten, rein in die Straßen! Freiheit für die Schwulen!" (3)

Das Fanal des Filmemachers Rosa von Praunheim - als ein solches war es sehr wohl verstanden worden - war innerhalb der Community homosexueller Männer mindestens hoch umstritten. Keineswegs war "schwul" das allgemeingültige Wort der Stunde in den Kreisen jener Männer, die bis 1969 noch nach dem Paragrafen 175 des Strafgesetzbuchs in seiner nationalsozialistischen Fassung verfolgt worden waren; (4) männliche Homosexualität galt mit dieser Strafandrohung als anrüchig schlechthin und stand unter generellem Verdacht. Der Impuls von Praunheims und mit ihm der seines Textautors Martin Dannecker - dem viele der sich gründenden Schwulengruppen folgten - war, den allgemeinen Hass gegen und den fantasmatisch aufgeladenen Ekel vor gleichgeschlechtlich-männlicher Sexualität ins Positive, Kämpferische, ja, Wahrhaftige zu wenden. Das Credo: Ja, wir sind genau das, was ihr, die Spießer, Heterosexuellen, die Gewöhnlichen, von uns denkt, wir machen exakt das, was ihr von uns denkt.

Selbstbezeichnungen homosexueller Männer waren, wenn überhaupt, bis dahin darauf aus, den Gehalt der Phobie in den kollektiven Phantasien zum Nichtsprechen zu bringen. Schwule Publizistik setzte im Hinblick auf die Gemütsstärkung ihrer Leser darauf, Homosexuelles als kulturell besonders wertvoll zu verstehen, da ja Künstler wie etwa Leonardo da Vinci auch "so" gewesen seien. "Homophil" war die deutlichste unter den selbstgewählten Bezeichnungen, die homosexuelle Männer sich wählten, das klang defensiv, fast devot-vorsichtig, die Wirklichkeit homosexueller Männer jedoch absichtsvoll verschleiernd: aus verständlichen Gründen angsterfüllt. Die aggressiv-aversiven Titulierungen von heterosexueller Seite lauteten, nur beispielsweise: Hinterlader, Schwuli, schwul, warmer Bruder, Schwuchtel oder auch, die Strafverfolgung in der Charakterisierung gleich in sich tragend: 175er. Gesellschaftsfähig im Allgemeinen? Keine Spur.

"Schwul" hingegen war das Wort der (historischen) Stunde, die öffentliche Klarstellung schlechthin, eine sprachliche Selbstermächtigung, weil in "schwul" stets das mitschwang, was in homophil nicht anklingen sollte, in "homosexuell" nur im steril-klinisierten Jargon: (5) das Sexuelle, das körperliche Begehren, der Schweiß, die Hitze der Anbahnung des Sexuellen, das Schmutzige in diesem Sinne auch, mithin die Gewöhnlichkeit allen Lebens samt all seiner Gier, auch des homosexuellen. Schwul als Selbstcharakterisierung zu wählen, linderte, so bezeugt es eine Fülle von Lebensberichten homosexueller Männer, das Gift der Aversion gegen sie selbst - indem man sich selbst mit dieser Vokabel wahrnehme, verliere der Schrecken der sich im Wort selbst niederschlagenden Homophobie an Kraft. Homosexuelle Frauen, die Teil der politischen Bewegungen nach Achtundsechzig waren, schlossen sich diesem sprachavantgardistischen Komment sogar - zunächst - an: als "schwule Frauen", kurz darauf als das, was ebenso auf sprachliche Explizitheit setzte: lesbische Frauen. (6)

Über die Jahrzehnte seither hat sich unter gleichgeschlechtlich begehrenden Männern das Wort "schwul" als (inzwischen klarere) Bezeichnung in eigener Sache durchgesetzt. Pride, also stolz, Parade, also das Paradieren in der Öffentlichkeit in Gestalt der mit den achtziger Jahren und der Aidskrise populär werdenden CSD-Umzüge in den Metropolen (und längst auch in kleineren Städten) haben zu dieser Verallgemeinerung beigetragen. Es wurde in gewisser Weise so, wie es der Titel eines vor vierzig -Jahren sehr populären Buches des schwulenbewegten Psychologen Thomas Grossmann verheißen hatte: "Schwul - na und?" (7)

Tatsächlich hat es bis in die Nullerjahre gedauert, ehe auch das letzte Mainstream-Medium "schwul" nicht mehr auf den sprachlichen Index setzte; manche Zeitungen übersetzten etwa das Kürzel LSVD, das den in den frühen neunziger Jahren gegründeten Lesben- und Schwulenverband meint, als "Lesben- und Homosexuellenverband", allein um das Wort "schwul" nicht in der positiv konnotierten Schriftsprache erscheinen zu lassen. Der symbolische Kampf um die Neuorientierung soziokultureller Mächte war - oder schien - indes im Alltagsgebrauch mehr oder weniger gewonnen: Schwul war, wer eben als homosexueller Mann lebte, lesbisch, wer dies als homosexuelle Frau tat. (8) Aus der Perspektive ein halbes Jahrhundert danach ließe sich auf das Vorläufigste sagen: Die Schwulisierung der Homosexuellen hat sie in den richtigen Modus getrieben - und sie haben sich gern treiben lassen -, das soziale Faktum nichtheterosexuellen Lebens aus den Sphären der Diskretion zu verscheuchen; möglicherweise wird die Etablierung dieser Umcodierung in noch stärker historischer Perspektive als größte Leistung der Schwulenbewegung (und Rosa von Praunheims) jener Jahre verstanden werden. (9)

Mittlerweile, das kann hier nur geschätzt werden, hat diese sprachliche Anstrengung an Kraft eingebüßt, vielleicht an Kraft einbüßen sollen. Womit das zusammenhängt, muss - noch - ungeklärt bleiben. Ist die Bekennerhaltung, die in der Vokabel "schwul" immer auch und nicht besonders subtil inkarniert ist, zu anstrengend geworden? Hat es damit zu tun, dass "schwul" (oder "lesbisch") auf Schulhöfen immer noch die liebste Schmähvokabel geblieben ist, um eine*n andere*n zu entwürdigen? "Schwules" verkörpert offenbar nach wie vor das Befleckende, Abträgliche, Antinormale, Unzugehörende oder Nichtgelingende. Eine andere Identitätsvokabel hat dafür indes an Raum und Zitierfähigkeit gewonnen: "queer". Dieses Wort ersetzt inzwischen fast durchweg das sachlich gebotene Wort "schwul" und vernebelt markant die Tatsachen des Lebens, die sich durch das Wort nicht auf einen Nenner bringen lassen.

In einem Interview über seinen auch in Deutschland populären Roman "Auf Erden sind wir kurz grandios" sagt der amerikanisch-asiatische Schriftsteller Ocean Vuong, sich selbst als "queer" titulierend: "Wir lernen sexuelles Vergnügen, indem wir scheitern. In der Schule bringen sie einem im Sexualkunde-Unterricht nichts über queeren Sex bei. Eltern setzen sich nicht mit ihren Kindern hin, um darüber zu sprechen. Es gibt einfach nichts. Man stolpert im Dunkeln, im wahren und übertragenen Sinne, und das gehört zur Selbst-Erfahrung dazu. Ich wollte diese lange Tradition von queeren Menschen ehren." (10) Eine ehrenwerte Selbstauskunft, bei der die Interviewerin Khuê Pham allerdings nicht nachzuhaken weiß - indem sie zum Beispiel nicht nur nicht fragt, ob nicht alle Eltern beim Gespräch über Sexuelles mit ihren Kindern - oder diese mit ihren Eltern - mindestens Schwierigkeiten haben, ob nicht alles, eben auch das Sexuelle mit anderen zu leben, geübt werden muss. Nein, sie fragt auch nicht, was denn queerer Sex überhaupt sei. Ob das eine besondere Sexualität sei, eine Art Sexuelles, die etwa Lesben und Schwule teilen? Eines, bei dem es auf die sichtbaren Geschlechtsorgane nicht - wie unterstellterweise bei Heterosexuellen - ankomme? Queere Sexualität könnte ja alles Mögliche sein. Auch unter heterosexuellen Menschen ist Sexuelles jenseits der Fortpflanzung denkbar und, sexualwissenschaftlich in Fülle ermittelt und überliefert, höchst wahrscheinlich - aber ist das in eine weite Definition von "queer" einzuschließen? Auffällig ist die Nichtexplizitheit der Auskunft von Ocean Vuong wie seiner Gesprächspartnerin: Queere Sexualität - was soll das sein? Und: Ist Sexuelles zwischen zwei Männern nicht eine andere Sache als die zwischen zwei Frauen? Statt konkret zu werden, das ja Naheliegende zu benennen, wird alles unter dem neuen Sprachzauberstab "queer" summiert.

Die gleiche Einebnung von Unterschiedlichem nimmt ein Gespräch in "ze.tt", dem besonders für das jugendliche und jungerwachsene Publikum von Zeit Online gewidmeten Redaktionsteil, vor: Tasnim Rödder befragt hier junge Menschen, die zu Weihnachten ihre Herkunftsfamilien besuchen, und klagt, so auch der Titel des Gesprächs: "Ich tue lieber so, als wäre ich aus ihrer Perspektive 'normal'." Einer ihrer Gesprächspartner*innen sagt unter anderem: "Von meiner Mutter kommt stillschweigende Akzeptanz. Ich denke, sie ahnt, dass ich queer bin - ich habe mal anklingen lassen, dass ich auch Männer date. Darauf hat sie dann gesagt: 'Aber du siehst doch schon eher nur Frauen, oder?' Da war ich zu perplex, um zu antworten. Ich habe sie einfach nur angeguckt." (11) Queer als Wort, um den eigenen Nächsten gegenüber nicht allzu explizit das aus deren Perspektive Furchtbare und Misslungene auszusprechen: schwul (oder: lesbisch) zu sein. Also Menschen des gleichen Geschlechts zu begehren, sexuell, nicht allein sozial oder kulturell.

So tragisch die Geschichten der medial transportierten Fälle auch sein mögen, sind sie doch nicht spezifisch im Hinblick auf "Queeres", also mit Blick auf die sexuellen Triebschicksale nichtheterosexuell orientierter Menschen: Schwule Männer und lesbische Frauen (früherer Tage) haben das alle durchleben und oft durchleiden müssen - den Eltern, zumal zum "heiligen" Datum des Familienfestes "Weihnachten", wie in einem Akt der Beichte zu berichten, nicht den von ihnen gewünschten heterosexuell orientierten Weg zu gehen. Hier, in der Publizistik für das bildungsbürgerliche Milieu, wird "queer" als weniger explizite Vokabel gewählt - weil offenbar die ein halbes Jahrhundert währende Propaganda der Schwulenbewegung nicht ausreichte, den nicht so stubenreinen Kern der Homosexualität ins Familienprogrammtaugliche zu hieven: Es geht, wie bei Heterosexuellen auch, bei Schwulen und Lesben eben nicht um Kameradschaft zuvörderst, um Freundschaft, um Homosozialität - sondern eben um Sex.

Dass dieses Wording, diese offiziöse Sprachpolitik - alles sei queer! - auch staatliche Institutionen erreicht und von diesen weitergetragen wird, zeigt ein anderes Beispiel. 2019 wurde am Institut français in Hamburg eine Gedenktafel für den weltberühmten französischen Philosophen Michel Foucault enthüllt. Ausgangspunkt dafür war ein Aufsatz des Historikers Rainer Nicolaysen, Leiter der Hamburger Arbeitsstelle für Universitätsgeschichte, der Foucaults Hamburg-Jahr 1959/60 detailliert schilderte und auch zu zeigen vermochte, dass dieser als Direktor des Institut français ein ziemlich souveränes schwules Leben führte - mit nächtlichen, keineswegs klandestinen Ausflügen ins Rotlichtviertel an der Hamburger Reeperbahn, in Lokale, in die vorwiegend schwule Männer (und auch Lesben wie auch Trans*menschen) gingen. (12)

Das war der eigentliche Kern der Geschichte Foucaults in Hamburg: Wie ein schwuler Mann, ein angehender Akademiker mit keineswegs klaren Karriereperspektiven in seinem Heimatland, an der Elbe Station machte, weil er es weder in seinen homophob geprägten Pariser Zirkeln noch kurz zuvor im schwedischen Uppsala am dortigen Maison de France als Homosexueller aushielt, wie er in der Hansestadt sein erstes großes Werk "Histoire de la folie" (13) fertigstellte - und wie er ein, gemessen an den sonstigen Gepflogenheiten der akademischen wie bildungsbürgerlichen Szene Hamburgs, interessiertes und neugieriges Leben auf St. Pauli führte. Interessant, ja, sprechend war während der kleinen Einweihungsfeier für die Gedenktafel besonders, dass die Grußworte mit freundlicher Resonanz aufgenommen wurden, aber die etwa sechzig Zuhörenden plötzlich wie vor kaum zu bändigender Spannung verstummten, als Nicolaysen, eben der Autor der Recherche zum Leben Foucaults in Hamburg und Verfasser des Textes auf der Gedenktafel, im dritten Teil seines Redebeitrags auf Foucault und das Schwule seiner Ausflüge nach St. Pauli freundlich zu sprechen kam: Die Erwartungen des Publikums, endlich über die real facts of life des Philosophen ins Bild gesetzt zu werden, waren offenbar immens - und möglicherweise wussten die Älteren im Auditorium unbewusst und waren deshalb besonders hellhörig, dass Foucaults Exkursionen ja noch zu einer Zeit stattfanden, als St. Pauli durch Polizei und Sittenstreifen in scharfer Beobachtung gehalten wurde.

Die Medien in Hamburg berichteten über die Einweihung der Tafel gewogen, wenngleich meist der Philosoph und seine Zeit in Hamburg stark betont wurden, ohne die angeblich nur "private" Seite hervorzuheben: den Fakt des Schwulseins selbst, nicht der sexuellen Praktiken Foucaults. Nachdem Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) in seinem Grußwort wenigstens am Ende auf den schwulen Mann, nicht nur auf den intellektuellen Gegenspieler von Jürgen Habermas eingegangen war, wurde die Verschriftlichung seiner Ansprache um das Wörtchen "queer" als Klammerzusatz zu "schwul" ergänzt - als gelte es, das "Schwule" ein wenig zu mildern. (14) Wobei ja zutreffend ist, dass die nichtheterosexuell orientierten Lokalitäten auf St. Pauli (bis in die späten siebziger Jahre) durchweg insofern queeren Charakter hatten, als die Gäste eben nicht allein schwule Männer waren, sondern ebenfalls lesbische Frauen, Trans*menschen oder Männer in, wie es damals hieß, opulenten Damengarderoben.

Die Entschwulung der Sprache zugunsten des Wörtchens "queer" bedeutet, alles in allem, nicht nur die Entkörperlichung der Bilder, die mit "schwul" aufgerufen werden; in "queer" ist alles getilgt, was an Begehren eben im Sexuellen unhintergehbar, mit Freud gesprochen, triebschicksalhaft ist. Queer umreißt insofern eine Normativierung eines Lebensstils nicht der Ähnlichkeit mit heterosexuellen Praxen, sondern als ihr Gegenteil, eben "ganz und gar anders", konstitutiv nonheteronormativ: "queer" - ein Stilangebot als Alternative zum Leben der eigenen Eltern. Ob jemand als schwuler Mann als "queer" identifiziert wird (oder gar werden möchte), als Mann, der den Üblichkeiten heterosexuell-männlicher Kultur und ihren Sprechpraxen nicht entspricht, steht ja prinzipiell im Belieben eines - hier - jeden; er möge die Wahl haben. Als "queer", also als offenkundig lesbisch oder schwul im Sinne der Klischees zu ihnen, kann jemand gelesen werden, identifiziert, mit Blick von außen, wahlweise mit Wohlgefallen, meist mit mindestens nervös stimmender Irritation. "Queer" sein zu wollen und zu sollen - nicht im traditionellen Sinn als männlich oder weiblich zu performen -, bis hin zur Selbstidentifizierung als "nonbinär", entspricht freilich einer neuen Norm, die das Heterosexuelle als fragwürdig schlechthin versteht. In "schwul" war lediglich ein antinormativer und antihomophober Impetus geborgen, nicht jedoch ein moralischer Anspruch, dass ein homosexueller Mann nun "queer" zu sein habe. (15) In der Formel vom "Schwulen" steckte ein weitreichendes - bis hin zu Antidiskriminierungsgesetzen und der Ehe für alle (16) - bürgerrechtliches Programm der Abschaffung antihomosexueller Rechtsbestimmungen, auf dass homosexuelle Menschen selbst entscheiden können, wie sie leben möchten. Und sei es eben "queer" - als Möglichkeit, nicht als Tugend oder Pflicht, um den Lifestyle-Standards einer queeren Community zu genügen. Was jemand aus seinem oder ihrem nichtheterosexuellen Begehren macht, ob er oder sie etwa aus diesem eine persönliche Identität baut, steht im Belieben eines oder einer jeden. Ob dies ein queerer Lebensentwurf wird, liegt nur im Benehmen der oder des Betroffenen. Queer als selbstprogrammiertes Lebensschema (faktisch, so die Norm: der Androgynität, der Genderfluidität bis hin zur Selbstidentifizierung als sogenannt "nonbinary") kann nur eine Möglichkeit sein: In der Regel braucht niemand auf dieses hinzuweisen - die Lesarten von Dritten sind ja oft ganz eindeutig; keine Angst unter homosexuellen Männern und Frauen war einst so mächtig wie die, als schwul oder lesbisch "erkannt" zu werden. (17)

Dass diese Möglichkeiten offen sind, ist auch eine Errungenschaft jener, die Anfang der siebziger Jahre begannen, den antischwulen Schmäh umzudrehen, und das böse Spiel des Schweigens und der Diskretion nicht mehr mitmachen wollten. Eine Utopie bleibt, dass queere Lesarten einer Person nur noch mit Interesse, nicht mehr mit negativen Affekten artikuliert werden.

Jan Feddersen

1 Auf der Berlinale jenes Jahres; im Fernsehen erstmals ausgestrahlt 1972 im WDR-Fernsehen am späten Abend; 1973 in der ARD (allerdings ohne den Bayerischen Rundfunk), siehe: "Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt", http://www.rosavonpraunheim.de/werke/rosafilme/70homo/w_pervers_1.html [letzter Zugriff am 8.3.2021].

2 Das Wörtchen kam nicht aus dem Nichts: "Schwul" war ein wichtiger Teil des sprachlichen Reigens zur Herabsetzung nichtheterosexueller Männer und der Behauptungen über sie. Dass die Vokabel auch unter Schwulen, und zwar deskriptiv bis launig, verwendet wurde, zeigen etwa literarische Zeugnisse wie Felix Rexhausens Roman "Lavendelschwert" (1966) und sein bereits 1964 entstandener Roman "Zaunwerk", der im Herbst 2021, aus dem Nachlass herausgegeben von Benedikt Wolf, erstmals erscheinen wird. Der Schriftsteller Hubert Fichte formulierte 1967: "Nur eine Verschwulung kann die Welt retten, im Grünspan." Hubert Fichte: Sex? In: ders.: Alte Welt. Glossen. Hg. von Wolfgang von Wangenheim und Ronald Kay (Hubert Fichte: Geschichte der Empfindlichkeit, Bd. 5). Frankfurt a. M. 1992, S. 128-142, hier S. 128. Im öffentlichen Diskurs verhandelt wurde das Wort "schwul" erst mit dem Praunheim-Film.

3 Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt. Regie: Rosa von Praunheim. Bundesrepublik Deutschland 1971, 0:56:43-1:03:49

4 Georg Härpfer: Der lange Weg zur Rehabilitierung. Zum Nachwirken des § 175 StGB bis in die Gegenwart. In: Jahrbuch Sexualitäten 2019. Hg. im Auftrag der Initiative Queer Nations von Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf. Göttingen 2019, S. 97-116.

5 Gern wurde und wird das Wort "homosexuell" artifizieller als ohnehin schon objektiv nötig ausgesprochen, etwa wie: [hɔmɔzɛksu'ɛl]- besser: "hommo'zexxuell".

6 Näheres bei Christiane Härdel: Bilder einer Ausstellung. Zur Geschichte der HAW-Frauen und des Lesbischen Aktionszentrums 1972 bis 1982. In: Jahrbuch Sexualitäten 2019 (wie Anm. 4), S. 223-232.

7 Thomas Grossmann: Schwul- na und? Reinbek bei Hamburg 1981.

8 Dass es auch in jüngerer Zeit immer noch Nachrichtenwert hat, wenn ein ehemaliger Profifußballer wie Thomas Hitzlsperger sich öffentlich als schwul outet, also die üblich angenommene Heterosexualität im Sinne des eigenen Glücksentwurfs dementiert, erläutert instruktiv Stefan Niggemeier: Das Ende der Toleranz. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 15.2.2014, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/sexualitaet-und-gesellschaft-das-ende-der-toleranz-12803599.html?printPagedArticle=true#pageIndex_4 [letzter Zugriff am 8.3.2021].

9 Spektakulär symbolisiert dieses Einsickern in den gewöhnlichen Sprachgebrauch der spätere Regierende Bürgermeister Berlins, der Sozialdemokrat Klaus Wowereit, als er am 10.Juni 2001 bei seiner berühmten Parteirede zur Kandidatur als Bürgermeister für die nahenden Neuwahlen vehement auch dies aussprach: "Ich bin schwul- und das ist auch gut so!"

10 Ocean Vuong: Ich habe gelernt, ein Chamäleon zu sein. Gespräch mit Khuê Phạm. In: Zeit Online vom 1.10.2019, https://www.zeit.de/kultur/literatur/2019-09/ocean-vuong-auf-erden-sind-wir-kurz-grandios-literatur/komplettansicht [letzter Zugriff am 8.3.2021].

11 Tasnim Rödder: "Ich tue lieber so, als wäre ich aus ihrer Perspektive 'normal'", https://www.zeit.de/zett/queeres-leben/2020-12/outing-weihnachten-familie-identitaet-queer-transgender [letzter Zugriff am 8.3.2021].

12 Rainer Nicolaysen: Foucault in Hamburg. Anmerkungen zum einjährigen Aufenthalt 1959/60. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 102 (2016), S. 71-112; ders.: Foucault ging auf die Reeperbahn. Vor sechzig Jahren zog der französische Philosoph Michel Foucault nach Hamburg. Und entdeckte begeistert die Schwulenbars auf St.  Pauli. In: Die Zeit vom 26.9.2019, Hamburg-Teil, S. 20 f.

13 In Hamburg zu Beginn des Jahres 1960 abgeschlossen, veröffentlicht in Frankreich 1961; eine deutsche Ausgabe erschien erst am Ende des Jahrzehnts: Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Aus dem Französischen von Ulrich Köppen. Frankfurta. M. 1969.

14 Die Reden der Veranstaltung finden sich in: Rainer Nicolaysen (Hg.): Michel Foucault in Hamburg. Reden anlässlich der Vorstellung der Foucault-Gedenktafel im Institut français de Hambourg am 12.Juni 2019. Hamburg 2019, die Rede des Senators auch online: Carsten Brosda: Grußwort zur Enthüllung einer Gedenktafel zu Ehren Michel Foucaults, 12.6.2019, https://www.hamburg.de/bkm/wir-ueber-uns/12694496/senator-brosda-fou
cault-gedenktafel [letzter Zugriff am 8.3.2021].

15 Inzwischen wird selbst der schwule schwarze Schriftsteller James Baldwin nur noch queer verstanden- als ob der, wie es mancherorts heißt, "Ikone" es einerlei gewesen wäre, ein weibliches oder ein männliches Gegenüber potenziell zu begehren; das Gegenteil war der Fall- Baldwin wurde seiner Art wegen queer gelesen, auch zu seiner Zeit, was nichts an der Tatsache änderte, dass er ein Leben als Schwuler afroamerikanischer Provenienz führte. Siehe auch Julia Hubernagel: Auf Twitter verdreht. In: taz vom 4.3.2021, https://taz.de/Autor-James-Baldwin-neu-bewerten/!5755782 [letzter Zugriff am 8.3.2021]; sowie Timo Lehmann: James Baldwin jenseits der Identitäten. In: Jahrbuch Sexualitäten 2018. Hg. im Auftrag der Initiative Queer Nations von Janin Afken, Jan Feddersen, Benno Gammerl, Rainer Nicolaysen und Benedikt Wolf. Göttingen 2018, S. 254-261.

16 Die öfters als "Schwulenehe" tituliert wird, obwohl sie genau das nicht ist: Davon abgesehen, dass sie auch "Lesbenehe" genannt werden könnte, hebt das Gesetzesreformprojekt die heteronormative Struktur der "Ehe" auf- zugunsten einer Bestimmung, nach der zwei Menschen heiraten. Ein rechtliches Sonderinstitut für Schwule und Lesben gibt es nicht mehr.

17 Innerhalb der intersektional orientierten Szene gibt es freilich auch Performer*innen, die unmissverständlich als "schwul" gelesen werden sollen- ein Versteckspielen, ein -So-tun-als-ob-wenigstens-irgendwie-hetero wird ausdrücklich zurückgewiesen; siehe Gianni Jovanovic: Ich bin der Mann, der ich bin. Gespräch mit Jan Feddersen. In: taz vom 13.3.2021, S. 26 f.