Essay

Tanz der Lettern

Von Thomas Rohde
19.05.2010. Die Verbreitung von E-Book-Lesegeräten wie dem Ipad verschafft der Literatur neue Ausdrucksmöglichkeiten: Aus beweglichen Lettern können bewegte Lettern werden. Die Remix-Kunst der 'animierten Typografie' lässt erahnen, wie dies aussehen könnte.
Tablet-Computer wie Apples Ipad gelten als neue Hoffnung für die Medien- und Buchindustrie. Verglichen mit anderen E-Book-Lesegeräten bieten sie dank Touchscreen, stärkerer Prozessorleistung und buntem, zur Video­wiedergabe fähigem Bildschirm allerlei Möglichkeiten, E-Books multimedial und interaktiv aufzurüsten. Doch während damit experimentiert wird, Bücher mit Videoclips anzureichern, sie mit Soundtracks zu unterlegen oder mit Videospiel­-Elementen zu versehen, ist eine entscheidende - und der Literatur vielleicht besonders gerechte - Möglichkeit bisher kaum beachtet worden: Die Lettern können endlich beweglich werden, die Wörter Laufen lernen.

Im Februar 2007 - also in Webmaßstäben ungefähr vor zwei Generationen - erschien auf YouTube ein Video, das beeindruckende Zahlen und Fakten über die Auswirkungen der Globalisierung und des digitalen Medien­wandels präsentierte. "Shift happens" war der Titel der Präsentation, die schnell weite Verbreitung im Netz fand und noch heute bemerkenswert ist.

Bemerkenswert ist sie heute allerdings weniger der präsentierten Fakten wegen, die zum Teil von der Realität längst überboten wurden. Sondern weil sie ihre Thesen so bündig und anschaulich formulierte, dass sie Anlass für einen Remix gab, der das Anschauliche ins Anschaubare überführte: Die unter dem Titel "Shift happens/ Did you know 2.0" publizierte Version nutzte souverän grafische und typografische Elemente, um die Thesen von "Shift happens" zu illustrieren. Dabei blieb geschriebener Text die Grundlage der Mitteilung: Auf gesprochenen Text oder 'für sich sprechende' Bilder, wie sie etwa in Dokumentarfilmen oder -videos genutzt werden, verzichtete "Did you know 2.0"



Schnell schloss sich eine Reihe von Nachahmern an, die mit teils bemerkens­werter Virtuosität die Möglichkeiten der textlichen und grafischen Faktendarstellung erschlossen:



Man kann "Shift happens" deshalb als die Geburtsstunde eines neuen Stils der Vermittlung von Faktenwissen betrachten, der die Grenzen bisheriger Darstellungsformen erweitert hat.

Während in den meisten wissenschaftlichen Disziplinen dank Präsentationssoftware wie z. B. Powerpoint Vorträge längst multimedial gestaltet werden, folgt der Duktus wissenschaftlicher und nonfiktionaler Prosa unbeirrt dem Vorbild sprachzentrierter Vorlesungen. Kein Artikel in einem digitalen Fachjournal, keine digitale Monografie, die sich der Möglichkeiten bedienen würden, die bei jeder Präsentation vor Publikum ganz selbstverständlich eingesetzt werden. Die wissenschaftliche Vortragskunst hat sich schneller entwickelt als die wissenschaftliche Schreibkunst.

Das hängt zweifelsohne auch damit zusammen, dass, wer schreibt, sich nach wie vor am Vorbild des Buches mit seinen unverrückbaren, standfesten Lettern orientiert. Und darin lassen sich audiovisuelle Elemente allenfalls in Form statischer Bilder und Grafiken oder beigelegter CDs einbinden. Wenn sich nun Lesegeräte durchsetzen, die es möglich machen, dass Texte über die Beschränkungen starrer Lettern hinausgehen, schafft dies Spielraum, um die in der Benutzung von Präsentationssoftware erlernten Darstellungstechniken ins Stil-Repertoire nonfiktionaler Texte aufzunehmen. Dabei werden die besten Sachtexte der Zukunft diese Möglichkeiten schon von ihrem Beginn an einbeziehen, statt sie erst im Nachhinein als beigefügte multimediale Elemente angeflanscht zu bekommen.

Auch wenn sich die "Shift happens"-Präsentationen thematisch vornehmlich mit dem Medien­wandel beschäftigen, bedeutet dies nicht, dass diese Darstellungstechnik für andere Sachgebiete - von der Sozialwissenschaft über Geschichts­schreibung bis hin zu naturwissenschaftlichen Themen - weniger geeignet wäre. Mit dem Ipad und anderen Tablets werden bald schon Kanäle zur Verfügung stehen, die es solchen Präsentationen ermöglichen, ein Publikum zu erreichen, das weitaus größer ist als bisher, da diese Präsentationen nur am Computer zu konsumieren waren. Und indem sie auf einem Lesegerät - und eben nicht auf einem Computerbildschirm - konsumiert werden, wird man diese Werke weniger als Videopräsentation denn als Texte wahrnehmen.

Wer sich eine Reihe solcher Präsentationen anschaut, wird schnell feststellen, dass die Typografie darin eine herausragende Rolle spielt: Die Buchstaben entwickeln hier ein expressives Potenzial, das ihre verschiedensten Aspekte wie Schriftschnitt, Zeichengröße, Farbe, Körperlichkeit, Hintergrundfarbe und Geschwindigkeit des Ablaufes einschließt. Das meiste hiervon war auch auf Papier möglich, hat sich dort abgesehen von künstlerischen Experimenten (wie etwa in Dada-Werken) aber nie wirklich durchgesetzt. Gänzlich neu ist jedoch die Dimension der Zeitlichkeit, der Geschwindigkeit des Ablaufs, in dem diese Typografie vor die Augen des Betrachters gebracht wird. Damit steht eine zusätzliche Darstellungsdimension zur Verfügung, die die anderen Aspekte der Typografie erst recht zur Geltung bringt. Genau dies macht diese neuen Darstellungsmöglichkeiten attraktiv auch für literarische und fiktionale Texte, in denen es nicht darum geht, etwa Video- oder Fotobelege aus der realen Welt einzubinden, sondern sich im Textmedium auszudrücken und dabei die medialen Bedingungen von Sprache und Text selbst in die künstlerische Auseinandersetzung mit einzubeziehen. Text kann jetzt stocken, fließen, sich überschlagen wie Sprache von jeher.

Derzeit wird gern damit experimentiert, Videos in eBooks einzubetten (etwa beim Vook, wo schon der Name ein Hybrid aus 'Video' und 'Book' ist) oder sie mit interaktiven Elementen anzureichern (wie etwa diese Version von "Alice in Wonderland" für das Ipad). Doch wer in dieser Art von "erweiterten E-Books" die Zukunft sieht, übersieht, dass das angereicherte E-Book letztlich zum Film oder zum Videogame tendiert. Und diese ökologischen Nischen sind im Biotop der Kreativität bereits besetzt. Literatur in diese Richtung erweitern zu wollen, heißt zudem, ihre eigene Medialität, ihre Bindung ans Wort als sein entscheidendes Merkmal und seine mediale Basis zu verlassen: So als würden Orchesterkonzerte alle paar Takte von Filmeinblendungen oder eingesprochenem Text unterbrochen, um das Musikerlebnis attraktiver zu machen. Man steckt sich Elemente anderer Künste an, weil man fürchtet, dass die eigene Kunst allein nicht mehr attraktiv genug ist. Dabei muss man, um die neuen Möglichkeiten digitaler Bücher zu nutzen, die Literatur und ihre Bindung an Text keineswegs hinter sich lassen.

Auf Video-Portalen wie YouTube sind - von der literarischen Gemeinde kaum beachtet - bereits neue Möglichkeiten der visuellen, textbasierten Wissensvermittlung und die Remix-Kunst der Animated Typography entstanden: Eine Kunstform, die den Schritt von beweglichen zu bewegten Lettern zelebriert und deren ästhetische und expressive Möglichkeiten ausnutzt, um den Text, den sie mitteilen, zu untermalen.

Wer auf YouTube und in anderen Videoportalen unter den Stichworten "Animated Typography", "Kinetic Typography" oder "Typography Animation" sucht, findet zahlreiche, oft beeindruckende Beispiele dafür. In der Regel handelt es sich dabei - wie ja im Falle fast aller neuen Kreativität des digitalen Zeitalters - um typische Remix-Kunstwerke: Vorgegebene Texte, oft Songs oder Filmdialoge, werden in Animated Typography übernommen, oft mit parodistischen Elementen. Dabei wird in der Regel die Tonspur des Original-Kunstwerks mitgeliefert. Ein exzellentes Beispiel einer sehr gut gelungenen kinetischen Typografie bietet diese Adaption von Peter Dreiss eines Dialogs von Klaus Kinski in seiner Jesus-Phase mit einem Zweifler:



Die ausgereiftesten Werke der animierten Typografie können auf die Tonspur aber souverän verzichten: Wer zur Probe den Ton abdreht, kann das leicht feststellen.



Nach dem Audio-Buch als bisher letzter medialer Ausweitung der Literatur steht mit animierter Typografie nun eine neue Werkart zur Verfügung, die Kreative und Konsumenten und kreative Prosumenten erkunden und bespielen können. Der Gedanke, dass bald nicht nur Werkderivate (also Adaptionen traditioneller Literatur, Filme oder Songs in die animierte Typografie), sondern originäre Werke der animierten Typografie entstehen werden, ist reizvoll. Für Lyrik scheint die neue Werkform auf den ersten Blick besonders geeignet: Ich wäre beispielsweise ausgesprochen neugierig auf eine Adaption von Mallarmes "Coup de des? in bewegten Lettern.

Damit kann die Literatur ein Medium erobern, das in der Werbung (etwa in Schriftbändern) und in unterstützender Funktion im audiovisuellen Bereich (Untertitelung, Börsenkurs-Laufbänder in Fernsehsendungen) bereits seit vielen Jahren angewandt wird und einige seiner gestalterischen Höhepunkte in Filmvorspännen erreichte (etwa im Vorspann von Hitchcocks "Psycho" oder "North By Northwest"). Auch in der bildenden Kunst gibt es Beispiele für die Verwendung kinetischer Typografie - man denke an die großartigen Textlaufband-Installationen einer Jenny Holzer. Doch ist deren literarische Dimension und ihr literarisches Potenzial stets unbeachtet geblieben. Es wird Zeit, diese Gestaltungsmöglichkeiten als literarische Möglichkeiten wahrzunehmen. Denn mit den neuen Lesegeräten sind sie voll in die literarischen Kommunikations- und Transaktionskanäle eingebettet.

Steht die Literatur vor einem ähnlichen Übergang wie die Fotografie, als entdeckt wurde, dass die stillstehenden Bilder - wie die abgedroschene Phrase sagt - "Laufen lernten"? Vielleicht, auch wenn der Vergleich eher übertrieben wirkt. Doch bedeutet die neue Möglichkeit, die zeitliche Dimension in der Literatur bewusst zu gestalten, einen Zuwachs gestalterischer Spielräume, den Kreative nicht unbeachtet lassen werden.

Wer heute Texte schreibt, sollte sich nicht mehr am Ideal des gedruckten Buches orientieren, sondern bereits im Schreibprozess die Möglichkeiten nutzen, die sich ihm bieten, wenn Wörter und Grafiken nicht mehr statisch sind. Wer bewusst mit Sprache umgeht, kann künftig seine Sätze beim Schreiben nicht mehr nur still vor sich hinsprechen, sondern sie im Geiste auch vor seinen Augen vorbeiziehen lassen: fließend, zögernd, sich aufbauend und abschwellend: In den Worten steckt neues Leben.