Essay

Identität und Transzendenz

Über die sozialen Rahmenbedingungen religiöser Perspektiven. Von Bernhard Giesen
31.01.2013. Poly- und Monotheismus lösen sich nicht nur ab in der Religionsgeschichte; in komplexen Gesellschaften existieren sie auch als Perspektiven unterschiedlicher Trägerkreise nebeneinander. Die Gewaltneigung der monotheistischen Perspektive ergibt sich aus der spannungsreichen Grenzsituation zum Polytheismus und anderen Monotheismen.
Jan Assmann hat vor kurzem auf eine Reihe von Kommentaren geantwortet, die sich in den letzten Jahren kritisch - und streckenweise polemisch - mit seiner Monotheismus-These befassten. Diese Monotheismus-These knüpft an Arbeiten von Sigmund Freud an und behauptet, so die Kritiker, dass Monotheismus eine gewisse Wahlverwandtschaft zu Intoleranz besäße und Gewalt gegenüber den Anhängern des falschen Glaubens, insbesondere den abtrünnigen ehemaligen Gläubigen fördere. Assmanns Antwort fällt zurückhaltend, sachlich und klärend aus. Er rückt von einigen Übertreibungen, die seine Kritiker ihm unterschieben, ausdrücklich ab und bereitet damit einen Kompromiss vor, der halten sollte. Nachdrücklich verwahrt er sich allerdings gegen den gelegentlich erhobenen Vorwurf, als Ägyptologe hätte er auf dem ureigensten Gelände der Theologie wenig zu suchen: Der biblische Exodus der Israeliten erfolgte eben nicht aus Babylon oder aus dem Reich der Hethiter, sondern aus Ägypten - was der Ägyptologie eine offensichtliche Kompetenz für die Entschlüsselung der Kultur, die man flieht, zuweist. Erst wenn man den Exodus als Antwort einer Gegenkultur zur alt-ägyptischen begreift - so Jan Assmann - kommt man seinem Geheimnis auf die Spur. Dieses erschließt sich eher aus der Perspektive der Erinnerungsgeschichte als in dem Versuch, die Vorgänge des Exodus ereignisgeschichtlich zu rekonstruieren.

Die folgenden Bemerkungen dienen nicht im engeren Sinne der Fortsetzung der Kontroverse um Jan Assmanns Monotheismus-These, sondern sie suchen einige allgemeine strukturelle Bedingungen des Monotheismus oder Polytheismus zu analysieren. Ausgangspunkt dabei ist die Unterscheidung zwischen den Bezeichnungen und Klassifikationen der profanen Dinge einerseits und den so genannten "Transzendenzbegriffen" andererseits. Transzendenzbegriffe wie "Gott", "Natur", "Vernunft", "Leben" existieren nur im Singular; sie bezeichnen einen unübersteigbaren Rahmen der Sinnfindung, der als ort- und zeitlos gesehen wird. Transzendenzbegriffe sind "empty-signifiers" im Sinne von Lévi-Strauss. Wir sind zwar absolut sicher, dass es ihren Referenten gibt, aber wir können jenseits ihrer besonderen (und immer verzerrten) Repräsentationen keine Anschauungen ihres Referenten entwickeln. Niemand hat Natur zur Gänze gesehen oder Vernunft in allen ihren Äußerungen zugleich erfahren. Transzendenzbegriffe sind Quellen oder Ankerpunkte der Sinnkonstitution in komplexeren Gesellschaften und beziehen sich auf die Einheit oder das Heilige der jeweiligen Gesellschaft. Es gibt sehr einfache Gesellschaften, die kein solches Bewusstsein ihrer Einheit im Unterschied zur Gesamtheit der Gattungsangehörigen entwickeln können, aber dies sind Ausnahmen. Komplexere Gesellschaften stehen unter dem Druck, solche sinnstiftenden Einheitskonzepte zu entwickeln und dieser Druck wird umso stärker, je komplexer und vielfältiger ihre innere Struktur ausfällt. Für die Konstruktion dieser übergreifenden Einheit ist der monotheistisch begriffene Gott von zentraler Bedeutung. Er markiert einen unübersteigbaren, immer und überall geltenden Rahmen für die Sinnfindung. Im Unterschied dazu stehen polytheistische Götterwelten, in denen die Götter zwar unsterblich sind, aber doch gelegentlich von anderen Göttern abstammen und somit einen Anfang haben. Die Gottheit in der polytheistischen Welt ist darüberhinaus in gewisser Weise an räumliche Verortungen, Vorlieben oder Verkörperungen gebunden. Im Unterschied dazu ist der Gott des Monotheismus ewig und omnipräsent; niemand kann sich vor ihm verstecken, niemand kann seinem Blick entgehen, Ausnahmen gibt es nicht. In dieser Ausnahmslosigkeit deutet sich schon die monotheistische Neigung zur Intoleranz an.

Während der Gott des Monotheismus die radikale Transzendenz der ort- und zeitlosen Einheit bedeutet, handelt es sich bei polytheistischen Göttern um unterschiedliche Identitäten, die nur im Plural existieren. Identitätsbegriffe wie "Nation", "Kultur", "Volk" etc., die die Möglichkeit anderer Identitäten immer mitbedenken, müssen daher von Transzendenzbegriffen unterschieden werden. Identitätsbegriffe haben eine lockere Beziehung zu raumzeitlichen Verortungen. Insbesondere die Frage des Anfangs oder der Gründung wird mit großem Aufwand an Mythen, Metaphern und Bildern behandelt, aber auch die räumliche Verankerung, die in Begriffen wie "Heimatland" oder "promised land" aufscheint, verweist auf andere Räume, in denen Andere zuhause sind. Die Geschichte der Gemeinschaften, auf die sich Identitätsbegriffe beziehen, wird erst durch diese Identitätsbezüge generiert.

Anders als manche Darstellungen des so genannten "achsenzeitlichen" Durchbruchs (Jaspers; Eisenstadt) nahelegen, können wir nicht davon ausgehen, dass polytheistische Vorstellungen nach diesem Durchbruch grundsätzlich verschwinden und durch universalistisch-monotheistische Vorstellungen ersetzt werden. Stattdessen müssen wir von einem Wechselspiel zwischen polytheistischen Perspektiven in verschiedenen Übersetzungen (z.B. Stammes- und Stadtgötter, Vielfalt der Götter, Vielfalt der Nationen, Vielfalt der Kulturen etc.) und monotheistischen Einheitskonzepten (z.B. Reichsbildung, missionarische Religionen, universalistische Aufklärung, Globalisierung) ausgehen. Je nach Kommunikationssituation und historischer Lage schiebt sich jeweils eine dieser beiden Perspektiven in den Vordergrund.

Für den Wechsel von der Vielfaltsperspektive auf die der Einheit spielen Intellektuelle und die Verfügung über heilige Schriften, in denen sich die Einheitsverkündung des einen Gottes, der unteilbaren Vernunft, der Geschichte etc. offenbart, eine zentrale Rolle. Zu ihnen gehören die Propheten und Priester des alten Israels ebenso wie die griechischen Philosophen, die buddhistischen Sangha wie die hinduistischen Brahmanen, die muslimischen Ajatollahs ebenso wie die abendländischen Mönche. Diese Intellektuellen grenzen sich in der Regel von den Inhabern politischer Macht ab und verweisen in einer politisch staatlichen Welt, die von Vielfalt gekennzeichnet ist, - in einer "kompensatorischen" Wende - auf eine übergreifende transzendente Einheit, während sie in einer Welt, die von einer einheitlichen politisch staatlichen Ordnung geprägt ist, eher Vielfalt und ineinander unübersetzbare Verschiedenheit betonen. Eine kulturelle Gegenbewegung zur politischen Reichsbildung führt so zur Entdeckung der Vielfalt der Nationen und Kulturen, während in einer pluralistisch aufgespaltenen Welt das einigende Band der Religion, der Aufklärung etc. gesucht wird.

Auch die Jan Assmann zugeschriebene (aber von ihm kaum so formulierte) Vorstellung einer inhärenten Gewalttätigkeit des Monotheismus ruft nach Differenzierung. Jan Assmann betont zunächst zu Recht, dass die Gewalttätigkeit, die mit polytheistischen Kulten einhergeht und die bis zum Menschenopfer reicht, nur schwer ins Verhältnis zur besonderen Gewalttätigkeit der Vertreter des Monotheismus zu setzen ist. Die opfernde und strafende Gewalt des Priesterkönigs folgt einer regelhaften Logik, die exterminatorische Gewalt des missionarischen Monotheismus hingegen muss einen Naturzustand behaupten, in dem die Regeln nicht mehr gelten. Wir werden darauf zurückkommen.

Unter "Gewalt" werden heute so unterschiedliche Phänomene wie autistische, sich selbst divinisierende Gewalttäter (Erfurt, Colombine, Newport), Tätergruppen, deren Mitglieder sich an Kaltblütigkeit übertreffen wollen (Abu Ghraib), emotionslose Gewalttäter (Mafia), die in beruflichem Auftrag handeln, und die Gewalt der Gemeinschaft, die sich durch Initiationsrituale (Beschneidung etc.) in den Körper ihrer Novizen einschreibt, gefasst. Gemeint ist mit der behaupteten Verbindung zwischen Monotheismus und Gewalttätigkeit jedoch wohl eher die durch religiöse Offenbarung gedeckte, ja geforderte Gewalt gegenüber abtrünnigen ehemaligen Gläubigen. Der Irrtum der Heiden, die es nicht besser wissen können, muss scharf von dem Rückfall der Abtrünnigen unterschieden werden. Die Ersteren werden nur dann gewalttätig behandelt, wenn sie sich dauerhaft dem Wort Gottes widersetzen, die Abtrünnigen hingegen verdienen das Schwert, weil sie sich wider besseres Wissen gegen Gott empörten.

Durch gewalttätige Akte scheint der Monotheismus sein Versprechen, einen inneren Raum des Friedens zu etablieren, zu brechen. Allerdings wird der innere Friede, den der Monotheismus sichert, durch Gewalttätigkeit in der "Kriegszone" gegen Außenstehende zunächst nicht in Frage gestellt. Im Gegenteil: je stärker der Innenraum einer Gemeinschaft vom Friedengebot reguliert wird und je respektvoller die Angehörigen der Glaubensgemeinschaft einander "brüderlich" begegnen, desto heftiger scheint auch die Neigung zur Gewalttätigkeit an den Außengrenzen, in der Kriegszone, auszufallen. Dieser Verdacht scheint der Forderung nach einer universellen Brüderlichkeitsethik, im Grenzfall der Forderung, alle Menschen, auch die Feinde, zu lieben, zu widersprechen. Diese Forderung nach "Liebesakosmismus" (M. Weber) wird gewöhnlich mit dem Christentum verbunden. Sie macht seine Widerständigkeit gegen die eigenlogische Rationalität wirtschaftlichen Handelns aus. Alle Gattungsangehörigen sind danach gleichermaßen potentielle Christen und diese Potentialität begründet einen Schutz elementarer Rechte.

Was aber gibt uns Aufschluss über die Verbindung zwischen Monotheismus und der von ihm begünstigten Gewalt insbesondere gegen Abtrünnige? Vielleicht hilft hier der Griff zu psychoanalytisch inspirierten Denkfiguren. Abtrünnige führen den religiös motivierten Gewalttätern die Möglichkeit einer Rückkehr in die polytheistische Welt oder aber eines Wechsels zu einem anderen Monotheismus leibhaftig vor Augen. Gerade diese letzte Möglichkeit widerspricht der monotheistischen Vorstellung, die ja den einen wahren Glauben betont und alle anderen als heidnische Irrläufer behandelt, deren Anhänger lebende Aufforderungen zur Missionierung und Konversion sind. Die monotheistische Mission kennt nur die Inklusionsbewegung von Außen nach Innen. Deren faktische Umkehrung erschüttert die monotheistische Anthropologie. Man kann kaum an der Vorstellung festhalten, den wahren Glauben zu besitzen und gleichzeitig die Personenhaftigkeit eines Anderen anerkennen, der diesen Glauben zurückgewiesen hat. Dieser Andere hat scheinbar seine Rechte als Mensch verwirkt, er ist in einen Naturzustand zurückgesprungen, ihn in diesem Naturzustand zu töten ist kein Verbrechen mehr, das Brüderlichkeitsgebot innerhalb der Gemeinschaft gilt für ihn nicht mehr. Jeder Dialog mit ihm, jeder Versuch ihn zur Rückkehr zu überzeugen scheitert an der Schwierigkeit, gleichzeitig die Person des Renegaten anzuerkennen und die in diesem verkörperte Beleidigung Gottes zu rächen. Die Beleidigung Gottes ist dabei auch eine Beleidigung derer, die an ihn glauben. Diese Lage können manche Vertreter einer monotheistischen Religion nur mehr durch den (immer verfügbaren) Kurzschluss zur Gewalt bewältigen. Die Neigung zu Gewalttätigkeit ergibt sich also nicht aus der monotheistischen Offenbarungsreligion selbst, sondern aus der spannungsreichen Grenzsituation, in die Vertreter des Monotheismus geraten können und in die sie häufiger geraten als die Praktiker polytheistischer Opferkulte.

Aber auch andere Formen der Bewältigung dieser Grenzsituation wären denkbar: man kann diejenigen, die Gott beleidigen, fliehen und die Begegnung mit ihnen vermeiden, man kann auf ironische Distanz zu Renegaten gehen, man kann aber auch Regeln der Toleranz entwickeln, deren Geltung schwerer wiegt als das Gebot jede Beleidigung Gottes zu rächen.

Die Unvereinbarkeit von eigener religiöser Überzeugung und der davon abweichenden Überzeugung des Anderen auszuhalten bedeutet Toleranz. Toleranz verlangt allerdings nicht nur den grundsätzlichen Respekt vor den fremden Überzeugungen, sondern auch die Bereitschaft, den Zweifel an der eigenen Überzeugung zuzulassen. Es geht um die Möglichkeit des Zweifels, nicht um die Aufgabe einer eigenen Position - nur diejenigen, die eine eigene Position behaupten, können überhaupt tolerant gegenüber einer anderen sein. Wer tolerant ist, verlässt nicht den ergebnisoffenen mittleren Bereich der Kommunikation, in dem gewalttätige Intervention ausgeschlossen ist und in dem die Versuche nicht aufhören, die eigene Überzeugung in die des Anderen zu übersetzen. Und umgekehrt.


Literaturverzeichnis
Jan Assmann: "Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus". München 2003.
Shmuel N. Eisenstadt: "The Axial Age - The Emergence of Transcendental Visions and the Rise of Clerics", in: European Journal of Sociology 23 (1982), S. 294-314.
Karl Jaspers: "The Axial Age of Human History," Commentary 6 (1948), S. 430.
Claude Lévi-Strauss: "The view from Afar." New York 1985.
Rolf Schieder: "Sind Religionen gefährlich?": Berlin 2008.