Essay

Die rive gauche liegt jetzt an der Themse

Von Naomi Buck
15.05.2006. Timothy Garton Ash hat im Guardian erklärt, warum die wichtigsten Intellektuellen Europas jetzt an der Themse leben: Sie können so gut Englisch.
Timothy Garton Ash, Historiker, Akademiker, Journalist, Kommentator und selbstredend großer Geist, Denker und Experte, erklärte kürzlich (hier) im Guardian, warum das Wörtlein "Intellektueller" in dieser Liste fehlt. Die Briten, schreibt er, bezeichnen sich nur sehr ungern als Intellektuelle. Das Wort hat einen unangenehmen Beigeschmack von Kontinent, verworrenen Theorien und allem was unpraktisch ist.

Doch obwohl die Briten ihre eigene Intellektualität leugnen, argumentiert Garton Ash weiter, haben sie davon mehr als ihre europäischen Kollegen. Auf der South Bank der Themse gibt es mehr intellektuelle Aktivitäten als auf der Rive Gauche in Paris, behauptet er.

Es wird Garton Ash weder überrascht noch enttäuscht haben, dass sein Heber mit einem französischen Schmetterschlag beantwortet wurde. Er kam von der London-Korrespondentin der Liberation, Agnes Poirier, die freundlich betont, dass der Begriff aus Frankreich stammt und jeden meint, unabhängig von der Schicht, der die öffentliche Debatte sehr wichtig nimmt - nur nicht in Großbritannien. Laut Poirier glauben die Briten, "sich entschuldigen zu müssen wenn sie etwas Intelligentes sagen", sie sind Sklaven des "ungezügelten Imperialismus der englischen Sprache" und leben im inselartigen Glauben an ihre eigene Größe. Frau Poiriers Flussuferwanderungen haben ergeben, dass die Fenster der Rive Gauche offen für die Welt sind, während die an Londons South Bank geschlossen sind.

Es wäre hilfreich mehr über den intellektuellen Seismografen und den Zollstock zu wissen, den Garton Ash und Poirier jeweils bei sich haben. Intellekt zu messen scheint auf jeden Fall eine zunehmend populäre Freizeitbeschäftigung zu sein. Vergangenen Herbst veröffentlichten Prospect und Foreign Policy eine Liste der 100 wichtigsten Intellektuellen der Welt. Die Liste wurde als westlich, sexistisch, rassistisch und völlig zufällig kritisiert. Die am einfachsten nachzuweisende Verzerrung ist diejenige zu Gunsten der Englischsprechenden.

Die Komplexität von ägyptischstämmigen, in Amerika ausgebildeten britischen Staatsbürgern (mit einer portugiesischen Gattin und trinationalen Kindern) mehr schlecht als recht berücksichtigend, führte die Liste 38 Amerikaner und 14 Briten unter den 100 wichtigsten Intellektuellen der Welt auf. Deutschland und Frankreich wurden vier respektive drei Plätze zugestanden.

Veranschaulicht das mehr als nur die Adressbücher der Urheber? Bringt es irgendwas, einmal abgesehen von einer Flut von Kommentaren derjeniger, die sich auf oder fast oder gar nicht auf der Liste wiederfanden, die aber - in guter intellektueller Tradition - die öffentliche Debatte wichtig finden?

Vielleicht nicht. Einige Monate später aber wurde Garton Ash nichtsdestotrotz nicht nur mit einem französischen Schmetterball, sondern auch einem ausgiebigen Schlagabtausch zwischen Guardian-Lesern bedacht.

Im Diskussionforum zu Garton Ashs Artikel werden so aussagekräftige Tatsachen präsentiert wie die unterschiedliche Buchdichte in französischen und englischen Wohnzimmern. Ein Leser bricht eine Lanze für Garton Ash und entwickelt die These, dass die größten Ideen der Welt in englischen Pubs entstanden sind, weil aber ihre Urheber am Ende des Abends so sternhagelvoll waren, haben sich diese intellektuellen Schätze einfach in die britische Nacht verflüchtigt. Anders bei den Europäern, die sich mit Kaffee und Zigaretten begnügen.

Im Verlauf der Diskussion beim Guardian wandelt sich die Kultur der Debatte in eine Debatte über die Kultur. Eine Aufführung der "Vagina Monologe" in einer französischen Provinzstadt wird als Beweis angeführt, dass die Franzosen tatsächlich sehr weltoffen sind und ein "Obdachloser in Leeds, der ab und zu seine Lyrik auf einer Lesebühne vorträgt", wird als eine intellektuelle Größe der Gegenwart vorgestellt, der "Noam Chomsky in einer offenen Diskussion alt aussehen lassen würde".

Derartige Diskussionen wirken so erhellend wie der Grund jener undankbaren Abfalleimer, in denen sie unweigerlich landen. Aber allein die Tatsache, dass die Kommentare nicht aufhören, weist darauf hin, dass noch mehr dahinter stecken muss.

Einerseits zeigen sie, dass es trotz des Geredes von unserer globalisierten transnationalen postmodernen Welt immer noch ein paar Knöpfe gibt, die, wenn sie gedrückt werden, sehr landestypische Reaktionen hervorrufen - selbst von unseren aufgeklärtesten Bürgern, wie auch immer sie sich nennen mögen. Diese Knöpfe gibt es beim Fußball, Biermarken, beim relativen Sexappeal von Politikern und intellektueller Macht. Das ganze anthropologische Gewäsch von hybriden, selbstkonstruierten, postnationalen Identitäten kann man vergessen, hier haben wir es mit französischen Intellektuellen und britischen Eierköpfen zu tun.

Ist das so? Geht es hier wirklich nur um nationale, linguistische oder kulturelle Kategorien? Garton Ash schreibt: "Durch die englische Sprache und den intensiven kulturellen Austausch über den Atlantik, sind wir nicht nur an die großen Debatten innerhalb der USA angeschlossen, sondern der ganzen englischsprachigen Welt. Das Internet und die Blogosphäre bieten außergewöhnliche Möglichkeiten für jeden denkenden Menschen, der sich als (öffentlicher) Intellektueller ausprobieren will. Wenn man Interessantes zu sagen hat, wird sich eine Öffentlichkeit einstellen - nicht nur eine britische, sondern eine weltweite."

Hier trifft Garton Ash einen Nerv, und es ist ein empfindlicher in einem zunehmend vernetzten Universum. Auch wenn das Internet vielleicht nicht die sinnliche Anmutung einer Papyrus-Rolle, eines Alpenhorns oder einer Druckpresse besitzt, ist es doch das schnellste und weitreichendste Medium, das die Welt je gekannt hat, und stellt so eine in dieser Qualität unerhörte Bühne für die öffentliche Diskussion zur Verfügung. Vielleicht müssen sich die Briten an den Begriff vom Intellektuellen gewöhnen, weil sie in ihren Streifzügen durch den Cyberspace auf immer mehr solcher Selbsternannten treffen werden.

Die lingua franca des Internets ist dabei das Englische. Das ist so, unabhängig von der Frage, welche Kombination aus historischen Umständen, finanziellen Strömen, politischer Vorherrschaft und technologischen Plünderungen diese Situation herbeigeführt haben oder verhindert hätten.

Damit geraten Personen, die nicht auf Englisch sprechen, arbeiten oder publizieren, aber eine zentrale Rolle spielen wollen, ernsthaft ins Hintertreffen. Nichts weist darauf hin, dass die kulturelle Produktion und intellektuelle Aktivität in der nichtenglischen Welt weniger lebhaft, kreativ oder bedeutend ist als jene im englischen, aber alles deutet darauf hin, dass sie ein kleineres Publikum erreicht. Sie belegt auf jeden Fall nicht sehr viel Platz auf dem Radarschirm jener Institutionen, die die öffentliche Meinung merklich beeinflussen können - siehe die Prospect-Liste.

Wer mit englischen Schwimmflossen auf die Welt gekommen ist, bevor er in das Meer aus Sprachen und Kulturen geworfen wurde, das Europa und die Welt ausmacht, mag ein schlechter Ratgeber sein. Das nicht sehr tiefgründige Sprichwort "Wenn Du sie nicht schlagen kannst, lauf zu ihnen über" kommt einem in den Sinn. Vielleicht tröstet der Gedanke, dass das Englische schon von jeher das "sashaying", "reconnoitring" und "kowtowing" praktiziert hat. Es weiß, wie man sich schamlos bei anderen bedient, aber auch wie man integriert, teilt und reift - mit Würde oder ohne. George W. Bush, der einmal gesagt haben soll, dass es kein Wunder sei, dass die Franzosen kein Wort für entrepreneur haben, sollte nicht als Maßstab gelten. Die meisten von uns verstehen, was ein Mischmasch-, Potpourri- und Tutti Frutti-Englisch ist - und was es bedeutet. Und vieles, was im Englischen "de rigeur" ist, kommt aus Poiriers Terrain.

Der ungezügelte Imperialismus, von dem sie spricht, war so schlecht nicht. Englisch ist immerhin die Sprache, in der sie nun arbeitet.

Der Begriff des "öffentlichen Intellektuellen", sagt Timothy Garton Ash in seinem Artikel, ist ein "Pleonasmus", der des "britischen Intellektuellen" gelte dagegen als "Oxymoron", jedenfalls bisher. Wie auch immer: Der Hut ist in den Ring geworfen. Jetzt gilt es zu parieren. Am besten auf Englisch.

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Naomi Buck ist Redakteurin von signandsight.com.