Bücher der Saison

Sachbücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
06.11.2017. Sie sind zwar alle untergegangen - aber diese Leichen leben noch: Karl Marx, der Marxismus, der Sozialismus, der Kommunismus. Alle werden bedacht - unter anderen von Jürgen Neffe, Karl Schlögel, Christina Morina. Und Beethoven muss feststellen, dass es Götter neben ihm gibt.
Karl Marx, der Sozialismus, der Kommunismus

Erstaunlich, wie sich Jubiläen manchmal ballen. Gerade jährt sich zum hundertsten Mal die Oktoberrevolution. Karl Marx' 200. Geburtstag am 5. Mai 1818 rückt näher. Vor 150 Jahren erschien zum ersten Mal das "Kapital". Eine ganze Flut von Neuerscheinungen beschäftigt sich aus unterschiedlicher Warte mit diesen Phänomenen. Die Qualität und der Umfang der Bücher zeigen, dass die Auseinandersetzung bald dreißig Jahre nach dem Mauerfall fällig ist.

Auf Gerd Koenens globalgeschichtliche Gesamtdarstellung "Die Farbe Rot" hatten wir im Bücherbrief des letzten Monats bereits hingewiesen: Koenen beginnt mit dem Gilgamesch-Epos - nicht von ungefähr, denn es geht ihm darum, den Kommunismus in die Geschichte millenaristischer Bewegungen einzuordnen. Wie ein stärker ausgearbeitetes Kapitel aus dem Buch mutet nach der Beschreibung Patrick Eiden-Offes Studie "Die Poesie der Klasse" an. Der Autor untersucht hier zum Gefallen Thomas Steinfelds in der SZ den frühen romantischen Antikapitalismus. Im Interview mit dem Freitag erläutert der Autor, was er mit romantischem Antikapitalismus meint und vergleicht die Situation im 18. Jahrhundert mit dem Heute.

Als Ergänzung zu Koenens Generalabrechnung dürfte es sich empfehlen, Karl Schlögels "Das sowjetische Jahrhundert" zu lesen - vom Umfang genauso monumental, vom Ansatz aber miniaturistisch: "Jedes Imperium hat seinen Sound, seinen Duft, seinen Rhythmus, der auch dann noch fortlebt, wenn das Reich aufgehört hat zu existieren", heißt es im Klappentext: Schlögel hebt den Stein, unter dem der Kommunismus begraben ist, und inspiziert das darunter zum Vorschein kommende Gewimmel. Alles kommt vor in diesem "Museum der Sowjetzivilisation", schreibt der hingerissene Jens Bisky in der SZ: Schlögel erzähle vom Gulag und vom Terror, natürlich, aber auch vom Parfüm "Rotes Moskau", vom Wohnen in der Kommunalka. Sachlich brillant und erzähltechnisch für "literarische Gourmets" geschrieben, lobt auch Michael Thumann in der Zeit.

Mehrere Bücher bahnen den Weg von Karl Marx bis zum Kommunismus. Rudolf Walther lobt in der taz Gareth Stedman Jones' ebenfalls monumentale Marx-Biografie vor allem wegen des neuen Blicks auf Marx' Schriften - Jones sei ein virtuoser Leser, der neue Erkenntnis der Mega-Gesamtausgabe zu nutzen wisse. Hinzuweisen ist auch auf Jürgen Neffes Marx-Biografie bei C. Bertelsmann, die auf ein breiteres Publikum zielt und Marx in die Ideen- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts einbettet: Beim MDR wurde die Biografie vorgestellt, und Neffe spricht über den Ansatz seiner Biografie. Im Handelsblatt lobt Michael Brackmann die "brillante Marx-Analyse" Neffes, der zeige, "dass Marx' oft nur fragmentarische Schriften keine geschlossene Ideologie bilden, mehr einer Baustelle als einem fertigen Gebäude gleichen". Die nötige Brücke von Marx ins 20. Jahrhundert schlägt dann Christina Morina in "Die Erfindung des Marxismus - Wie eine Idee die Welt eroberte" Der Titel übertreibe zwar etwas, schreibt der bekannte Historiker Jürgen Osterhammel in der FAZ, aber die Historikerin mache die Entstehung des Marxismus in seinen führenden Köpfen auch biografisch und historisch und menschlich durchaus anschaulich.


Weitere historische Neuerscheinungen

Ideengeschichtliche Reflexionen über ein bestimmtes Jahr erlauben es, Geschichte als eine vergangene Gegenwart wahrzunehmen, in eine versunkene Aktualität abzutauchen und nach dem Modell der Begegnung eines Regenschirms und einer Nähmaschine auf dem Operationstisch Ungleichzeitigkeiten aufzuzeichnen. Hans Ulrich Gumbrecht hat es einst mit dem Jahr 1926 getan, Florian Illies mit 1913. Marie-Luise Knott legt jetzt in "Dazwischenzeiten"  vier Essays über das Jahr 1930 vor und erkundet diesen Moment in den Werken und Leben von Erwin Piscator, Karl Wolfskehl, Bertolt Brecht und Paul Klee. Knotts Stärke liegt in der "Ausstellung von Ambivalenzen" über alle Streitigkeiten hinweg, lobt Marcel Lepper in der FAZ. Und nebenbei erfährt man, dass Piscator sich im Jahr 1930 mit Joseph Goebbels zu einem gepflegten Radiogespräch (oder genauer zu einem Vorgespräch) getroffen hat. Ähnlich seltsame Begegnungen findet man in Daniel Schönpflugs "Kometenjahren" um 1918, etwa die des jungen Ho Chi Minh mit dem Meisterkoch Escoffier, bei dem er für kurze Zeit in einem Londoner Palasthotel lernte. Alles in allem goutiert SZ-Kritiker Stephan Speicher diesen Rundgang durch ein Jahr, der ihm allerdings gerade bei den Ausflügen nach Indien und Vietnam auch etwas überdehnt scheint.

Unter den weiteren historischen Neuerscheiungen sind zwei Bücher über den Dreißigjährigen Krieg anzuzeigen, Peter H. Wilsons "Der Dreißigjährige Krieg - Eine europäische Tragödie" ein Standardwerk, wenn auch schwach in Kulturhistorie, konstatiert Andreas Kilb in der FAZ, der gleichzeitig auch Herfried Münklers historischen Versuch "Der Dreißigjährige Krieg - Europäische Katastrophe, deutsches Trauma 1618-1648" empfiehlt.

Außerdem lesenswert: Robin Lane Fox' neue Biografie über Augustinus, die laut Hartmut Leppin in der FAZ zugleich ein lebendiges Bild des späten Römischen Reichs bietet.


Musik

Merkwürdig, man kann andere Götter neben Beethoven zulassen? Martin Geck tut es in seiner neuen Biografie und Rezensent Jan Brachmann findet es in der FAZ sogar wohltuend, denn Geck verteidige zugleich auch Beethovens Größe (ebenso merkwürdig: kann man die denn bestreiten?) Brachmann schätzt an der Biografie, wie Geck den Komponisten in den Kontext einbettet, nicht immer systematisch, aber anregend. Noch mehr schätzt er, wie auch Johan Schloemann in der SZ, wie Geck über bestimmte Werke spricht. Bei Brachmann ist es die Fünfte. Schloemann verliebt sich in Gecks Interpretation von Beethovens Achter, in der der Komponist das heroische Programm aus der Frühzeit nicht ohne Grausamkeit gegen sich selbst ironisiere. Merkwürdig übrigens auch, dass man zu dieser Biografie über Google nicht ein einziges längeres Gespräch mit dem Autor in unseren geschätzten öffentlich-rechtlichen Programmen findet - so ein schönes Dreistundengespräch mit viel Musik, wie es das früher mal gab.

Und noch einer, der so ein Gespräch verdiente: der streitbare Impresario Berthold Seliger, ein Kritiker des Musikbetriebs, der übrigens beide Seiten kennt, U und E. Allerdings sind die Öffentlich-Rechtlichen womöglich Teil des Problems, das Seliger in "Klassikkampf" über den alternden E-Musik-Betrieb beschreibt - oder sollten sie nicht eher die eigentliche Antwort darauf sein? Seliger hat nicht immer eine gute Meinung von den Sendern, wie er mal ziemlich witzig im Perlentaucher darlegte, aber bestimmt von ihrem Potenzial! Auch wer nicht wie Seliger der Meinung ist, dass "der unkritische Kulturkonsument ein Produkt des Neoliberalismus" ist, wird seine Beschreibung in vielen Punkten teilen, schreibt Werner Theurich bei Spiegel online, der erleichtert ist, dass Seliger die Lösung nicht im Schielen auf die Masse sieht. FR-Rezensent Stefan Michalzik möchte "Klassikkampf" gleich zur Pflichtlektüre für jeden Kulturpolitiker machen.

Garantierend empfehlenswert auch Stephon H.S. Alexanders "The Jazz of Physics" über John Coltranes musikalische Annäherung an Einstein, die der Autor weiter entwickelt. Und Norbert Abels' Britten-Biografie die Hans-Klaus Jungheinrich in der FR sensibel und in ihren Einblicken in Brittens Leben gut ausbalanciert findet zwischen sexualanalytischer Offenheit und allgemeinmenschlicher Orientierung. Das Buch gehört für Jungheinrich zum Gründlichsten über Britten in deutscher Sprache, wissenschaftlich sorgfältig, quellenstark und fern von jeder lüstern-denunziatorischen Enthüllungspraxis, meint er.


Kulturgeschichte

Fasziniert haben die Kritiker Thomas Machos Kulturgeschichte des Selbstmords gelesen: "Das Leben nehmen" verbindet in loser Chronologie Fallgeschichten, historische Diskurse und kulturelle Betrachtungen. Macho lässt die großen Theoretiker zu Wort kommen, Jean Améry, Michel Foucault und Emile Durkheim, und behandelt den Suizid in all seinen Facetten: als psychische Katastrophe, als romantischen Liebestod, Märtyrertod und terroristische Inszenierung. In der SZ betont der Schriftsteller Georg Klein in seiner eingehenden Besprechung des Buches vor allem den großen Bruch, den die Moderne brachte: Das Leben gehört nicht mehr Gott oder König, sondern dem Menschen selbst, er darf es sich also auch selbst nehmen. Klein attestiert dem Buch einen geradezu "gefährlichen Reiz". In der FAZ nennt Petra Gehring es ein großes Werk, das sie besonders für seine Milde und seine Diskretion schätzt. Im Interview mit dem Deutschlandfunk Kultur plädiert Macho dafür, neben die Prävention auch "Respekt und Anerkennung" des Selbstmords zu stellen. Hingewiesen sei schließlich noch auf "Kultur" von Terry Eagleton, der seine These, wonach Kultur als soziales Unbewusstes fungiert, laut FAZ mit zauberischer Leichtigkeit entfaltet.

Biologie

In der SZ hat der bekannte Ökologe Josef H. Reichholf, selbst Autor eines Buchs über Krähen, Jennifer Ackermans "Die Genies der Lüfte - Die erstaunlichen Talente der Vögel" wärmstens empfohlen: Es ist offenbar eine Erkenntnis der letzten Jahre, dass viele Vögel eine erstaunliche Intelligenz besitzen, mit Werkzeugen hantieren und zu Abstraktion fähig sind. Durch viele eigene Recherchen und Gespräche mit Forschern schaffe die Autorin Einblick in "Vogelgehirne, Sozialverhalten, Gesänge und Ästhetik beim Nestbau". FAZ und NZZ schließen sich mit sehr positiven Rezensionen an. Einziger Kritikpunkt: Sowohl Thomas Weber in der FAZ als auch Jürgen Brocan in der NZZ vermissen ökologische Aspekte des Themas, etwa über die Bedrohung des Lebensraums der Vögel.

Sehr lesenswert auch laut Julia Fischer in der FAZ Robert M. Sapolskys Streifzug "Gewalt und Mitgefühl - Die Biologie des menschlichen Verhaltens" durch das dunkle Grenzgebiet zwischen Biologie, Soziologie und Psychologie. Und ein prachtvoller Band mit Naturzeichnungen des Künstlers, Philosophen, Arztes und Meeresforschers Ernst Haeckel, dessen "leuchtende Discoquallen" und "Rokoko-Koketten" nicht nur Naturwissenschaftler begeisterte sondern auch Künstler wie Munch, Klimt oder Max Ernst


Digitalisierung

Kaum ein Thema bringt divergierendere Meinungsäußerungen in die Agora als die "Künstliche Intelligenz". Zu den großen Warnern gehört ausgerechnet der Techno-Visionär Elon Musk - in Vanity Fair kann man sich über "Elon Musk's Billion-Dollar Crusade to Stop the A.I. Apocalypse" informieren. In Deutschland gehört Yvonne Hofstetter zu den prominenten Warnerinnen. Der Perlentaucher kann 34 Bücher zum Thema auflisten - aber Vorsicht: Es lädt zum Schwadronieren ein. Zugleich liest der hilflose Konsument aber immer wieder Artikel von Abwinkern, die die Bocksgesänge für übertrieben halten. Da mag John Brockmans Reader "Was sollen wir von Künstlicher Intelligenz halten?" Orientierung bieten. Rezensent Alexander Armbruster fand in der FAZ Antworten verschiedener Fachleute, die Lesern Anregung für weitere Erkundung bieten dürften. Zu einem verwandten Thema wird in der Zeit außerdem das Buch des Grünen-Politikers Malte Spitz "Daten - das Öl des 21. Jahrhunderts?" empfohlen.