Bücher der Saison

Lyrik

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
09.11.2020. Marcel Beyer aktiviert den Dämonenräum- dienst. Volker Sielaff erscheint barfuß vor Penelope. Zum Kennenlernen gibt es ausgewählte Gedichte von Elke Erb, Ernst Herbeck, Jehuda Amichai und Margaret Atwood. Und gleich drei frische Poetiken von Anne Carson.
Der Lyrikband der Saison ist ohne Frage Marcel Beyers "Dämonenräumdienst" (bestellen). Kommt ja nicht so oft vor, dass ein Gedichtband in allen überregionalen Tageszeitungen, im Deutschlandfunk und im Perlentaucher besprochen wird. Mit Beyer unternehmen die Rezensenten Ausflüge zu Elvis, Moshammer, Coleridge, auf den Wertstoffhof und zu Pferdekrimis. Alle 76 Gedichte sind aus zehn Vierzeilern gemacht. "Eine sehr feste Form", notiert im Perlentaucher Marie Luise Knott, die auch den "herrlichen Taumel der Assoziationen" bewundert, "der in nicht enden wollenden strophenübergreifenden Enjambements sein formales Pendant hat". FR-Kritiker Martin Oehlen zitiert begeistert Beyers fantasievolles Vokabular wie "Grützensauerstoff", "Strahlungsvollkost" oder "Metzgerhandy". Ja, wo "holde Schwäne" zu "hohlen Schweinen" werden, geht auch Welt-Kritiker Richard Kämmerlings beschwingt mit.

Viel Lob gab es auch für Volker Sielaffs "Barfuß vor Penelope" (bestellen). Sielaff ist in der literarischen Welt eine Ausnahme, meint Michael Braun im Dlf Kultur. Zum einen Ausnahmetalent, zum anderen ausnehmend zurückgezogen von der Geschäftigkeit des Literaturbetriebs, arbeitet er an einem poetischen Programm, das der hin- und mitgerissene Braun als "Wiederverzauberung der Welt" beschreibt. Dichterkollege Mirko Bonné freut sich der FAZ über Volten zuhauf in Sielaff liedhaften Liebesgedichten ("Aus euren Sottisen mache ich Feuer / Und trage in mir eine Welt: // Ich bin mir geheuer", zitiert Bonné), den "Biografiegedichten" zu Ball, Malewitsch oder Ferdinand Sauerbruch oder in den Reflexionen über die Wende und Lausitz.

Anne Webers "Annette, ein Heldinnenepos" (bestellen) ist zwar schon im Frühjahr erschienen, aber wir weisen gern noch einmal auf dieses im Oktober mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnete Buch hin, das in Versform vom Leben der Résistance-Heldin Anne Beaumanoir erzählt: Ohne Reimzwang, festes Metrum und "historischen Muff", dafür mit großer Sprachkunst, versichern die Kritiker, die fast durchweg mit dem Preis einverstanden waren. Hingewiesen sei auch noch auf "Mein Leben im Schlaf" (bestellen) der englischen Dichterin Jo Shapcott, deren Verwandlungskunst und Witz die FAZ suchterzeugend findet, und Olaf Veltes Band "Schmales Licht" (bestellen), das die FR auf lyrische Streifzüge durch das "Bauernland" im Taunus mitnimmt.

Die 1938 geborene Elke Erb hat in diesem Jahr - endlich - den Georg-Büchner-Preis erhalten. Ein guter Einstieg in ihr Werk bietet "Das ist hier der Fall" (bestellen) mit ausgewählten Gedichten aus 44 Jahren. Wie Erb etwa die Syntax sprengt und Mallarmé nach Prenzlauer Berg holt, wie sie in den frühen Gedichten die Ratlosigkeit der Menschen in der DDR abbildet und wie sie immer wieder penibel und bewusst Spracharbeit leistet, findet FR-Kritiker Eberhard Geisler enorm. In der NZZ bewundert Paul Jandl die "radikale Offenheit", mit der Erb der Welt begegnet - zu DDR-Zeiten ebenso wie heute. Immer gern annoncieren wir einen neuen Band von Friederike Mayröcker: "da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete" - allein dieser Satz lässt einen ja schon die Hand ausstrecken. Literarische Pyrotechnik, verspricht ein euphorisierter Tobias Lehmkuhl in der SZ (bestellen).

Empfohlen werden außerdem Ernst Herbecks "Der Hase!!!!" (bestellen), ausgewählte Gedichte zum 100. des österreichischen Lyrikers, der einen Großteil seines Lebens in der Irrenanstalt verbrachte. Taz-Kritiker Thomas Schaefer bewundert die "eigenwillige Logik", "abgründige Komik" und "befremdliche Weisheit" dieser Gedichte, die von Jandl, Sebald und Roth bewundert wurden und zu denen Clemens Setz ein Vorwort geschrieben hat. Das kam überraschend: Auch Margaret Atwood hat Gedichte geschrieben, wie man in dem Band "Die Füchsin" (bestellen) eine Auswahl aus den Jahren 1965-1995 lesen kann. Unsentimental und lustvoll, lobt in der FAZ Tobias Döring. Der Band ist zugleich eine Werkschau der deutschen Lyrikszene, die hier als Übersetzerteam antritt, erklärt Jörg Magenau im Dlf Kultur. Und noch eine Kostprobe: Die in "Offen Verschlossen Offen" (bestellen) versammelte Auswahl von Gedichten des 2000 verstorbenen israelischen Lyrikers Jehuda Amichai, der 1924 in Würzburg als Ludwig Pfeuffer geboren wurde, bevor er mit seiner Familie in den 30ern nach Palästina floh, wo sie den Namen Amichai annahmen. Hier ein Zitat aus dem Klappentext: "Als ich ein Kind war", heißt es im ersten Gedicht, "standen Gräser und Masten an der Küste / und wenn ich dort lag, / unterschied ich zwischen ihnen nicht / denn alle fuhren sie hinauf in den Himmel über mir. / Bei mir waren nur die Worte meiner Mutter / wie eine Scheibe Brot in raschelndem Papier / und ich wusste nicht, wann mein Vater zurückkommt / denn jenseits der Lichtung lag noch ein Wald". Der Band lässt für Carsten Hueck im Dlf Kultur nur einen Wunsch offen: mehr.

Und dann ist da noch Anne Carson. Gleich drei Bände sind aktuell von der kanadischen Autorin erschienen, die Lyrik, Essay und Literaturgeschichte verbinden. "Irdischer Durst" (bestellen) versammelt Gedichte, Essays und Aphorismen, die mit Textfragmenten des griechischen Dichters Mimnermos um das elementare Bedürfnis nach dem schöpferischen Prozess und seine Rätselhaftigkeit kreisen, erklärt in der taz Fokke Joel. "Der bittersüße Eros" (bestellen), ein wilder, völlig unsentimentaler Ritt durch die Literaturgeschichte: Von Sappho, Sophokles und Homer über Kafka bis Kundera schauen wir dem bittersüßen Eros über die Flügel, wie er überall sein "süßes Feuer" versprüht", schreibt Samir Sellami in der SZ. Und schließlich "Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte" (bestellen), ihre Berliner Rede zur Poesie, die man sich unbedingt auch auf Youtube ansehen und -hören sollte:



Weitere Lyrikempfehlungen finden Sie in Marie Luise Knotts Tagtigall-Kolumne.