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Geschichte

Zum historischen Buch der Saison wählen wir Russell Shortos "New York - Insel in der Mitte der Welt" (bestellen), nicht so sehr wegen der Relevanz seines Themas - die niederländischen Ursprünge New Yorks -, sondern weil ihm etwas attestiert wurde, wonach wir uns alle sehnen: "lustvoll saftige Geschichtserzählung". So lobt Verena Lueken, die ehemalige Kulturkorrespondentin der FAZ in New York, Russell Shortos Rehabilitation eines fast vergessenen Teils der New Yorker Geschichte: Schon vor der Mayflower gab es Siedler in New York, und sie kamen keineswegs aus England, sondern aus Böhmen, Norwegen, den Niederlanden oder Afrika. Sie waren es, die den genius loci, die wilde kulturelle Mischung der Stadt, begründeten, und nicht die puritanischen Pilgerväter aus England. Die Geschichte der USA muss nach diesem Buch nicht umgeschrieben werden - aber Shorto hat sie um einige lesenswerte Kapitel ergänzt, bemerkt Lueken.

Jacques Le Goff ist vielleicht der berühmteste lebende Mittelalter-Historiker. Er ist ein Vielschreiber, sein Buch über "Das Lachen im Mittelalter" (bestellen) wurde in der SZ gerade streng als oberflächlich gegeißelt. Aber "Die Geburt Europas im Mittelalter" (bestellen) wurde einhellig empfohlen, auch von ausgewiesenen Mittelalter-Historikern wie Michael Borgolte, der Le Goffs großen Essay in der FAZ als Werk von "höchster Ambition" würdigte. Wie er berichtet, schildert Le Goff die Geschichte Europas im Mittelalter in sechs Perioden, stets bedacht, den Bereichen Politik und Kunst, Wirtschaft, Gesellschaft, Religion und Bildung gerecht zu werden. Faszinierend findet Borgolte vor allem Le Goffs Darstellung des Europas der Städte und Universitäten des 13. Jahrhunderts. Johannes Fried verweist in der SZ auf die Aktualität des Themas im Jahr der EU-Erweiterung und der Türkei-Debatten.

Auch der Kulturanthropologe Wolfgang Reinhard befasst sich in "Lebensformen Europas - Eine historische Kulturanthropologie" (bestellen) mit dem Herkommen und der Identität Europas, allerdings ganz anders als Le Goff, nämlich indem er europäische Lebensformen untersucht und darin Kontinuitäten und identitätsbildende Erfahrungen findet. Wolfgang Kaschuba zeigt sich in der Zeit tief beeindruckt von Reinhards anthropologischem Blick und seiner dichten Beschreibung von Kleidung und Essen, Gefühlen, Beziehungen, Arbeit, Ethik, Tod. Kurt Flasch, selbst ein führender Mittelalter-Historiker rezensierte das Buch für die FAZ und findet bei Reinhard eine neue Art, "Geschichte zu erforschen und darzustellen". Eine Begeisterungshymne hat Tim B. Müller in der SZ geschrieben. Sein Fazit: "In seiner Nüchternheit und Akribie, in seiner gedanklichen Strenge und seinem lakonischen Stil ist dieses Werk durch und durch deutsch und zugleich von weltoffener Eleganz, eine internationale Spitzenleistung."

Hingewiesen sei schließlich auf das Buch "Ungarn in der Nussschale" (bestellen), in dem es der ungarische Autor György Dalos schafft, 1000 Jahre ungarischer Geschichte auf 190 Seiten nachzuerzählen. Gewiss eine interessante Lektüre im Jahr des EU-Beitritts. SZ-Rezensent Andreas Dorschel lobte die Dichte des Buch und den ungarischen "Sinn für Tragikomik", der immer wieder aufblitze.


Biografien

Im letzten "Bücher der Saison" riefen wir den Herbst der Biografien aus. In diesem Frühjahr ist nicht so viel los. Zwei große Biografien seien aber herausgegriffen. 944 Seiten lang ist zum Beispiel die Kierkegaard-Biografie (bestellen) des dänischen Autors Joakim Garff, der zugleich die Werkausgabe Kierkegaards in Kopenhagen betreut. Ein Lob, wie es Magnus Schlette in der FR ausspricht, würde man vielleicht am wenigsten erwarten: "Garff ist ein witziger Erzähler." Zu Garffs besonderen Leistungen zählt Schlette, dass es ihm gelungen sei, die "Geschichte der Sublimierung einer Glücksverhinderung" zu erzählen, "ohne den faszinierenden Charakter Kierkegaards und die Bedeutung seiner Werke psychologistisch auf Urszenen der Traumatisierung zu reduzieren." Prägung durch den Vater, Liebesdramen, Genialität und Scheitern - Garff, Forschungsdozent an der Universität Kopenhagen, sei es gelungen, "material- und kenntnisreich" in die "letzten Winkel" der Subjektivität Kierkegaards vorzudringen, meint auch Manfred Geier in der SZ.

Eine Flut von Stresemann-Biografien soll es in den letzten Jahren gegeben haben, behauptet Eberhard Kolb in der FAZ - aber dieses Exemplar (bestellen) ist besonders lesenwert. Der Autor John P. Birkelund, der in den fünfziger Jahren als Marineoffizier in Berlin stationiert war, ist kein Fachhistoriker, berichtet der Rezensent, hat sich jedoch lange Zeit, zunächst im Rahmen eines Geschichtsstudiums in Princeton, später privat mit Stresemann befasst. Gelungen sei ihm ein "pointiertes Lebensbild", gut recherchiert und außerdem gut lesbar. Dass Stresemann wieder Konjunktur hat, konstatiert auch Anselm Doering-Manteuffel in der SZ, der Birkelunds "sachlichen, abgewogenen Darstellung" lobt.


Psychologie

In den Zeitungen wird zur Zeit etwas müde und akademisch über unser Hirn debattiert. Haben wir einen freien Willen, sind wir schuldfähig oder einfach nur durch die Neuronen unentrinnbar verschaltet? So lauten die Fragen des Professorenstreits. Paul Broks hat ein ganz anderes Buch über das Gehirn geschrieben: "Ich denke, also bin ich tot - Reisen in die Welt des Wahnsinns" (bestellen). Anhand einiger konkreter und faszinierender Fälle, in denen etwas im Gehirn nicht funktioniert, zeigt er den unendlich intrikaten Zusammenhang von Geist und Körper, in dem die obigen Fragen erst ihre Brisanz zurückerhalten. Caroline Neubaur fand dieses Buch in der SZ einfach "hinreißend". Dankbar konstatiert sie vor allem, dass Broks dem menschlichen Geist nicht das Geheimnis nimmt. Eine englische Leseprobe finden Sie übrigens hier.
Stress, Angst und Depression sind heilbar - und zwar ohne Medikamente und jahrelange Psychotherapie, behauptet der französische Neurologe und Psychiater David Servan-Schreiber. Wie, das beschreibt er in seinem Buch "Die neue Medizin der Emotionen" (). Sehr lesenswert findet das Elisabeth von Thadden in der Zeit. Denn Servan-Schreiber geriere sich nicht als neuer Guru der Alternativmedizin, sondern schildere eigene Erfahrungen und gebe so dem Leser das Gefühl, er werde behandelt wie "ein naher Verwandter". Leseproben aus dem Buch finden Sie hier.


Genetik und Genethik

Auch über das therapeutische Klonen und die Stammzellforschung wurde hier bis zur Erschöpfung und natürlich ohne Ergebnis debattiert. Da freut man sich doch, wenn statt eines zuständigen Journalisten, mal eine kompetente Forscherin die Fortschritte der Genetik aufgreift und mit ihrem Fachwissen verständlich zu machen sucht. Die Nobelpreisträgerin Christiane Nüsslein-Volhard legt in dieser Saison gleich zwei Bücher zum Thema vor, "Das Werden des Lebens - Wie Gene die Entwicklung steuern" und den Einführungsband "Von Genen und Embryonen", wo Nüsslein-Volhard für sensationelle 2,40 Euro (versandkostenfrei bestellen) alles erklärt, was man über embryonale Stammzellforschung, Klonen, künstliche Befruchtung wissen sollte. Ulrich Kühne bewundert die Forscherin in der SZ für die "Tugend der Unaufgeregtheit". Mehr im Detail schildert Nüsslein-Volhard das "Werden des Lebens" (bestellen) im gleichnamigen Band - hier scheut sie sich auch nicht zu zeigen, wie kompliziert diese Materie ist, die gern so einfach diskutiert wird. Axel Meyer bescheinigt der Autorin in der Zeit aber, dass sie immer an ihr Publikum denkt und um Verständlichkeit bemüht bleibt.


Mode

Der Bikini hat die Ehre, zu jenen Kleidungsstücken zu gehören, die vom Papst geächtet wurden. 1946 wurde er erfunden und nach dem Ort eines Atomtests getauft. Heute ist dieses Kleidungsstück weniger explosiv als zum Beispiel das Kopftuch, um das zur Zeit gestritten wird, aber doch immer noch wesentlich sympathischer. Beate Berger legt nun eine längst fällige Kulturgeschichte (bestellen) dieses Kleidungsstücks vor, die nach Auskunft von Dorion Weickmann in der SZ "witzig bebildert" ist und auf unterhaltsame und informative Weise die Karriere eines Modestücks erzählt. Der Rezensent versichert, dass alle wissenswerten Anekdoten zum Thema im vorliegenden Band versammelt seien.


Architektur

Über den Backstein, so stellten zwei verblüffte Kritiker in der NZZ und der FAZ fest, gibt es so gut wie keine Architekturbücher. Dabei stellen diese Steine seit dem alten Ägypten ein unendlich variiertes Material dar. Jürgen Tietz hebt in der NZZ hervor, dass der Kunsthistoriker und Architekt James W. P. Campbell im gleichnamigen Band (bestellen) nicht einfach chronologisch in der Auswahl seiner Beispiele für Backsteinbauten vorgeht, sondern diese immer auch im "Kontext der Entwicklungs- und Technikgeschichte" des Backsteins darstellt. Die dieser Monografie beigegebenen Fotos von William Pryce lobt Tietz als überaus "stimmungsvoll" und er sieht in ihnen den besonderen "Charakter und die spezifische Wirkung des Baumaterials" überzeugend wiedergegeben.

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