Michael Rutschky

Das Merkbuch

Eine Vatergeschichte
Cover: Das Merkbuch
Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
ISBN 9783518422656
Gebunden, 274 Seiten, 19,95 EUR

Klappentext

Der Vater, Jahrgang 1893, kleiner Angestellter bei einer großen Wirtschaftsprüfungsfirma, dokumentiert zwischen 1951 und 1973 sein Arbeitsleben in einer Serie von Notizkalendern. Zunächst bleibt rätselhaft, wozu er sie braucht: Um seinen Vorgesetzten jederzeit Auskunft über seine Arbeitsorte und -zeiten geben zu können? Um seine Einnahmen und Ausgaben unter Kontrolle zu halten? Oder gar, um sich des Aufschwungs zu vergewissern, den die junge Bundesrepublik unverkennbar nimmt? Und dann wirken sich die Merkbücher des Vaters auch noch als Vorbilder in seiner Familie aus. Mutter und Sohn beginnen ebenfalls, in Notizkalendern ihren Alltag aufzuschreiben, sogar ausführlicher als der Vater.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.12.2012

Ein bisschen merkwürdig ist das schon, in der Beziehung zum Vater den Saldo aufzurechnen, wie Hannes Hintermeier das macht, zumal es um Michael Rutschkys Vater geht. Dessen Merkbücher, Buchprüfer-Notizen aus der Wirtschaftswunderzeit, nichts von Belang eigentlich, nobilitiert der Sohn hier zum Anstoß für das eigene literarische Schaffen, wie Hintermeier feststellt, und zur kleinen Weltgeschichte. Von daher grüßt nicht nur der Vater aufgrund von dürrer Datenbasis (Spesenrechnung, Abfahrtszeiten etc.) aus den 50ern herüber, sondern auch Kuba-Krise, Nixon, ApO. Dazwischen wird für Hintermeier etwas zu viel montiert und spekuliert vom Autor - über amouröse Verhältnisse des Vaters und anderes Romanhafte mehr.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 06.11.2012

Was lässt sich nicht alles mit einem Roman anstellen, überlegt Willi Winkler. Oder mit dem Taschenkalender, in dem der Vater Zeit seines nüchternen Lebens Arbeitsaufträge und Abfahrtzeiten notierte. Was Michael Rutschky daraus gemacht hat, kommt dem Familienroman immer wieder nahe, aber rundet sich nicht wirklich dazu, wie Winkler erklärt. Zwar entdeckt er sozusagen zwischen den Zeilen des Buches eine kleine Geschichte der Adenauer-Republik, Bausparvertrag und Alltagsgrauen, eine Liebesgeschichte, einen Entwicklungsroman auch, den der Sohn stellvertretend für den allzu braven Vater träumt. Doch werden diese Zutaten laut Winkler nicht "ausgeschrieben". Zum Glück, meint der Rezensent, der im Buch doch ein gewaltiges zeitgeschichtliches Epos erblickt, aber eben ganz und gar nicht so banal wie ein Roman.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 03.09.2012

Frank Schäfer ist ganz hin und weg, derart geht ihm das Merkbuch des Sohnes Rutschky über die Merkbücher des Vaters Rutschky zu Herzen. Berührt stellt er fest, dass Michael Rutschky mit der akkuraten wie einfühlsamen Erkundung der Taschenkalender seines Vaters, eines Wirtschaftsprüfers, (wegen ihrer dokumentarischen Akribie nennt Schäfer es auch eine historisch-kritische Ausgabe) die Buchprüfertätigkeit des Vaters wiederholt, ja geradezu die eigene Schreibexistenz begründet. Anrührend erscheint Schäfer aber auch die Tatsache, dass hier einem riesigen Berufsstand die literarische Existenzberechtigung eingeräumt wird. Natürlich mit der Gabe von Rutschky junior. Laut Schäfer ist die nicht ohne, vermag der Autor doch, sogar die Lücken im Kalender zu füllen, indem er assoziiert und extemporiert - mentalitätsgeschichtlich, soziologisch, kulturhistorisch, politisch. Durch die Spiegelung des Großen im Kleinen entdeckt der Rezensent nicht nur den Zeitgeist, sondern eine ganze, wenngleich pointilistische Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 24.08.2012

Einen ambivalenten Eindruck scheint Michael Rutschkys "Merkbuch" bei Rezensentin Ruth Fühner hinterlassen zu haben. Einerseits spricht sie davon, dass der Autor hier aus Nichts Etwas bzw. aus Stroh Gold mache. Andererseits klingt dann doch auch ein wenig Bewunderung dafür an, wie er das macht. Die 22 Notizkalender von Rutschkys Vater, einem Buchprüfer, die der Autor nach dessen Tod gefunden hat, enthalten in ihren Augen keineswegs spannende private oder intime Geschichten, sondern beschränken sich auf knappe Notizen buchhalterischerischer Art. Doch gerade die buchhalterische Dürre der Aufzeichnungen scheinen ihr die Phantasie des Autors zu beflügeln und ihn zu allerlei Vermutungen über den Vater anzuregen. So entsteht für die Rezensentin am Ende eine "echte Hommage" und "Liebeserklärung" an den Vater.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 16.08.2012

Für Alexander Cammann hatte Michael Rutschkys mit seinem "Merkbuch" ohne Zweifel einen grandioser Einfall, indem es ausgehend von den Taschenkalendern seines Vaters, seiner Mutter und den eigenen minutiös die 1950er und 1960er Jahre rekonstruiert. Aus den Notaten von Warenpreisen und Terminen, Reisen und Beruflichem entsteht die Geschichte einer Kleinfamilie in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit, die durch fiktive Ergänzungen ihres Autors "Realität und Möglichkeit" eines hessischen Kleinstadtlebens rekonstruiert, so der Rezensent eingenommen. Was Rutschky vor aller Erinnerungsseeligkeit und Nostalgie bewahrt, ist seine an Benjamin und Kracauer erinnernde "Deutungskunst", die aus den alltäglichen Begebenheiten so etwas wie die Ethnologie des Alltagslebens der Zeit herausarbeitet, so Cammann beeindruckt. In seiner ruhigen Detailtreue verlangt er dem Leser unserer schnelllebigen Zeit Geduld und Aufmerksamkeit ab, aber in den Augen des begeisterten Rezensenten kann man jeder Epoche einen derart aufmerksamen Archäologen nur wünschen.
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