Vorgeblättert

Reinhard Baumgart: Damals, Teil 1

02.02.2004.
Gruppenbilder, späte Jugend
(Seiten 234 - 252).
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Im Herbst dieses neuen Jahres 1963 fuhr ich auf gut drei Monate zur Schreibklausur nach Berlin, wohnte als Stipendiat im Hotel am Steinplatz, wo damals alle abstiegen, die im Theater- oder Musik- oder Literaturleben der nun schon zwei Jahre eingemauerten Stadt ein Gastspiel geben sollten, ob Zadek oder Henze oder Grüber oder Hans Werner Richter. Es sei denn, man hatte wie Ingeborg Bachmann ein noch höher dotiertes, ein amerikanisches Stipendium und konnte sich eine Wohnung im Grunewald leisten. Falls man nicht ohnehin, wie damals die halbe Gruppe 47, in diesem westlich Berlin wohnte, das Äquidistanz zum Westen wie Osten versprach. Die Spuren und Wunden aus deutscher Vergangenheit und die Realitäten des Kalten Kriegs schienen hier deutlicher als der Glanz und Glamour des Wirtschaftswunders, und zugleich bot das unter Literaten beliebte, weil unzerstörte Friedenau den Charme eines altbürgerlichen Idylls. Wenn Grass, wie Enzensberger öfter reisend unterwegs, wieder einmal in Tempelhof gelandet war, dann versammelten sich die Freunde abends um ihn am Roseneck, und Günter mußte erzählen, wie?s war, wie?s steht, da draußen in der westlichen Welt, von der man so schön weit abgerückt schien. Aber zugleich war man eben nah an der Grenze zu einer noch fremderen Welt, zur DDR, und damit zu der sich nach Osten dehnenden Unendlichkeit des realen Sozialismus, eine der beiden weltweit gebotenen "Möglichkeiten zu leben", wie Uwe Johnson sie kühl und zurückhaltend genannt hatte. Denn gerade er hielt wohl beide für Unmöglichkeiten.

Johnson hatte eine Art sprödes Vertrauen zu mir gefaßt. Auf Abruf, versteht sich. Denn Verrat und Treubruch witterte er überall und jederzeit, das hatte ich schon bei unserer ersten Begegnung geahnt. Aber noch nicht, daß diese Empfindlichkeit all unsere späteren Krisen provozieren würde, ja daß Treue und Verrat als Grundkonflikt Johnsons ganzes Erzählen prägt und trägt. Am Abend unserer ersten Begegnung war er in München lesend mit Grass und Walser aufgetreten, und danach war ein Pulk von Wagen aufgebrochen zu einer kleinen Fete in einen Bungalow am Starnberger See. Wo Walser und der schon damals in seine schwarze Lederjacke fest eingeschlossene, späte Jüngling aus dem Osten uns Szenen einer Ehe vorspielten, denn in diesen Jahren traten sie beide auf als Paar, unzertrennlich, vertraut, doch oft gereizt. Wer dabei den männlichen, wer den ehefraulichen Part spielte, wurde spätestens klar, als Johnson in düsterer Lederjacke immer wieder bei dem ausschweifend brillierenden und flirtenden Walser auftauchte, um ihn zu erinnern an die versprochene Aufbruchszeit. Versprochen, gebrochen - irgendwann war Freund Uwe verschwunden, hinaus in die Nacht. Wo ihn nun der schuldbewußte Walser, gefolgt von zwei weiteren Wagen, auf dunklen Straßen zu suchen begann. Genauer schauen! hatte er uns an einer Kreuzung aus dem offenen Wagenfenster zugerufen. Und endlich tauchte sie auf, die dunkle Lederjacke, der kerzensteif durch die Nacht wandernde verratene Freund, der wortlos einstieg bei dem Verräter und, so hörten wir, weiter schwieg bis München.

Schweigen, Wortkargheit und dann, besonders spätnachts, eine jäh aus ihm herausbrechende Suada, ein Gewirr von Stimmen, englisch, berlinerisch, meekelnburgisch - diese für Johnson damals typische Mischung aus Kommunikation und Nichtkommunikation bestimmte auch unsere Berliner Treffen. Mittags trafen wir beide uns oft im Schultheiß am Heidelberger Platz, er nach seiner Romanarbeit an Zwei Ansichten, ich nach meinem Versuch im Hotelzimmer, mich mit Skizzen, Proben, Entwürfen in meinen dritten Roman hineinzufinden. Das war ihm so fremd wie mir seine damalige Methode, einen Roman ein Jahr lang nur sinnend, nichts notierend, stumm und konzentriert auszubrüten und erst dann ein Jahr lang aufzuschreiben. In diesen langen Meditationsphasen hatte er seine Geschichte und seine Figuren offenbar so tief verinnerlicht, daß sie ihm schließlich vorkamen wie real: er mußte sie nun "nur noch" aufschreiben, wie Erinnerungen.

An drei Wochenenden, jeweils einen Samstagnachmittag lang, waren wir verabredet zur Mauerschau, das hatte er mir als Berlinfremdling verordnet. Erst wurde ein Abschnitt im Süden, an Oberbaumbrücke, Spree und Moritzplatz, abgeschritten, dann ein Stück Mitte mit Brandenburger Tor und Bernauer Straße, und schließlich folgte eine Expedition hoch nach Norden, bis Tegelort, wo die Weltgrenze, die Mauer wieder unsichtbar im Wasser verlief. Wortkarger, spröder als an diesen Nachmittagen angesichts des hinter Stacheldraht, Wachtürmen und Beton abgeschirmten realen Sozialismus war Freund Johnson nie. Doch sie arbeitete in ihm, ahnbar, fast hörbar, diese stumme Wut auf den für ihn monströsesten, unbegreiflichsten Verrat, den dumpfen Bruch des Versprechens, die bessere, menschlichere "Möglichkeit zu leben" dort drüben einzurichten, im ersten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staat. Ich als Westdeutscher durfte diese DDR anders als damals die Westberliner besichtigen; an die träge schikanösen Kontrollen an den Übergängen konnte man sich gewöhnen. Drüben, weit draußen in Friedrichshagen wartete am Sonntag morgen der barock protestantische Bobrowski auf die westlichen und östlichen Freunde, es gab dampfende Kohlrouladen, Gelächter, Gespräche, es ließ sich also durchaus leben in solchen Nischen, mit Bobrowskis melancholischem Humor.

Aber wie konnte man die lebensgefährliche Mauer zwischen Ost und West niedriger halten oder wieder durchlässig machen? Sogar meinen Schwiegervater in Hamburg, diesen nur seinen Interessen nachschnürenden Geschäftsmann, trieb die Frage um. Er hatte die vage Idee, in Berlin ein Haus zu kaufen und als Ort für Ost-West-Gespräche zu stiften, und schickte mich auf Immobiliensuche. Jedes Wochenende studierte ich die Angebote aus den feinsten, teuersten Gegenden, in Grunewald und Dahlem, und besichtigte Seegrundstücke, leere, pompöse Villen mit Doppelgarage, drei Bädern und Schlafzimmern, alles zu Schleuderpreisen auf dem Markt im zweiten Jahr nach dem Mauerbau. Doch für meinen Hamburger Auftraggeber und seinen Patriotismus immer noch zu teuer. 

So blieb es bei meinen für die deutsche Einheit wenig effektiven Privatbesuchen drüben in dieser nahen Ferne, bei denen ich mich zu immer größerer Gelassenheit beim Grenzübergang trainierte. Auch als die Volkspolizei am Moritzplatz hinten in meinem VW einen Haufen von dort gelagerten belletristischen Leseexemplaren entdeckte: Was wollten Sie damit? Nichts, ein Versehen, ich hatte vergessen, sie in mein Hotelzimmer zu tragen. Titel um Titel wurden die dreißig bis vierzig Bücher auf einer langsamen Schreibmaschine registriert und dann einbehalten, um kurz vor Mitternacht dem Rückkehrer wieder ausgehändigt zu werden, der die Liste der treuhänderisch verwahrten Konterbande Titel für Titel noch einmal abzuzeichnen hatte. Nichts war also konfisziert worden, auch nicht die gefährlich linksabweichlerischen, trotzkistischen und pazifistischen Schriften. Hurra, Herr General! hieß ein Roman, der beim ranghöchsten Offizier in der dumpfen Baracke besonderen Unwillen und Verdacht erregt hatte.

West-Berlin aber erfreute sich seiner hochsubventionierten Kultur im Schatten der Mauer. Henze dirigierte die Uraufführung seiner vierten Symphonie und schenkte mir auf der Nachfeier in einer Villa am Hundekehlesee sein geschmeidiges Taktstöckchen. Ingeborg Bachmann strahlte, als mir dort ein Filmstar unter ihren Augen die Hand las und in ihr die Zeichen einer nahen verwirrenden Liebe. Es dauerte nicht lange, da klemmte eines Morgens unter dem Scheibenwischer meines Käfers der von dieser Handleserin schwungvoll beschriebene Zettel mit der erfüllten Prophezeiung: Ich liebe dich! Denn nun, in den frühen sechziger Jahren, war die Generation der Kriegskinder entschlossen, sich zu entschädigen für eine graue Jugend und spät nachzuholen, was sie damals und noch in den prüden Adenauerjahren versäumt hatte. 

Die Friedenauer Literaten und ihre Besucher schwärmten aus ins verschämte Berliner Rotlichtmilieu am Stuttgarter Platz, wo die Flipperautomaten standen, eine Kellnerin weit nach Mitternacht auf dem Tisch tanzte, Günter Eich mit den Zähnen nach ihren Knöcheln schnappte und Ilse Aichinger ihm lachend dabei zusah, während Peter Weiss engumschlungen Kluges Schwester Alexandra, den Star aus Abschied von gestern, im Slowfox übers Linoleum schob und Freund Roehler sich in eine echte Hure mit echtem Kind verliebte. Doch die Frau mit dem weiten, wie von Beckmann gezeichneten Backenknochengesicht tauchte jäh ab und mußte nun nächtelang in meiner Begleitung auf tristen Kneipenrundgängen gesucht werden, vergeblich. So daß Klaus anfing, Rosen für mich zu kaufen und mit mir zu flirten, was auch vergeblich blieb. 

Wir alle wollten noch einmal die zwanziger Jahre zurückholen nach Berlin - fauler Zauber der Ungleichzeitigkeit, schon wieder. Auch in meinem Hotel am Steinplatz, wo ich wie einst Joseph Roth oder Hermann Kesten das mir ungewohnte, fragwürdige Glück des Wohnens und Schreibens im Hotel genoß und immer schönere Zimmer bezog, mit dem Wunschziel vor Augen: das Regisseurszimmer, fünfzig Quadratmeter hoch über dem Steinplatz. Das bewohnte Hans Werner Richter, als ich am Abend des 22. November dort eintrat und ihn mit nassen Augen auf dem Sofa sah: Kennedy ist erschossen worden! Da hatte die Zeit uns doch wieder eingeholt. Ich hatte (wann?) Kennedys Berliner Auftritt in der Freien Universität miterlebt, während über die Flachdächer der Gebäude Agenten mit schwarzen Schußinstrumenten patrouillierten und die Blicke schweifen ließen über Menge in der Junisonne. Und nun begann sich unten auf der Hardenbergstraße ein schweigender Trauerzug zu formieren in Richtung Osten, anschwellend an der Gedächtniskirche, die Tauentzienstraße entlang, dann abbiegend nach Südosten, über die Martin-Luther-Straße zum Rathaus Schöneberg, neben mir verkrampft und zitternd Hubert Fichte, klaustrophob, eingekeilt in diesen schlurfenden Massen, er konnte es kaum aushalten, aber er wollte aushalten, für Kennedy, für Willy Brandt dort oben auf dem Schöneberger Rathausbalkon. Mit seiner heiseren Kampfstimme versuchte Brandt auszudrücken, was diese aus den amerikanischen, britischen, französischen Besatzungszonen Berlins Zusammengeströmten von ihm hören und mit ihm betrauern wollten - was war das? Das Ende einer Fata Morgana, der Hoffnung oder Möglichkeit, die geteilte Welt mit einem Schwung und von Westen aus zu überwinden?

Ein Jahr später sah und hörte ich dann Brandt zum ersten Mal von nahem, als sich eine Gruppe von 47ern um ihn in Berlin versammelte, um mit ihm gemeinsame Aktionen für die Bundestagswahl 1965 zu besprechen, Werbung für Die Alternative, wie der schon 1961 zusammengeschriebene und von Martin Walser herausgegebene Sammelband hieß, in dem ich nicht vertreten war. Ich spürte auch während der neuen Diskussion wieder, daß mir zwar viel gegen die abzulösende Regierung einfiel, zuwenig aber für die Alternative SPD. Doch gerade vor zu scharfer Polemik versuchte Brandt uns inständig zu warnen. Er scheute alle Aggression, sicher auch, weil er zu oft selbst verletzt worden war, weil er den Gegenangriff fürchtete. Wir laufen denen ins offene Messer, sagte er, erst leise, dann noch einmal lauter. Wir aber mit unserem Gratis- und Verbalmut hielten das für typisch sozialdemokratisch: immer fair und vorsichtig, kleinlaut und einsichtig, immer die Verlierer. Das letztere wurde auch im Herbst 1965 wieder wahr.

Doch in Bayreuth, ausgerechnet in Wagners nationalkonservativer Hochburg, versammelten sich Anfang September noch einmal die Sympathisanten für die Alternative SPD, um sich zu feiern als ein Bündnis von Kultur und Politik im Namen der Aufklärung. Brandt sprach wie immer leise, heiser, nachdenklich, um sich nur für einzelne emphatische Bekenntnissätze zu steigern. Hans Werner Henze aber warb leidenschaftlich und leuchtenden Gesichts für die Vision eines eurokommunistischen Friedensreichs, nur noch den Menschen und ihrem Glück gewidmet. Die gestandenen Sozis versuchten nicht zu seufzen angesichts so überschwenglicher Weltfremdheit. Auch die Stimmung und die Garderoben waren, wenn man den überlieferten Bildern trauen kann, wie Henzes Vision eher festlich und elegant italienisch als deutsch im Sinn der Wagnerstadt. Habe ich später Ingeborg Bachmann je noch so erlebt wie dort in Bayreuth zwischen Brandt und Grass und Henze und nun auf diesen Bildern, im vollen Vermögen ihrer Strahlkraft?

Denn strahlen konnte und wollte sie immer, auch wenn ihr oft Gemüt und Gesicht wegsackten in Verdüsterung und Verschlossenheit. Das Strahlen blieb ihre Mitgift, auch als ihr in der Trennungskatastrophe mit Max Frisch ihre "Güter genommen" wurden, wie es im Franza-Fragment heißt: "Mein Lachen, meine Zärtlichkeit, mein Freuenkönnen, mein Mitleiden, Helfenkönnen, meine Animalität, mein Strahlen". Was auffällt in diesem Katalog von Verlusten, ist das Wort "Animalität", genau dort, wo man ein konventionelles "Menschlichkeit" oder auch "Vitalität" erwarten würde. In meinen Berliner Monaten hatte ich sie, diesseits oder jenseits ihrer raren strahlenden Auftritte, immer wieder grau und zerschlagen erlebt, jämmerlich, mutlos, von Hirnkrämpfen geplagt und erschüttert, dann sich an den Besucher klammernd wie ein Kind. Ja, sie litt damals wie ein Tier, aber ihre sich immer wieder regenerierende "Animalität" sorgte für immer neue Wunder strahlender Auferstehung, damals noch.

Teil 2