Vorgeblättert

Leseprobe zu Winfried Speitkamp: Ohrfeige, Duell und Ehrenmord. Teil 3

06.09.2010.
(S. 129 ff)

"Moloch Ehre"

Die Kultur der Ehre im 19. Jahrhundert

Ich hab auch eine feste Hand und den ersten Schuß dazu, wenn die Gesetze der Ehre noch dieselben sind. Der Ehre. Was sich nicht alles so nennt! (Theodor Fontane)

Das Duell

Karl May wusste noch, was ein Mann von Ehre ist. Jedenfalls hat kaum ein Autor im 19. Jahrhundert so häufig von Ehre gesprochen wie er. Immer wieder geht es in seinen Romanen und Erzählungen um Ehrenhaftigkeit und ehrbares Verhalten. Begriffe wie "Ehrgefühl", "Ehre", "Ehrenmann", "Ehrensache" oder "Ehrenrettung" kommen ausgesprochen häufig vor. Für Old Shatterhand wie für Old Surehand ist es selbstverständlich eine Ehrensache, als erster das feindliche Lager zu attackieren. Auch Ohrfeigen werden - als Ehrenstrafen für die nicht Satisfaktionsfähigen - überall und großzügig verteilt: meist von oben nach unten - der Held ohrfeigt den frechen kleinen Gauner, der dann oft nicht nur gedemütigt von dannen zieht, sondern regelrecht durch den Raum fliegt. Und es geht immer wieder um die Derivate von Ehre: um Mut, Treue und Verlässlichkeit; ebenso wie um das Gegenteil von Ehre: um Verrat, Ruchlosigkeit und Schmach. Die Ehre bei Karl May ist zudem erstaunlich transnational, geradezu ein Reisemodell, das durch die Kulturen wandert: Bei den Indianern (Winnetou) ist sie ebenso zu Hause wie bei den Weißen (Old Shatterhand), im Wilden Westen Nordamerikas ebenso wie im "wilden" Kurdistan. Auch Kara ben Nemsi, der Held der Mayschen Arabien-Romane, erweist sich - selbstredend - als Mann von Ehre.
     Karl May, 1842 im sächsischen Erzgebirge geboren, hat Deutschland bekanntermaßen kaum verlassen und die bevorzugten Orte seiner fiktionalen Handlungen vor dem Verfassen seiner Reisegeschichten nicht besucht. Er schrieb über deutsche Werte, die wundersamerweise selbst unter indianischen Helden verbreitet waren, zumindest wenn diese wirklich Helden waren. Das steht einerseits für das ungebrochene Selbstbewusstsein des national gesinnten Deutschen: An seinen gesellschaftlichen und kulturellen Werten sollte die Welt genesen. Es steht andererseits für die große Popularität des Themas Ehre. Das Publikum verstand, worum es May ging; es zweifelte keinen Augenblick, dass Ehre ein globales Thema war, ein Wert, der in Europa ebenso wie in Nordamerika die wichtigste Richtschnur des Handelns sein musste. Der "Moloch Ehre" hatte von Deutschland Besitz ergriffen, so schien es zumindest den Kritikern des ausufernden Ehrenkults.
     Und wenn es um Ehre ging, beschäftigte kaum ein Thema das bürgerliche und adelige Publikum so sehr wie das Duell. In Theaterstücken, namentlich im Trauerspiel, wurde es auf die Bühne gebracht, in Romanen beschrieben, in zahlreichen Schriften erörtert, verteidigt und zunehmend auch kritisiert. Das Duell verband Ehre, Liebe und Tod, es rührte, nachdem Blutrache und Fehde überholt waren, an archaische Bedürfnisse nach dem echten Zweikampf edler Recken, nach Tapferkeit und Ritterlichkeit, zumal es eben in einer rechtlichen Grauzone ablief: Hier war der Mann noch ein Mann - und kein Staat und kein Gesetz sollten ihm da hereinreden. In seiner Unbedingtheit und Konsequenz, aber auch demonstrativen Unvernunft entsprach es dem Bedürfnis nach Freiräumen, nach Herausforderungen, nach Gelegenheit für Mut und Bewährung, die in der kapitalistischen, materialistischen Gesellschaft, in der nur die ökonomische Ratio zählte, und im Rechtsstaat, der bloß nach formalen Regeln vorging, verloren zu gehen schien. Das Duell folgte seiner eigenen Logik und seinen eigenen Gesetzen. Zugleich war es Indikator für den Standort der Person in der Gesellschaft.
     Das unterschied es wesentlich von den älteren Duellen der Frühen Neuzeit. Hervorgegangen aus "Gottesurteil", Fehde und ritter-lichem Zweikampf, angeblich schon im fränkischen und germa-nischen Recht angelegt und geregelt, war es bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert Bestandteil der Adelskultur und Ausdruck adligen Anspruchs auf Autonomie als Stand. Im 19. Jahrhundert gewann es einen neuen Charakter. Es war alles andere als rückwärtsgewandt und "traditional". Wer sich im 19. Jahrhundert duellierte, war kein Ewiggestriger, sondern Kind seiner Zeit. Das zeigte sich nicht zuletzt daran, dass auch erklärte Kritiker des Duells, der monarchisch-militärischen Sitten und eines überzogenen Ehrenkults sich ihm selten entzogen, wenn sie gefordert wurden, und zwar nicht nur, weil sie sich nicht der Feigheit zeihen lassen wollten, sondern oft auch, weil sie es eben dann, wenn ihr höchst persönliches Ehrempfinden betroffen war, für letztlich doch unabwendbar hielten. Die Liste der derart in Duelle Hineingezogenen reicht von Wilhelm von Humboldt über Heinrich Heine, Karl Marx, Friedrich Engels und Ferdinand Lassalle bis zu Max Weber. Aber auch andere Prominente, Adlige ebenso wie Großbürger, von Otto von Bismarck bis zu Werner von Siemens, duellierten sich. In Fontanes Effi Briest kämpfen zwei Männer des Kaiserreichs, tragende Stützen des Staats, der Landrat und der Offizier, um die Ehre. Ihre Ehre suchen sie nicht vor Gericht, und überdies nehmen sie das Recht in diesem Fall gar nicht ernst. Keiner von beiden erwägt auch nur, vor Gericht zu gehen. Die Ehre ist ihnen wichtiger als das Recht, das sich zu beugen hat - und dann de facto auch gebeugt wird, denn der Kaiser belässt es nach Fontane bei einer sechswöchigen Haft für den Täter Innstetten. Doch gerade indem die Beteiligten das staatliche Recht so offenkundig geringschätzen, festigen sie den Staat, so wie er nun einmal war.
     Zu diesem Zeitpunkt, im ausgehenden 19. Jahrhundert, wurde die Sprengkraft des Duells längst erkannt und weithin diskutiert. Das Duell war zum - allerdings immer noch blutigen - Ritual verkommen. Der Wendepunkt lag früher, im beginnenden 19. Jahrhundert, und er hing mit dem neuen Verständnis von Ehre zusammen, wie es sich von Knigge bis zum Staatslexikon äußerte. Verstand man nämlich Ehre als unveräußerliches Urrecht jedes Menschen, musste sich auch die Frage der Satisfaktionsfähigkeit neu stellen. In der Antwort lag eine Weichenstellung für das 19. Jahrhundert. Nur ging es, um es zu wiederholen, nicht um die Abkoppelung innerer Ehre von der äußeren. Das Problem allerdings verschob sich, weil es neue Ehrenkreise gab, auf die sich der einzelne beziehen musste. Keiner brachte das Dilemma eingängiger auf den Punkt als der Schriftsteller Ludwig Robert (1778-1832) in seinem vermutlich 1811 uraufgeführten, 1819 gedruckten Trauerspiel Die Macht der Verhältnisse. Geschichte, Konstruktion, Moral und Lösung waren durchaus trivial, aber gerade deshalb aussagekräftig für den Geist der Zeit.
     Das Stück spielt vor dem Hintergrund der Kriege Ende der 1790er Jahre, und es geht um unstandesgemäße Beziehungen, eine Ohrfeige, ein - verweigertes - Duell, ein uneheliches Kind, die Versöhnung zwischen Vater und illegitimem Sohn und den Tod. Die Pfarrerstochter Emilie Weiß liebt den Oberst Graf Gustav von der Falkenau und glaubt seinen vagen Versprechungen auf eine spätere gemeinsame Zukunft. Ihr Bruder, ein Schriftsteller, der ehedem poetisch-romantische Gedichte auch über die Liebe geschrieben hat, jetzt aber nüchtern-kalte Bestandsaufnahmen verfasst, missbilligt das unstandesgemäße Verhältnis, wird aber seinerseits von der Schwester des Obersten, Gräfin Sophie, geliebt, was er wiederum harsch zurückweist. Im Club beschuldigt der Schriftsteller den Oberst vor seinen Offizieren, seine Schwester mit falschen Versprechungen in trügerischer Erwartung zu halten, und verlangt, dass er sie in Ruhe lasse. Daraufhin ohrfeigt Graf Gustav den Schriftsteller. Dieser wiederum, öffentlich gedemütigt, fordert Gustav zum Duell. Der verweigert das, weil, wie auch seine Offiziere und sein Vater, der Staatsminister von der Falkenau, urteilen, der Schriftsteller nicht satisfaktionsfähig sei. Er könne also die Duellforderung gar nicht annehmen, selbst wenn er persönlich wolle, lässt der Oberst den Schriftsteller wissen, und der Vater, der Minister, will Weiß mit Empfehlungsschreiben und beachtlichen Bestechungssummen ("Sparen Sie kein Geld", sagt er zum vermittelnden Major)3 zum dauerhaften Verlassen des Landes bewegen. Doch Weiß bleibt unnachgiebig. Er lockt den Oberst in seine Wohnung, provoziert einen Streit und erschießt ihn. In der Haft wartet Weiß nun auf sein Urteil, dabei findet man einen bislang versiegelten Brief seiner Mutter, und es zeigt sich: Weiß ist ein uneheliches Kind des Staatsministers, also der Bruder des erschossenen Obersten. Die Situation ist aussichtslos: Zwei Frauen haben ihre Liebe verloren, Weiß hat seinen Bruder erschossen, Leben und Ehre des Ministers sind ebenfalls ruiniert, und niemand will mehr etwas mit Emilie Weiß, der Schwester eines Mörders, zu tun haben. Am Ende allerdings versöhnt sich Weiß mit seinem Vater, nimmt Gift und stirbt.
     Der Kern der Geschichte liegt nun in der Art und Weise, wie fortwährend über Ehre gesprochen wird. "Die Macht der Verhältnisse" ist es, die das Handeln der Protagonisten eingrenzt, sie unfrei macht. Gefühle wie Liebe und Ehre scheinen demnach nicht über Standesgrenzen hinweg anwendbar zu sein, die "Stimme der Vernunft", heißt es, verbiete das.Dem Mann ist zwar, so die ungeschriebenen Regeln, ein Verhältnis auch zu Frauen niederen Standes erlaubt, er muss sie dann gegebenenfalls abschirmen und materiell versorgen, doch darf er keine feste eheliche Beziehung anstreben. Umgekehrt ist die Standesschranke allerdings für Frauen nicht zu übersteigen, die Gräfin darf keinen Schriftsteller und - vermeintlichen - Predigersohn lieben. Wie der Minister strikt betont: Für die Tugend ist im Zweifel die Frau verantwortlich. Immer wieder wird vonseiten der Offiziere und Adligen proklamiert: Ehre ist Standesehre und Geschlechtsehre. Ganz anders der Schriftsteller. Er ist ein Mann der Empfindsamkeit, also durchaus, wie der Autor des Stückes selbst, ein junger Bürger des späten 18. Jahrhunderts. "Ich kenne so leicht keinen empfindlicheren Menschen. Mit einem Ton, mit einem Blick ist er aufzubringen", bemerkt der Major. Und der Minister, Angehöriger einer anderen Generation, erwidert: "Ein allgemeiner Fehler der Zeit. Kein Mensch will sich jetzt auch nur das Geringste gefallen lassen." Offenkundig fehlt dem Minister jedes Verständnis für die tieferen Beweggründe der nachwachsenden Generationen. Weiß dagegen spricht in seiner schriftlichen Duellforderung an den Oberst aus, was wohl auch der Autor Robert selbst denkt:

Die Ehre ist kein Standes-, kein Erbrecht, kein Monopol - sie ist ein Gemeingut aller Menschen ohne Ausnahme - Wer sie haben will, hat sie und nur wer sie nicht haben will, hat sie nicht. - Ich will sie haben, habe sie und erwarte daher die allerentschiedenste Genugthuung für die schändliche überraschende Beleidigung, die Sie mir, unwürdig eines Edeln, angethan haben.

Immer wieder kommt Weiß darauf zurück, dass Ehre "ein Gemeingut ist und bleiben muß": "Ich habe nicht um einen Gran weniger Ehre, als der Graf von der Falkenau". Das Duell sei zwar "ein barbarischer Überrest aus den Zeiten des Faustrechts", aber die "persönliche Ehre" sei ihm "das Allerhöchste". Auf das "Gesetz der Ehre" berufen sich allerdings auch der Minister und sein Sohn, der Oberst, wenn sie Weiß das Duell verweigern. Sie behandeln die Ehre als Zwang und Gesetz, dies aber vor allem, weil es ihnen in der konkreten Situation nutzt. Weiß dagegen sieht in Ehre den höchsten moralischen Wert. Wenn der Minister fragt: "Was hat der Mensch außer seinem Leben?", antwortet Weiß knapp und pathetisch: "Ehre, Tugend!" Was der junge Schriftsteller Weiß indes noch in emotionaler Unklarheit als Menschenrecht reklamiert, die Ehre, vermag dann der alte Prediger Weiß erst wirklich auf den Kern der inneren Ehre zurückzuführen:

Die wahre Ehre kann uns kein Mensch nehmen, die bleibt Jedem, der Recht thut - Schmach erleiden ist keine Unehre; Schmach erlitten auch die Heiligen [?] Schmach erlitt selbst unser höchstes Vorbild hier auf Erden - Und Rache dafür nehmen ist unedel, unchristlich!

Der Prediger drückt damit in christlicher Deutung eine Lösung des Problems aus, das der Autor Ludwig Robert in einem dem Drama beigefügten Brief als Dilemma notiert: Einerseits könne, so habe ein General sein Stück kommentiert, "kein rechtlicher Mensch heut zu Tage einem andern rechtlichen Menschen ein Duell versagen", andererseits sei "das Duell an sich ein Schandfleck unserer gesellschaftlichen Verhältnisse". Bei diesem Dilemma blieb es im Grunde das ganze 19. Jahrhundert hindurch, und daraus resultierten weitläufige Debatten, die zu zahlreichen Publikationen, literarischen und dramatischen Darstellungen, wütenden Protesten und parlamentarischen Initiativen führten - nur allesamt das Duell nicht beseitigen konnten. Praxis und literarische Wahrnehmung waren allerdings nicht dasselbe. Dennoch gehörte die literarische Verarbeitung zur Realität der Geschichte der Ehre im 19. Jahrhundert. Denn darin drückte sich aus, was das Publikum, zumal das bürgerliche, über die vermeintlich atavistische Institution des Duells dachte, warum dieses ein Faszinosum blieb.
     Das ist umso erstaunlicher, als um 1789/1800, mit dem Entstehen der modernen Nation aus dem Geist von Revolution, mit Wehrpflicht und Bürgerrechten eigentlich das überkommene adlige Duell anachronistisch geworden war. Wenn die Nation an die erste Stelle trat, jeder Bürger gleiches Glied der Nation war und die Nation gemeinsam gegen äußere Feinde einstehen musste, das Volk in Waffen war, dann konnte Bürger nicht gegen Bürger um persönliche Belange fechten. Das wäre ein Verrat an den Interessen der Nation gewesen. So urteilte man jedenfalls schon in der Französischen Revolution. Aber auch die Mitglieder der französischen Nationalversammlung waren in Duelle verwickelt, und zwar nicht nur in Ausnahmefällen. So primär adlig, wie es schien, war das Duell offenbar nicht, es befriedigte Bedürfnisse, die auch in der bürgerlichen Gesellschaft noch eine Rolle spielten. Nur in England ging das Duell schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts unter, und in den USA war es wohl ebenfalls nur eine sehr kritisch betrachtete Randerscheinung. In Frankreich, Italien, Deutschland und Österreich-Ungarn behielt das Duell dagegen große Bedeutung bis zum Ersten Weltkrieg. In Deutschland, Frankreich oder Russland breitete sich die Duellpraxis sogar rapide weiter aus. Die Tötung beim Duell wurde von der Rechtsprechung regelmäßig besonders nachsichtig behandelt, und einer Verurteilung folgte in der Regel spätestens nach wenigen Monaten die Begnadigung. Die Strafurteile waren dabei im 19. Jahrhundert sogar weitaus milder als noch im 18. Jahrhundert, als dem absolutistischen Staat dar-an gelegen sein musste zu verhindern, dass sich seine militärischen Eliten gegenseitig töteten. Im 19. Jahrhundert verlangten militärische Ehrengerichte, dass der Offizier, dessen Ehre beleidigt war, sich duellierte. Sonst hatte er Ehrenstrafen zu gewärtigen, denn er hatte die Ehre seines Standes befleckt - und sei es nur durch Feigheit. Und wenn ein Offizier schon vorab deutlich werden ließ, dass er grundsätzlich nicht bereit sei, sich zu duellieren, zum Beispiel aus religiösen Gründen, so musste er in Preußen noch in den 1860er Jahren mit der Entlassung aus dem Dienst rechnen, weil er die Kameradschaft unter den Offizieren aufgekündigt habe. Für Zivilbeamte gab es solche formellen ehrengerichtlichen Sanktionen nicht, aber sehr wohl gesellschaftliche Zwänge und Folgen, bis hin zur faktischen Ächtung, sodass auch hier die Duellbereitschaft bis zum Ersten Weltkrieg nicht zurückging.
     Innerhalb der satisfaktionsfähigen Gesellschaft also duellierte man sich, wenn es Ehrenhändel gab - oder Händel, die man dazu erklärte. Wer als satisfaktionsfähig galt, das änderte sich allerdings: Neben Adligen und Militärs waren das auch bürgerliche Zivilstaatsdiener, andere wohlhabende Bürger und Studenten. Gerade unter deutschen Studenten soll, so schätzte man zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die Hälfte der etwa 2000 Duelle im Jahr ausgefochten worden sein. In den studentischen Verbindungen herrschten besonders strikte Regeln der Satisfaktion, und sie wurden auch schriftlich in Statuten fixiert. Die Dunkelziffer der Duelle war weit höher als die Zahl der in den Gerichtsakten dokumentierten Fälle, zumal die große Mehrheit der Zweikämpfe eben nicht tödlich endete; man hat das Verhältnis zwischen Duellen und Todesfällen im europäischen Mittel des späteren 19. Jahrhunderts auf etwa hundert zu eins geschätzt. Beim Duell ging es also weniger um einen Kampf auf Leben und Tod, sondern um ein Ritual der Ehre: Hier konnte der Beleidigte, Gedemütigte Vergeltung erlangen und seine Ehre wiederherstellen, gerade ohne ein allzu hohes Risiko für sein Leben einzugehen. Hier konnten Offiziere ihren Rang in der bürgerlichen Gesellschaft verteidigen: Hatte ein Ziviler die Leistung oder den Status eines Militärs in Frage gestellt, folgte die Duellforderung, und dies möglicherweise auch von einem anderen Mitglied des Offizierskorps. Als beispielsweise ein ziviles Mitglied des Hanauer Gesellschaftsvereins sich Weihnachten 1856 weigerte, mit einem Leutnant, der gleichfalls Mitglied des Vereins war, eine Tierschau des Vereins zu gestalten, und der Zivilist es auch noch ablehnte, eine Ehrenerklärung für den Leutnant vor dem Offizierskorps abzugeben, forderte ihn ein anderer Offizier zum Duell "auf krumme Säbel". Das endete dann mit einer leichteren Verletzung des Zivilisten. Die Anlässe eines Duells konnten also ganz banal erscheinen. Es ging keineswegs nur um existenzbedrohende Beleidigung oder Ehebruch, sondern um alltägliche Streitigkeiten und Missverständnisse, um versehentliche oder absichtliche Missachtungen, um eine spontane Ohrfeige oder Gewalttätigkeit, um eine abfällige Bemerkung oder ein Lachen zum falschen Zeitpunkt.
     Harte Strafen mussten die Teilnehmer am Duell, ob Duellanten oder Sekundanten, nicht gewärtigen, obwohl das Duell durchweg verboten war. Abgesehen davon, dass die meisten Fälle nie zur Anzeige gekommen sein dürften - dann jedenfalls, wenn sie ohne Verletzung ausgingen -, konnte generell auch der verurteilte Duellant mit baldiger Entlassung aus der Haft rechnen. In mehr als 60 Prozent der Fälle verurteilter ziviler Duellanten der Jahre 1897 bis 1905 führten Gnadengesuche zu einer Ermäßigung oder zum Erlass der Strafe. Und auch die Festungshaft war wohl oft nicht sonderlich belastend: Die Unterbringung konnte großzügig sein, Bewegungsfreiheit innerhalb der Festung, Beschäftigung nach eigener Wahl, Gespräche und Geselligkeit erlauben. Negative Folgen für die Karriere in zivilem Staatsdienst oder Militär hatte eine Verurteilung ohnehin nicht. Es wäre aber zu einfach, nur die Ehre schlechthin als leitendes Motiv beim Duell zu sehen. Oftmals ging es quasi um die "kleine" Ehre, um Formen des Anstands und Benehmens, die verletzt schienen. Das Duell galt seinen Befürwortern daher auch als Erziehungs- und Disziplinierungsmittel, unerlässlich, um ein gesittetes und formgerechtes Beisammensein zu ermöglichen. Dabei ragte der militärische Verhaltenscode in das Zivilleben hinein: In Preußen unterlagen auch Reserveoffiziere - und das waren wegen der besonderen Form der Wehrpflicht mit dem sogenannten Einjährig-Freiwilligen viele Akademiker - in Duellfragen der militärischen Strafgerichtsbarkeit. Die Ehre des Offiziers war gewissermaßen unteilbar - und damit war auch die Ehre des Militärs unteilbar. Das galt nicht in allen deutschen Ländern, doch auch in Bayern wurden derartige Regeln vorgeschlagen.
     Angesichts solcher Verhältnisse wurden juristische und politische Bedenken laut. Im Reich und in Preußen wendeten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts Sozialdemokraten, Linksliberale und Zentrumsabgeordnete gegen Sonderregelungen für Militärs. Einesteils ging es um die Infragestellung rechtsstaatlicher Prinzipien, anderenteils aber auch um die Militarisierung von Staat und Gesellschaft, gegen die die Sozialdemokratie unter August Bebel protestierte. Manche Einwände richteten sich aber auch auf das grundsätzliche Verständnis von Ehre, so etwa wenn ein freisinniger Reichstags-Abgeordneter 1898 betonte, dass man Ehre nur "als Mann, als Mensch" haben könne,15 Ehre also keine Standesehre, sondern Anspruch jedes Menschen sei. Die Kritik am Duellwesen wurde am Ende des 19. Jahrhunderts jedenfalls immer lauter und vielfältiger. Die Argumente waren zwar nicht neu. Mehr oder minder deutlich waren sie zum Beispiel in Theaterstücken und Romanen schon vorher zu Wort gekommen. Nun aber organisierten sich die Gegner, zum Beispiel in der Anti-Duell-Liga, außerdem wurde die Kritik zum Gegenstand parlamentarischer Debatten, und schließlich erhielt sie eine politische Note: Die Kritik betraf eben oft auch die Ausnahmestellung des Militärs und die Vorrechte des Monarchen, etwa das Begnadigungsrecht. Letztlich ging es um die Frage, inwieweit das Militär dem Parlament unterstellt werden sollte. Und auch die Diskussion um militärische Ehrengerichte und den Duellzwang unter Offizieren und Reserveoffizieren wurde immer unter der Frage geführt, ob nicht mit dem militärischen Ehrbegriff auch die Monarchie gestützt werden sollte. Immerhin wurden ja auch die Bürger dem monarchisch-militärischen Ehrkodex unterworfen.
     Doch wäre es zu kurz gegriffen, würde man hier einen weiteren Beleg eines deutschen Sonderwegs, der Feudalisierung des Bürgertums und der Beharrungskraft des Monarchischen, kurz: einer generellen Rückständigkeit Deutschlands sehen. Das Duell war modern. Das gilt zum einen auf der politischen Ebene: Im 17. und 18. Jahrhundert wurde es von der Obrigkeit noch als Infragestellung des Gewaltmonopols gefürchtet und daher bekämpft.16 Im 19. Jahrhundert diente das Duell dagegen gerade dem Staat, weil es feudalmilitärische Elemente konservierte, weil es nachwachsende Eliten disziplinierte und Werte einübte, die noch für den Staat des späten 19. Jahrhunderts nützlich schienen. Zum anderen aber war das Duell auch modern, weil es nunmehr zutiefst bürgerlich wurde. Es stand eben nicht nur Militärs und Adligen offen. Es galt auch Bürgern als allgemeiner Anspruch. Es eröffnete Spielräume und Chancen der Bewährung. Allerdings stand es auch für die Wahrnehmung von gesellschaftlichen Zwängen, für die vermeintliche "Macht der Verhältnisse". Seine Allgegenwärtigkeit und die vielfältigen Debatten, die um das Duell geführt wurden, beweisen, dass Ehre im 19. Jahrhundert neue Bedeutung für das Selbstverständnis des einzelnen hatte. Ehre war in jedem sozialen Handeln, in der gesellschaftlichen Kommunikation, quasi ständig unterschwellig präsent und musste mitbedacht werden, wenn man die Folgen des eigenen Tuns abschätzen wollte.
     Die Vielzahl an Einzelfällen, die dokumentiert sind, macht dabei zweierlei einsichtig: Auf der einen Seite folgte der Weg zum Duell einem festen Ritual aus Beleidigung, Ehrenerklärungen, Vermittlungsversuchen oder weiteren Beleidigungen und dem Vollzug des Zweikampfes. Auf der anderen Seite gab es dabei vielfältige Varianten und auch Alternativen. Nicht jede Beleidigung führte zum Duell. Schon die Entscheidung, ob auf eine Beleidigung eine Duellforderung erging, ließ Spielraum erkennen. Derartige Fälle sind in Quellen kaum zu erfassen. Es gab jedenfalls Möglichkeiten, dem Duell zu entgehen, wenn man nur wollte. Ein Beispiel lieferte der hochkonservative kurhessische Minister Ludwig Hassenpflug. Am 4. November 1853 wurde er des Abends in Kassel auf offener Straße von Graf Ysenburg-Büdingen-Wächtersbach mit dem Stock geschlagen, sodass Hut und Brille herunterfielen. Graf Ysenburg fühlte sich nach eigener Aussage beleidigt, weil in der Kassler Zeitung seine Frau ohne Titel genannt worden war; die Hintergründe mochten tiefer liegen. Hassenpflug, so hieß es nun in der Öffentlichkeit, müsse seinen Angreifer zum Duell fordern - was ihm zwar Ehre eingebracht, aber de facto das Ende seiner Ministerlaufbahn bedeutet hätte. Auch Hassenpflug wusste, was man von ihm als "Mann von Ehre" erwartete. Freilich dachte er nicht daran, seine Stellung aufs Spiel zu setzen. Es gelang ihm, den Kurfürsten zu einem deutlichen Unterstützungsschreiben zu bewegen, und er sorgte gleichzeitig dafür, dass Graf Ysenburg für geisteskrank erklärt und in eine Heilanstalt eingewiesen wurde. Nun war medizinisch beglaubigt, dass der Graf nicht satisfaktionsfähig war. So entging Hassenpflug dem Duell und zeigte, dass auch der Ablauf eines Ehrkonflikts durchaus offen und gestaltbar war.
     Die Duellkultur eröffnete eine Ebene der Regelung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen neben dem Recht, aber nicht neben dem Staat und vor allem nicht neben der Öffentlichkeit. Das Duell entsprach daher in besonderem Maße dem, was immer unter Ehre verstanden wurde: dem Zusammenspiel von öffentlichem Bild und individuellem Selbstverständnis. Aber worin lag nun konkret die Ehre, um die gefochten oder geschossen wurde? Denn die Inhalte dessen, was jeweils als ehrenhaft angesehen wurde, änderten sich ja über die Epochen hinweg. Hier gehen die juristischen Zeugnisse einerseits, die zeitgenössischen publizistischen und literarischen andererseits am weitesten auseinander. In Romanen und Theaterstücken zielte das Duell auf zentrale Fragen der individuellen Existenz: auf Liebe zu einer bestimmten Person und auf das Ansehen im eigenen Kommunikationskreis. Und am Ende stand nicht selten die auswegslose Situation von Verzweiflung und Tod. Das war freilich ein Mythos, ein bürgerliches Ideal von Eigentlichkeit und Authentizität. Er diente nicht zuletzt dazu, die Angst vor der Freiheit zu kompensieren durch die tragikschwere Gewissheit des Scheiterns: Der Bürger wurde konfrontiert mit den letzten Dingen, mit Liebe, Betrug, Gewalt und Tod. Bei genauem Hinsehen geht es in den vielen Romanen und Dramen um Ehre und Duell allerdings vor allem um die Definition bürgerlicher Existenz in der Moderne, vor dem Hintergrund beispielloser gesellschaftlicher Umbrüche und Herausforderungen.
     Während in der Literatur die Ausgangssituation, schwere Beleidigung, Verrat oder Ehebruch, sowie die Ausweglosigkeit der Entscheidungssituation und die Tragik der Folgen des Duells im Blickfeld standen, zielten zeitgenössische publizistische Äußerungen, die sich für das Duell starkmachten, eher auf das, was sie für den Kern der Ehre selbst hielten. Freilich legten sie dabei ungewollt offen, dass Ehre erst in den sozialen Praktiken entstand. Denn Ehre brachte es, kurz gesagt und paradox ausgedrückt, die Ehre zu verteidigen. So formulierte der Kölner Landgerichtspräsident 1833:

Wer sich zum Wurme macht, darf nicht klagen, wenn er getreten wird; wer ein schmachvolles Leben der Gefahr oder auch einem gewissen Tode vorzuziehen scheint, verliert selbst in der Achtung der Bessern; die völlige Unabhängigkeit von fremden Meinungen und Vorurteilen ist für diese Welt eine bloße Chimäre.

Noch am Ende des Jahrhunderts hielten Kaiser Wilhelm II. und sein Militärkabinett gegen den Reichstag und breite Teile der Presse daran fest, dass ein Offizier jederzeit bereit sein müsse, seine Ehre mit der Waffe im Duell zu verteidigen; anderenfalls drohe ihm die Entlassung aus dem Militärdienst. Er bekräftigte gerade dadurch, dass Ehre sich selbst genug war: Sie zeigte sich, indem der Ehrenmann sie verteidigte. Mit ständischer Ehre hatte das nur noch wenig zu tun. Es war freilich auch nicht deckungsgleich mit dem, was unter Studenten als Ehre galt. Auch unter Studenten war Bedingung der Ehre, den Ehrenkodex zu beachten und bereit zu sein, die eigene Ehre im Duell zu verteidigen. Aber Basis der Ehrfähigkeit war nicht das adlige Geburtsprinzip, das militärische Standesprinzip oder das bürgerliche Menschenrechtsprinzip, sondern das Prinzip der Mitgliedschaft in der Korporation, gestuft nach Verbindung und Dauer der Mitgliedschaft. Es ging letztlich um die Gleichheit unter den Studenten, die sich abgrenzten von den Hochschullehrern und der profanen Welt außerhalb der Universität. Im Duell wurde die Ehre - und das heißt der Zusammenhalt - der Verbindung oder der Landsmannschaft gewahrt. Es war sodann geboten, wenn es um die Ehre der Studentenschaft insgesamt ging. Und im weiteren Sinn verstanden sich die Studenten, jedenfalls die burschenschaftlich organisierten, als Vertreter der Nation, deren Ehre zu behaupten war. Allerdings war die Position der Studenten nicht ganz widerspruchsfrei: Die Burschenschaften waren in der Zeit der napoleonischen Herrschaft in Deutschland entstanden, um das studentische Leben sittlich zu reinigen, und das hieß auf die Ehre zurückzuführen, und von der künftigen Elite her, von den Studenten, eine innere Reinigung und neue Erhebung der deutschen Nation ausgehen zu lassen. Die burschenschaftlichen Statuten waren daher im Kern Bestimmungen über die Ehre und deren Bewahrung, namentlich auch über das Duell. Das Duell konnte allerdings von einer derartigen Position auch in Frage gestellt werden, dann nämlich, wenn man es als egoistische Verfolgung individueller Ziele wertete. Schon der Dresdner Burschentag von 1820 erklärte das Duell für vernunftwidrig - aber abgeschafft oder geächtet wurde es innerhalb der Studentenschaft deshalb noch lange nicht. Denn schlimmer wäre es letztlich gewesen, die Ehre der Studentenschaft fremder Beleidigung auszusetzen oder gar der Feigheit geziehen zu werden.
     Das Duell wurde also Teil der modernen Gesellschaft. Es war - im Rahmen der Moderne - Ausdruck der Kritik an Zivilisation, Rationalismus und Materialismus. Es bot Spielräume der individuellen Bewährung. Und es bot Möglichkeiten der legitimen Gewaltausübung. Das hatte an erster Stelle mit dem Primat der Ehre zu tun, der sich eher in der Form, der Gewalt, ausdrückte als in einem Inhalt. Das Duell kanalisierte Gewalt, aber unterdrückte sie nicht, sondern erlaubte sie. Die Mittel der Gewalt konnten sich dabei durchaus ändern: Zunächst dominierte das Fechten, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts setzte sich die Pistole durch. Im frühen 19. Jahrhundert wurde bei der Pistole in der Regel noch abwechselnde Schussfolge verabredet, wobei der Herausforderer als erster schoss, seit der Jahrhundertmitte ging man zunehmend zum gleichzeitigen Schießen über, was die Anspannung minderte und eher einer gleichberechtigten Kampfhandlung zu entsprechen schien.21 Derart bewahrte das Duell agonale Elemente in der zivilen Gesellschaft. Es erlaubte, Gefühle wie Zorn und Rachebedürfnis auszuleben, ohne den gesellschaftlichen Konsens zu sprengen, ohne ungezügelte Raufereien oder unendliche Vergeltungsabfolgen und Fehden auszulösen. Denn am Ende stand immer die Lösung des Ehrkonflikts: sei es durch Versöhnung, sei es durch den Tod eines Duellanten.
     Wesentlich zum Duell gehörte auch, dass die Schuldfrage nicht gestellt wurde. Es ging um Ehre und nicht um Recht. Selbst wenn ein tatsächlicher Rechtsverstoß vorlag, wenn etwa ein Mann einen anderen verprügelt hatte, markierte das Duell einen Nullpunkt des Konflikts. Vor allem die Bereitschaft, Blut zu vergießen, bewirkte die Reinigung, die einen Neuanfang ermöglichte - oder ermöglichen sollte, denn in literarischen Ausdeutungen wie in Fontanes Effi Briest scheitert gerade der Neubeginn. In der Realität bot das Duell freilich eine gute Möglichkeit, der Überprüfung eines Vorwurfs auszuweichen, der rechtliche Folgen hätte haben können: Wer zum Beispiel in der Öffentlichkeit homosexueller Neigungen beschuldigt worden war, sollte tunlichst zum Duell fordern. Sonst nämlich wäre der Vorwurf vor Gericht überprüft worden - und Homosexualität war nach § 175 StGB strafbar.

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Mit freundlicher Genehmigung des Reclam Verlages

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