Vom Nachttisch geräumt

Es sind immer die Einzelnen

Von Arno Widmann
14.05.2018. Das ozeanische Gefühl des Willi Hoss, beschrieben in seiner Autobiografie "Komm ins Offene, Freund".
Das Buch erschien zuerst 2004. 2017 erschien es in einer korrigierten Neuauflage. Es ist die von Peter Kammerer herausgegebene Autobiografie von Willi Hoss (1929-2003). Wäre ich Plutarch, ich würde eine Parallelbiografie von Willi Hoss und Hans Heinz Holz schreiben (1927-2011) schreiben. Die Engstirnigkeit, mit der der Gelehrte Holz an seinen Ende der vierziger, Anfang der 50er Jahre erworbenen politischen Ansichten festhält, mit der er sie abschottet von jeder Erfahrung, und die Offenheit, mit der der geborene Kommunist Willi Hoss sich immer wieder neuen Erfahrungen am Fließband wie in der weiten Welt öffnet. "Komm ins Offene, Freund" (Wenn es Hölderlin zitieren soll, müsste es heißen:" Komm! Ins Offene, Freund!") heißt das Buch. Es ist eine Einladung an den Leser, es ihm nachzutun. Dabei war auch Hoss ein Dickschädel. Er gab nicht gerne auf. Keinen Kampf und keine Idee. Aber er interessierte sich auch. Er war neugierig. Er ließ sich gerne begeistern, prüfte dann seine Begeisterung, und so wechselte er womöglich weniger als er hinausgeworfen wurde.

Hoss' Autobiografie zeigt uns die frühe Bundesrepublik mit den Augen eines Kommunisten. Sein Vater war Kommunist und nahm ihn mit auf kommunistische Versammlungen. Schon 1947 verteilte er Flugblätter. Ein Jahr später besuchte er einen Lehrgang. Später war er dann an der Parteihochschule der SED in Kleinmachnow. Er wurde erst einmal Funktionär. Willi Hoss schreibt: "Wir waren hier (Bundesrepublik) zwar eine verschwindende Minderheit, fühlten uns aber als Teil einer weltumspannenden, kommunistischen Bewegung, die ein Fünftel der Erde in Besitz hatte." Romain Rolland kritisierte Freud, weil er das ozeanische Gefühl als Quelle der Religiosität übersehen hatte. Freud räumte ein, dieses Gefühl der "Zusammengehörigkeit mit dem Ganzen" in sich nicht entdecken zu können. Willi Hoss empfand es. Nicht im kosmischen Ausmaß, aber doch erdenweit. Es stärkte ihn, Teil dieser Gemeinschaft zu sein. Die natürlich keine war, sondern ein Machtverhältnis.

Hoss' Autobiografie ist die Schilderung, wie er sich aus dem einen löste, um ins nächste zu geraten. Aber es sind die Häutungen, die einen empfänglich dafür machen, dass die eigene Ansicht - so sehr einem das im Augenblick auch so vorkommen mag - nicht die einzig richtige sein muss. Hoss schreibt über seine ersten Auftritte bei den Grünen: "Physisch, psychisch, in jeder Hinsicht, war ich eine auffällige Figur. Man erträgt das nur, wenn man von der Sache überzeugt ist." Das ist die Ambivalenz, in der man hinausgeht ins Offene. Man kann das nicht tun ohne die Überzeugung, dass es notwendig ist. Zugleich aber muss einem klar sein, dass da draußen alles anders ist und dass das, was man bisher wusste und wie man sich bisher bewegte, einem da draußen womöglich nicht weiterhelfen wird bei dem, das man sich vorgenommen hat.

Am Schluss seines Berichtes über die Parlamentsarbeit, als er sich entschieden hatte, etwas ganz Neues, Entwicklungspolitik in Brasilien, zu machen, steht: "Es sind immer die Einzelnen, die sich entscheiden müssen, wollen sie das oder wollen sie das nicht." Es war ein weiter Weg vom ozeanischen Gefühl der Religion des Kommunismus hin zu einem solchen Satz, der die Einsamkeit des Einzelnen akzeptiert und sie nimmt als Ansporn für die Tat.

Willi Hoss: Komm ins Offene, Freund - Autobiografie, herausgegeben von Peter Kammerer, Westfälisches Dampfboot, 235 Seiten, s/w-Fotos, 20 Euro
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