Vom Nachttisch geräumt

Spandauer Salzkissen

Von Arno Widmann
04.12.2016. Schon vor 500 Millionen Jahren war Berlin eine geteilte Stadt: die eine Hälfte in Afrika, die andere in Skandinavien. Das und viel mehr lernt man in Norbert W.F. Meiers "Berlin Geologie".
Ich werde keine Geschichte Berlins mehr ernst nehmen können, in der nicht steht, dass Berlin schon einmal ein paar Millionen lang eine geteilte Stadt war. Das war im Kambrium, vor 500 Millionen Jahren. Damals gab es eine Periode, in der, was heute Berlin ist, sich auf zwei weit voneinander getrennte Platten der Erdkruste verteilte. Der Schabowski, der damals Baltica und Avalonia wieder zusammenbrachte, waren die tektonischen Revolutionen, die dafür sorgten, dass sich in langen Prozessen und plötzlichen Eruptionen das heutige Europa formte. Der Norden Berlins gehörte einst zu Skandinavien, während der Süden ein Splitter von Afrika war. Nichts, was zusammenwächst, tut es, weil es zusammengehört. Wir neigen aber dazu, anzunehmen, dass etwas, das zusammenwächst, auch zusammen gehört. Eine gar zu idyllische Vorstellung in der Erd- wie in der Menschenkunde.

Manche Bücher liegen lange herum, bis man sie an einem dunklen Novembersonntag hervorkramt und fasziniert in ihnen versinkt. Norbert W.F. Meiers "Berlin Geologie" ist so eines. Es öffnet einem die Augen für die bewegte Geschichte Berlins, bevor es Berlin gab. Vom "Spandauer Salzkissen" hatte ich noch nichts gehört. Es ist ein Überbleibsel von einem salzhaltigen See oder gar Meer, das hier vor 260 Millionen Jahren war. Das Wasser verdunstete oder floss ab. Es blieb das Salz. Berlin war also damals unter Wasser. In derselben Zeit oder auch schon 50 Millionen Jahre zuvor, stand in Spandau ein Vulkan, wohl 1000 Meter hoch. Vielleicht waren es auch viele Vulkane. Vielleicht sah es aus wie heute auf Hawaii. Nichts ist einfach so wie es ist. Alles ist aus etwas anderem entstanden. Und nichts bleibt wie es ist. Irgendwann wird - da können wir uns noch sehr einbilden, im "Anthropozän" zu leben - die Berliner Gegend wieder einmal unter Wasser liegen oder aber höher in den Himmel gehoben werden als heute der Himalaya.

Es wird wieder Vulkane geben und Tiefseegräben. Der Blick auf die Erdgeschichte hat so gar nichts Beruhigendes. Wir brauchen keine himmlischen Gestalten, keine kosmischen Einflüsse, die es natürlich auch gibt, um uns unserer völlig hilflosen Winzigkeit bewusst zu werden. Wir bewegen uns - weltgeschichtlich betrachtet - auf sich ständig bewegenden, auseinander brechenden, aufeinander stoßenden Eisschollen, tun aber so, als handele es sich um den festesten nur denkbaren Grund. Und das sind alles nur die obersten Schichten. In Berlin reichen die tiefsten Bohrungen gerade mal 5100 Meter in die Erdkruste hinein. Ihr oberer Mantel reicht tiefer als 400 Kilometer. Darunter glüht es und schwappt es. Nirgend irgendetwas in Sicht, das Sicherheit böte. Schon gar nicht fürs Leben.

Norbert W.F. Meier: Berlin Geologie - Über und unter dem Pflaster der Großstadt, Berlin Story Verlag, Berlin 2014, 126 Seiten mit vielen farbigen Abbildungen, 16,95 Euro.
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