Vom Nachttisch geräumt

Was aber heißt frei?

Von Arno Widmann
17.10.2016. Wer lebt in Russland froh und frei? Sieben Bauern suchen eine Antwort in Nikolai Alexejewitsch Nekrassows unvollendetem Poem.
Ich hatte das Buch wegen des Titels bestellt: "Wer lebt in Russland froh und frei?". Die Frage erschien mir für ein Buch, aus dem Ausschnitte schon 1863 erschienen waren, überraschend aktuell. Das Fragment gebliebene Buch ist ein Klassiker der russischen Literatur. Ich hatte es schon einmal während meines Studiums gelesen - in einem Seminar von Hildegard Schaeder - und fast ganz vergessen. Ich wusste gerade noch, dass Nikolai Alexejewitsch Nekrassow (1821 - 1878) ein Autor des 19. Jahrhunderts war. Ich wusste aber nichts mehr über das Fragment gebliebene Poem. Die einzige Erinnerung, die ich an es hatte, war die einer bittersüßen Verzweiflung. Ich schalt mich, dass ich diesen Titel hatte vergessen können, stürzte mich also auf den Band und war sofort begeistert. Ich kann kein Russisch, kann also die Leistung der Übersetzerin nicht wirklich beurteilen. Aber natürlich geht ein Gutteil meiner Begeisterung auf ihr Konto. Der Witz, die plötzlichen Stimmungsumschwünge, der Spaß an den die handelnden Personen wie abgetragene Pantoffel begleitenden Epitheta - das alles ist ganz, ganz sicher Nekrassow, aber dass ich meine Lust daran habe, das ist die Leistung von Christine Hengevoß.

"Wer lebt in Russland froh und frei?" ist ein Roadmovie. Sieben Bauern treffen sich auf einem Markt und stellen sich und einander diese Frage. Jeder hat eine andere Antwort. Nicht ganz, denn die Brüder Gubin nennen beide den Kaufmann. Die anderen aber sagen: der Gutsbesitzer, der Beamte, der Pope, der Bojar, der Zar. Der Erzähler meint: "Stur wie ein Ochs der Bauer ist,/ starrköpfig wie ne Zick.-/ Was er sich in den Schädel setzt,/ kriegst du nicht raus: so stemmt er sich,/ geht keinen Schritt zurück." Ergebnis: die Bauern schlagen auf einander ein. Die Bauern prügeln sich nicht etwa mit Leuten, von denen sie annehmen, sie lebten in Russland froh und frei und hinderten sie daran, das ebenfalls zu tun, sondern sie dreschen auf einander ein. Bis tief in die Nacht. Und das so laut, dass die Tiere erwachen. Anlass für Nekrassow, die Traditionen der russischen Fabelerzählungen aufblühen zu lassen mit bissigen Bemerkungen, innigen Szenen und dann dem Tischleindeckdich, das der kleine Laubsänger den Streithähnen besorgt, um endlich seine Ruhe zu haben. Die Bauern, die sich erstmals in ihrem Leben keine Sorgen machen müssen, was sie morgen zu essen bekommen, fassen den Entschluss, Russland zu durchwandern, um herauszufinden, wer in Russland froh und frei lebt. Wer ein Grundeinkommen hat, wird zum Sozialwissenschaftler! Eine sehr charmante Vorstellung.

Nikolai Alexejewitsch Nekrassows vergnügliche, gleichwohl bittere Enquete ist der Versuch eines dichterisch-sozial-politischen Gemäldes Russlands nach der Abschaffung der Leibeigenschaft im Jahre 1861. So notwendig diese Maßnahme war, so sehr steigerte sie doch erst einmal die Not der Bauern. Die wenigsten bekamen Land, von dem sie leben konnten. Außerdem waren sie verpflichtet, darauf weist das knappe Nachwort der Übersetzerin hin, noch weitere 49 Jahre lang Frondienste oder Zwangsabgaben an die Grundbesitzer zu leisten. Hinzukam: Sie waren zwar keine Leibeigenen mehr, aber immer noch Mitglieder des Mir, der Dorfgemeinschaft. Frei war niemand. Was aber heißt frei?

Die Wahrheit ist, dass die Bauern nicht danach fragen, wer frei ist in Russland. Sie fragen: Wer ist fröhlich oder wem geht es gut? "Wer lebt glücklich in Russland?" war der Titel des Poems von Nekrassow in der alten deutschen Übersetzung. Ich kann kein Russisch, aber mit Hilfe des kostenlosen Internet-Übersetzungsdienstes Leo bin ich zu der Auffassung gelangt, dass, was wir heute unter frei verstehen, in diesem Werk überhaupt nicht vorkommt. Die Frage der sieben Bauern zielt allerdings auch nicht auf das Glück im Sinne des "pursuit of happiness" der amerikanischen Verfassung, sondern darauf, ob es im Zarenreich einen fröhlichen Menschen gibt, dem es gut geht. Die Ausgabe ist zweisprachig, so dass man immer schauen kann, wovon Nekrassow spricht, wenn es in der Übersetzung zum Beispiel "sorgenfrei" heißt. Von frei ist auch dort keine Rede. Auch wo die Übersetzung schreibt "des Zarn Ukas, uns zu befrein" kommt bei Nekrassow das "befreien" nicht vor.

"Swoboda" heißt Freiheit im Sinne von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Auf dieses Wort bin ich in dem ganzen Buch nicht gestoßen. Das liegt vielleicht an mir. Ich kann, ich sagte es schon, kein Russisch. Vielleicht aber besteht der Witz des Poems gerade darin, dass das Wort nicht vorkommt. Vielleicht war es für den zeitgenössischen Leser gerade reizvoll, Swoboda zu umschiffen, also dauernd daran zu erinnern, ohne es zu verwenden? In der heutigen chinesischen Literatur spielen solche Spiele eine große Rolle. Aber das sind Mutmaßungen eines Ignoranten angesichts eines von ihm mit großem Vergnügen verschlungenen Buches. "Swoboda", ließ ich mir sagen, klinge im Russischen wie ein Fremdwort. Es sei bis heute nicht "eingemeindet". Das "frei", von dem Nekrassow spricht, kommt nicht von Freiheit, sondern gewissermaßen von frisch und frei. Ein des Russischen kundiger Kollege hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass es ein Gedicht Nekrassows gibt mit dem Titel "Swoboda". Also, so ganz verboten hat sich Nekrassow das Wort nicht. Auch das Gedicht spricht davon, dass das Ende der Leibeigenschaft nicht die Freiheit gebracht hat. Es endet mit den Worten: "Muse! Mit Hoffnung begrüße die Freiheit!"

Nikolai A. Nekrassow: Wer lebt in Russland froh und frei? Zweisprachige Ausgabe, Mitteldeutscher Verlag, Deutsch und Nachwort von Christine Hengevoß, 565 Seiten, 29,95 Euro.