Vom Nachttisch geräumt

Annie Storchenschnabel

Von Arno Widmann
20.11.2018. Annie Leibovitz: Portraits 2005-2016, Schirmer/Mosel, 316 Seiten, 150 Farb- und Duotone-Tafeln, aus dem Englischen übersetzt von Martina Tichy, 49,80 Euro
Ein nachdenklicher, das Kinn in die rechte Hand stützender Barack Obama blickt, man weiß nicht wohin. Die Historikerin Doris Karns Goodwin sitzt im Zentrum des Bildes und betrachtet ihn sehr wohlwollend. Wer genauer hinsieht, bekommt einen Lachanfall. Obamas Kopf geht über in die hinter ihm stehende Porträtbüste John F. Kennedys. An der Wand ihm gegenüber, hinter der Historikerin, hängt ein Gemälde, das Abraham Lincoln zeigt, der sein Kinn mit der rechten Hand stützt. Helden und Heldenverehrung. Der regierende Präsident Barack Obama als eingeborener Sohn von Abraham Lincoln. Der erste schwarze Präsident Auge in Auge mit dem Sklavenbefreier. Das ist kein Foto. Das ist ein Altarbild. Wer jetzt noch nachschlägt und erfährt, dass Doris Kearns Goodwin nicht nur mit einem Mann verheiratet ist, der Reden für John und Robert Kennedy schrieb, sondern auch Autorin eines von Steven Spielberg in einen Film verwandelten Buches über Abraham Lincoln ist, dem droht der Kopf zu bersten angesichts von so viel Botschaft auf einem Foto. Bigger than Life. Darum geht es Annie Leibovitz. Das macht alle ihre Aufnahmen zu etwas ganz Besonderem und lächerlich zugleich. Annie Leibovitz war der Hans Makart der Clinton- und Obama-Jahre.

Gleich zu Beginn des Bandes sieht man aber, dass Annie Leibovitz auch das mit Abstand beste Bild von Donald Trump gemacht hat. Eine Aufnahme aus dem Jahre 2006. Eine nahezu nackte hochschwangere Melania Trump auf der Treppe in den Privatjet. Daneben in einem Supersportwagen Donald Trump. Der Flieger wie ein Phallus über der Szene. Klarer in ihrer Verrücktheit ist die Welt des Donald Trump nicht darstellbar. Man betrachtet das Foto wie ein Gemälde Goyas, das die spanische Königsfamilie zeigt. Das ist eine Karikatur, denkt man. Bei Goya melden sich die Kunsthistoriker und erklären einem, die Herrschaften hätten das Gemälde sehr geschätzt. Nicht anders bei Leibovitz und Trump. Jeder sieht das Foto als Parodie. Die Porträtierten lieben es. Genau so sehen sie sich. Ganz ironiefrei. Mein Verdacht ist: Auch Annie Leibovitz ist nur froh darüber, dass sie wieder mal noch dicker aufgetragen hat, als alle anderen. Das funktioniert. Sie setzt auf die Eitelkeit der Menschen. Die scheint gänzlich unbegrenzt. Es gibt keine Kitsch- und keine Ironiegrenze.

Es fehlt Annie Leibovitz dabei nicht an Einfühlung. Das gelbstichige Porträt der Fotografin Sally Mann in ihrem Atelier in Lexington ist das Gegenbild zu den bisher genannten. Sie steht in einer weißen, verschmutzen Bluse vor Kameras und Lampen. Eine denkende Arbeiterin im Gegenlicht. Ein Vermeer.

Man kann diesen Band auch durchgehen auf der Suche nach vertrauten Arrangements. Die neben einander aufgestellten Salman-Rushdie-Unterstützer zitieren niederländische Gildenporträts. Queen Elizabeth mit ihren Enkeln verbürgerlicht die alte Herrscher-Ikonographie, so wie die entsprechenden Porträts des 19. Jahrhunderts es schon taten. Rachel Feinstein und ihre Tochter spielt mit Tizians Venus und Amor. Es geht Annie Leibovitz stets darum, die von ihr Porträtierten zu vergrößern. Sie ist der Storchenschnabel unserer Zeitgenossen. Ihr Erfolg rührt daher, dass sie vor keiner Übertreibung zurückschreckt, dass sie alles noch einmal bunter und greller machen kann. Wo sie darauf verzichtet, ist sie nicht mehr Annie Leibovitz. Jeff Koons zeigt sie, als wäre er Cicciolina: beim Training in einem Fitness-Raum. Nackt. Aber da sind auch das Taubenskelett aus Darwins Sammlung, David Hockney wie er in einem Auto sitzt und die Bäume vor ihm zeichnet oder Virginia Woolfs Schreibtischplatte. Hinter der aber gleich wieder ein Porträt der Queen im White Drawing Room im Buckingham Palace. Mit Licht von rechts. Wie wenig Annie Leibovitz anfangen kann mit einer der bedeutendsten Autorinnen, mit Chimamanda Ngozi Adichie!

Annie Leibovitz: Portraits 2005-2016, Schirmer/Mosel, 316 Seiten, 150 Farb- und Duotone-Tafeln, aus dem Englischen übersetzt von Martina Tichy, 49,80 Euro