Vom Nachttisch geräumt

Das Ghetto von Venedig

Von Arno Widmann
18.12.2017. Hat das heutige Leben im 500 Jahre alten Ghetto von Venedig fotografiert: Ferdinando Scianna.
Ferdinando Scianna, geboren 1943, Magnum-Fotograf, wurde gefragt, ob er anlässlich seines 500jährigen Bestehens nicht das Ghetto von Venedig für eine Ausstellung fotografieren wolle. Eine große Versuchung, sagte er sich und gab ihr nach: Denn das Ghetto ist klein, und seine Füße schaffen es noch. So schreibt er selbst im Nachwort zu einem kleinen Bildband, der zur Ausstellung, die freilich schon im Januar 2017 schloss, erschien. Scianna hat die wohl schönsten Aufnahmen des argentinischen Dichters Jorge Luis Borges gemacht, sein vor mehr als fünfzig Jahren erschienener Band über religiöse Feste auf Sizilien ist legendär, seine Aufnahmen von Schlafenden überall auf der Welt sind Bilder von Augenblicken des Friedens und äußerster Erschöpfung.


Ferdinando Scianna, Il panettiere kosher Davide Volpe e i suoi assistenti Niccolo Volpe e Manuel Zuecca

Jetzt also das venezianische Ghetto im Jahre 2016. Blicke aus der Höhe des koscheren Gasthauses Giardino dei Melograni auf den Campo des Ghetto Nuovo oder eine höchst kregele 92-jährige Bewohnerin des jüdischen Altersheims im Ghetto. Sie startet gerade zu einem Spaziergang, als der Fotograf sie mit einem wohl vorgetäuschten Schnappschuss erwischt. Natürlich gibt es auch jede Menge Grabsteine. Aber es geht Scianna vor allem um das heutige Leben im Ghetto. Man sieht einen Rabbi, der zwei Männern und einer Frau bei der Midrasch-Lektüre hilft. Eine Szene aus der levantinischen Synagoge. Auch Bilder aus einem Gottesdienst dort sind zu sehen.

Besonders beeindruckend sind natürlich die riesigen Pelzmützen der Vertreter der chassidischen Chabad-Lubawitsch-Gemeinde Venedigs. Sehr interessant sind auch Aufnahmen, die zeigen, wie die ursprünglich kleinen Häuser von Generation zu Generation weiter aufgestockt wurden. Das Ghetto ist heute natürlich auch eine Attraktion für Touristen - jüdische und nichtjüdische. Alles hat Ferdinando Scianna eingefangen in dem von ihm so gerne genutzten Schwarz/Weiß. Das gibt auch den aktuellsten Aufnahmen gewissermaßen automatisch eine Patina und ist für die Freunde der Grauschattierungen eine Freude.

Ferdinando Scianna, Il Ghetto di Venezia 500 anni dopo, italienisch englisch,  Marsilio, Venezia 2016, 99 Seiten, 44 sw Fotos, 28 Euro