Tagtigall

Die Allee der Deutung

Die Lyrikkolumne Von Marie Luise Knott
12.12.2014. "Alle tragen wir Brillen, auch wenn wir gute Augen haben": Gedichtbände, nicht nur zur Weihnachtszeit.
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Für Liebhaber

In seinen Autobiografische Schriften und Briefe schrieb der Dichter Ludwig Greve in seinem Essay "Zwischen den Zeilen der Zeit": "Die antike Form muss nicht das letzte Wort sein, aber wer einmal da durchgegangen ist, verhält sich anders." Nicht nur Jan Wagner, der in Regentonnenvariationen alte Formen ganz im Hier und Jetzt und aufs Vergnüglichste neu füllt, auch Dirk von Petersdorff hat in seinem Gedichtband Sirenenpop - Pop mit Sirenen also - überlieferte Stimmen mit denen seiner Generation gepaart. Ein "Avantgardist, der rückwärts schaut", beschrieb ihn Harald Hartung. In Sirenenpop stößt man auf Paarreime, die sich zwar verzweifelt reimen, aber von Paaren handeln, die sich nicht - mehr - "paaren" können, zwischen Beziehungsgequatsche und Umzugskisten.

die "süße Schlange" vor der nächsten Häutung
wird lange reden, die Allee der Deutung -


Deftig verführerisch geht es hingegen zu im mittelalterlichen Liebesbestiarium, das der Dichter Ralph Dutli zusammengetragen und ins Deutsche übersetzt hat. In dem verbalen Liebesduell, das der Kleriker, Astronom, Dichter und Mathematiker Richard de Fournival (1201-1260) erfocht, erfindet sich der verzweifelt Werbende anfangs als Hahn, später als Wildesel, Wolf, Grille, Löwe oder Wiesel; die stolze Umworbene ist um Antworten nicht verlegen. Hinreißende wie verstörende Dramen zwischen Abweisung und Anziehung wechseln einander ab. Hinzugesellt hat Dutli diesem Text im Band frühe Troubadour-Gesänge, die den Körper beim Lesen zum Singen animieren. So mischt sich Prosaisches und Poetisches; und alle preisen dasselbe: die Geheimnisse des Eros. "Zu lange warten ist gefährlich."


Für Weltreisende

Fräulein Militanz
- der erste deutschsprachige Gedichtband der englisch schreibenden Inderin Meena Kandasamy (@meenakandasamy) hält, was der Titel verspricht. Militant stürmen die Gedichte an gegen die Unterdrückung der Frau und der niederen Kasten - bissig und zärtlich, wütend und lakonisch. Zusammengestellt aus den beiden Gedichtbänden Touch/Berührung und Ms Militancy, von Raphael Urweider auch als kräftig-zarte Stimme im Deutschen wiedergegeben, versammelt der Band Liebe und Politik - Orgiastisches ebenso wie eine wütende Demontage der Ikone Mahatma Ghandi.

"Gewusst hast Dus, verdammt noch mal gewusst,
Die Kasten verschwinden nicht, sie lassen es nicht zu".

Dalit - unberührbar - heißt die Zeitschrift, die Kandasamy mitherausgibt; sie kritisiert, dass in der "rape culture" Indiens Kasten nicht selten auch als Schutzschild dienen für Verbrechen gegen Frauen. Doch das Grauen so mancher poetischer Bilder ist in der Schönheit der Poesie geborgen.


Für Augenmenschen

"Wahrscheinlich musste ich der Malerei begegnen", schreibt der Dichter Henri Michaux, der, in der Kultur des Verbalen aufgewachsen, zeichnete, um sich zu "dekonditionieren". Um die ungelöste Spannung zwischen Wort und Bild durch die Verschiedenheit der Zugänge produktiv zu halten. Vielleicht gibt es diese besondere Nähe zwischen Dichtung und Zeichnung auch deshalb, weil beide das Papier ritzen und das Gedicht, mehr als Prosa, aus der Gestalt der Buchstaben auf dem Papier lebt. In Zeichen. Köpfe. Gesten erzählt Michaux in minimalistischer Prosa von seinem zeichnerischen Werdegang. Man liest, man sieht. Als Anfang kennzeichnet Michaux eine Zeichnung, die aus einer Schreiblinie hervorging. Er verschattete die Linie, brach sie auf in die Fläche hinein. Danach gingen die beiden Gattungen getrennte "imaginogene" Wege in Wort und Bild-Felder hinein. So dichtete Michaux:

Unglück, du mein großer Pflüger,
Unglück, setz dich zu mir,
ruhe dich aus,
ruhen wir uns aus ein Weilchen, du und ich,
ruh aus!
du findest mich, du bindest mich,
du ergründest mich
ich bin dein Ruin.



Für Modernisten
 
Es sei nun einmal so, dass jede Rede "notwendig" verhallt, urteilte einst Friedrich Schleiermacher, es bleibe nur, "was einen neuen Moment im Leben der Sprache selbst bildet". Im Aufbrechen der Sprache kann das Denken je neu in die Welt aufbrechen. Seit sich mit dem Traditionsbruch der Moderne nach 1900 so etwas wie eine neue lyrische Weltsprache auszubilden schien, wurden die Grenzen der nationalen Dichtung ein wenig durchlässiger. Doch der Part der "kleinen Sprachen" in dieser Universalisierung - oder besser Europäisierung - blieb lange unbeachtet. Jetzt kann man in einer wunderschön gestalteten, weißen Kassette an langen Winterabenden die Finnlandschwedische Literatur der Avantgarde entdecken. Sie hat es in sich.

Alle tragen wir Brillen
Auch wenn wir
gute Augen haben.
Wir tragen sie um
nicht die Wahrheit zu sehen
sondern etwas
das schöner ist
oder hässlicher als diese

- meist hässlicher.


So dichtete Henry Parland, der nur 27 Jahre alt wurde, und davon nur vier Jahre, von 1926-1930, schrieb. Er wurde in Finnland geboren, wuchs in Russland (Kiew und Petersburg) mit Deutsch sprechenden Eltern auf, lernte in Finnland Schwedisch und zog aus pekunärer Not 1929 nach Kaunas, wo er kurz darauf an Scharlach starb. Doch in der kurzen Zeit bedichtete er treffend den Zustand seiner Zeit: den "Ausverkauf der Ideale", die "große Leere namens Wirklichkeit" und das "g e r a d e" eines jeden Augenblicks. Auch Edith Södergan, die, in Petersburg geboren und Karelien aufgewachsen, eine deutsche Schule besuchte und sich nach anfänglichen deutschsprachigen Versuchen im Alter von 18 dazu entschloss, Schwedisch zu ihrer Poesiesprache zu machen, wandte sich ab von Reim und Rhythmus. Statt "Kathedralen zu bauen", wie sie das nannte, notierte sie Fetzen, Brocken, Alltagsschnipsel: "Ich bin ein Kind, ein Page, ein tollkühner Entschluss" lautet eine ihrer "Krallenspuren". Ob Södergan oder Parland, Björling, Enckell, oder Diktonius - sie alle preisen die pure Gegenwart, doch die politischen Wirren der Zeit sparten sie aus, wie es scheint. Naturgedichte, Gedankensplitter. Sternengelächter. Klaus Jürgen Liedtke hat in diesen 5 Bänden die Früchte seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit der schwedischsprachigen Lyrik geerntet. Ursel Allenstein übersetzte im jüngsten Heft der Neuen Rundschau (Titel: Finnland) die Nachfahren der "Modernisten". Finnland war 2014 Ehrengast der Frankfurter Buchmesse.


Für Dickinson-Freunde

"Wenn mir buchstäblich ist, weiß ich, das ist Poesie", soll die Dichterin Emily Dickinson (1830-1886) gesagt haben. Am 24. Dezember, pünktlich zu Weihnachten, erscheint bei Hanser eine hanserbox mit einer Auswahl von Windgedichten, übersetzt und kommentiert von Gunhild Kübler, die seit Jahren - Jahrzehnten wahrscheinlich - Dickinson übersetzt und im Februar 2015 auf 1440 Dünndruck-Seiten sämtliche Dickinson-Gedichte vorlegen wird. Das E-Book liefert einen Vorgeschmack. In ihrem Vorwort zu Emily Dickinson und der Wind schreibt Kübler: "Die vorliegende Auswahl von 33 Gedichten, in deren Zentrum der Wind steht (oder in denen er zumindest eine wichtige Nebenrolle spielt), möchte die Leserschaft auf eine bisher wenig begangene Spur locken." Gleich anfangs geht es ziemlich buchstäblich zu:

In the name of the Bee -
And of the Butterfly -
And of the Breeze - Amen!

Im Namen der Biene -
Und des Schmetterlings -
Und der Brise - Amen!

"name" wird zu "amen" - eine Buchstabenvertauschung. "Bee", "butterfly" und "breeze" - die Akteure der ganz diesseitigen Trinität - tauchen in den 33 Gedichten immer wieder auf. Ob es stimmt, wie Kübler am Ende feststellt, dass nicht nur die Musikalität, die Einfachheit und der Bildreichtum, sondern gerade Dickinsons Auseinandersetzung mit dem "leeren Himmel" uns die Lyrikerin heute zur Zeitgenossin macht?

Marie Luise Knott