Tagtigall

Über Eigenart

Die Lyrikkolumne im Perlentaucher. Von Marie Luise Knott
21.11.2014. Draußen ist es kalt, grau und düster. Wovon träumen wir da? Von der Liebe - mit Reim und Rhythmus, Maß und Klang. Wie in Hebbels "Ich und Du".
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Die Interpretation sei die Rache des Intellekts an der Kunst, hatte einst Susan Sonntag formuliert. Jede Interpretation strebe danach, an Stelle der Welt, wie sie ist, eine Schattenwelt der "Bedeutungen" zu errichten, die uns vom Unmittelbaren, vom Erfassen und Erleben, ablenke. Das gilt natürlich für viele Gedichte, aber in besonderem Maße stieß ich kürzlich darauf, als ich Friedrich Hebbels "Ich und Du" wieder las.

Ich und Du

Wir träumten voneinander
Und sind davon erwacht.
Wir leben, um uns zu lieben,
Und sinken zurück in die Nacht.
Du tratst aus meinem Traume,

Aus deinem trat ich hervor,

Wir sterben, wenn sich Eines

Im andern ganz verlor.

Auf einer Lilie zittern

Zwei Tropfen, rein und rund,

Zerfließen in Eins und rollen

Hinab in des Kelches Grund.

Die Welt der Dichtkunst, hier, bei Christian Friedrich Hebbel (1813 - 1863), ist sie noch in Ordnung, ganz ungefragt bei sich und in ihrem Element - Reim und Rhythmus, Maß und Klang. Ein jambisches Versmaß, dreihebig, durchzieht die Strophen. Laute durchwehen das Gedicht und wehen in unser Ohr hinein. An keiner Stelle hat der Autor die so einprägsame und das Gedicht prägende Harmonie der rhythmischen Bewegung unterbrochen. Das Korsett der Form formt auch die innere Gestalt.

Träume - wie Dichtergebilde - wurzeln für Hebbel "im unendlichen All", und auch hier, im Gedicht "Ich und Du", geht der Traum der Wirklichkeit voraus: zunächst nämlich erfährt das beide umschließende "Wir" des Gedichts seine Bestimmung füreinander in der Vorstellung; mit dieser treten sie dann in die Welt, wo sie einander im Wirklichen begegnen und im Miteinander-Eins-Werden ihr Dasein und ihr Auf-der-Welt-Sein im doppelten Sinne vollenden - erfüllen und beenden: "Wir leben, um uns zu lieben, und sinken zurück in die Nacht."

Die Liebe sei das "Heiligste", notiert Hebbel in seinem Tagebuch; nur durch sie könne der Mensch "von sich selbst befreit" werden, was heißen könnte: aus der Schwere des rein irdischen Daseins hinauswachsen. Und das Dasein dieses Schriftstellers zwischen Klassik und Moderne war zeitweise ziemlich beschwert, wie man weiß. Die Harmonie der Verse - vom Erwachen bis zu Kelches Grund - inszeniert die Idee von der Harmonie eines Lebens, das, in der Gewissheit der Liebe ruhend, sich von den Einbrüchen der Moderne noch nicht berühren lassen muss.

Hebbel war nicht nur Lyriker, sondern auch Dramatiker, und das Drama der Beziehung von Mann und Frau prägte bereits sein erstes Stück, das Judith-Schauspiel. Er fürchtete: "Das Weib muß nach der Herrschaft über den Mann streben, weil sie fühlt, daß die Natur sie bestimmt hat, ihm unterwürfig zu seyn". Hier, im Gedicht hingegen, ist Liebe das wechselseitige Hegen und Erheben des Andern im Andern, sodass beide Teile des "Wir" in ihrer ganzen Schönheit - rein und rund - sich und der Welt erscheinen können. Denn: "Wir sterben, wenn sich Eines im andern ganz verlor." Kürzer kann man die Angst vor dem Selbstverlust kaum ermessen. Ob Hebbels Entscheidung für "verlor" statt "verlör" allein dem reinen Reim geschuldet ist, bleibt Spekulation.

Jean Pauls Diktum vom "Vollglück in der Beschränkung" - für "Ich und Du" trifft es, denn Hebbel hat alles glücklich beschränkt: Der Kreuzreim jeder Strophe (abcb) ist eingängig, die weiblichen und männlichen Endungen verschränken sich. Vom "Wir" in der ersten Strophe gleitet man in der zweiten Strophe in den titelgebenden Höhepunkt des Gedichtes hinein, den Moment der tatsächlichen Begegnung - das einzige "Ich" und das einzige "Du" im Gedicht: "Du tratest aus meinem Traume, aus deinem trat ich hervor". Doch warum steht im Titel das Ich vorneweg?

Hebbel hat in diesem Gedicht jedes Wort an seinem Platz in der Schwebe gehalten - aufgehoben zwischen Konkretem und Universellen. In der Literatur zu Hebbel gibt es diverse Versuche, die Zeilen textimmanent, biografisch oder symbolisch als Liebeserfahrung oder Todeserwartung auszudeuten; doch jeder solche Versuch nimmt dieser wunderhübschen Petitesse etwas von ihrer schwebenden Eigenart.