Lidorama

Die Filmfestspiele in Venedig - 2. Tag

Von Robert Mattheis
30.08.2002. Peter Mullens Wettbewerbsfilm "The Magdalene Sisters" zeigt die Logik der Unterdrückung von 30.000 gefallenen Mädchen im Irland der sechziger Jahre. "Frida", der Eröffnungsfilm in Venedig über Frida Kahlo treibt immer wieder auf die Grenze des Kitsches zu und rettet sich durch Momente grotesk-surrealistischen Humors.
Die Logik der Unterdrückung: Peter Mullens Wettbewerbsfilm "The Magdalene Sisters"

Irland, 1964. Während sich im Rest Europas die Studentenrevolte zusammenbraut, büßen in Irland etwa 30.000 gefallene Mädchen landesweit in den so genannten "Magdalene Asylums" für ihre Sünden. Diese Anstalten stellen eine Mischung aus Straflager und Militärakademie dar. Geführt werden sie von drakonischen Nonnen, die keinen Spaß verstehen, allenfalls sadistische Späße treiben. Ein gefallenes Mädchen zu sein, heißt im Fall von Margaret (Anne-Marie Duff, bekannt aus "Enigma"), während einer Familienfeier von ihrem Cousin vergewaltigt worden zu sein. Um mit diesem Skandalon umgehen zu können oder vielmehr: um es umgehen zu können, steckt die Familie ihre Tochter in die Besserungsanstalt. Die Säulen der Weisheit dieser Anstalt heißen: Arbeit, Gebet, Erniedrigung. Die Logik, die hier herrscht, ist ganz simpel: Wer sich der allgegenwärtigen Erniedrigung widersetzt, wird noch tiefer erniedrigt. (Nicht umsonst ist Selbstmord die schlimmste bekannte Sünde, denn durch ihn entzöge der Insasse sich der Anstaltslogik.)



Der schottische Regisseur Peter Mullen, den man vor allem als Schauspieler aus Ken Loach-Filmen wie "My name is Joe" und aus "Trainspotting" kennt, zeigt in seinem Wettbewerbsfilm "The Magdalene Sisters", seinem zweiten Spielfilm überhaupt, dass Korruption gewissermaßen der ideologische Überbau für die Praxis der Erniedrigung ist. Während die Schwester Oberin (Geraldine McEwan, "Henry V." und "Robin Hood") salbungsvoll-streng drei Neuankömmlinge begrüßt - neben Margaret noch Rose und Bernadette -, zählen ihre Finger die Einnahmen aus der Wäscherei. Der Priester lässt sich in seinem Zimmer von der zurückgebliebenen Crispina (Eileen Walsh) oral befriedigen. Als seine Schändlichkeit ans Tageslicht kommen müsste, wird die Zurückgebliebene umstandslos ins Nächstschlimmere befördert - in die Irrenanstalt. In eine Irrenanstalt im Irland des Jahres 1964! Die repressive Logik zeigt ihre Makellosigkeit und schickt die Delinquentin zur Hölle (wo sie sich, wie man im Abspann erfährt, zu Tode hungern wird).



Bernadette, gespielt von der Newcomerin Nora-Jane Noone, die man jetzt schon als eine der Entdeckungen der Filmfestspiele ansprechen darf, ist die einzige, die die Courage hat, sich der Logik des Anstaltsystems zu widersetzen. Dieser Mut mag daher kommen, dass sie sich nichts vorzuwerfen hat außer einem ausgesprochen hübschen Gesicht, das in ihren Erzieherinnen Befürchtungen hinsichtlich ihrer Chancen auf sexuelle Reinheit hervorgerufen hat. Bernadette bedient sich der Mittel des Feindes, um ihn zu schlagen. Sie benutzt Gewalt, um zusammen mit Rose (Dorothy Duffy) auszubrechen. Als sie die Nonnen, die sie zurückhalten wollen, mit einem überdimensionalen Kerzenleuchter wütend in die Flucht schlägt, applaudiert das Publikum - verblüfft vermutlich nicht so sehr von der Beherztheit der Protagonistin, als vielmehr von der Einfachheit der Lösung: Hau einfach ab! Just do it!

In diesem Sinne ist die deprimierendste Szene des Films wohl jene, in der Margaret zufällig entdeckt, dass eine Gartentür, die nach draußen führt, nur angelehnt ist. Sie tritt hinaus. Die weite Aussicht blendet sie. Sogar ein Fluchtwagen fährt vor, wie bestellt. Am Steuer sitzt ein junger Mann, der fragt, ob er sie mitnehmen solle. Margaret antwortet, nicht unerwartet: "Nein." Der junge Mann beschimpft sie, warum sie ihn dann angehalten habe (mit diesem Rüffel auch den Unmut der Zuschauer artikulierend), und fährt davon. Langsam geht Margaret zurück und schließt die Tür hinter sich. Wir sind in der Regel darum nicht frei, heißt das wohl, weil wir nicht frei sein wollen.

Ob die rebellischen Studenten von 1968 diese Erfahrung bestätigen würden?

"The Magdalene Sisters", Irland 2002, Regie: Peter Mullen, mit: Nora-Jane Noone, Anne-Marie Duff, Dorothy Duffy, Geraldine McEwan u.a.

Links: Etwas mehr über die Magdalene Asylums (das letzte wurde erst 1996! geschlossen) erfährt man auf dieser Seite, die einen Fernsehfilm von Channel 4 zum Thema vorstellt.



Die Kunst IST das Leben: Julie Taymors Eröffnungsfilm "Frida"

Oscar Wilde, der nachweislich etwas von Inszenierungen verstand, hat festgestellt, dass das Leben die Kunst imitiere. In eine ähnliche Richtung dachte offenbar auch Julie Taymor, die Regisseurin von "Frida", dem Eröffnungsfilm der 59. Filmfestspiele in Venedig. "Die Kunst imitiert nicht bloß das Leben", sagte sie auf der Pressekonferenz, "die Kunst IST das Leben." Wir wollen uns hier nicht mit Haarspaltereien aufhalten. Wer auch immer Recht haben mag, Wilde oder Taymor, einen Zusammenhang zwischen Leben und Kunst kann man nicht leugnen, schon gar nicht, wenn man sich in Venedig befindet, und noch viel weniger, wenn man sich bei den Filmfestspielen in Venedig befindet.

Der erste Tag begann mit Regen, bleigrau schwappte die See. Bleigrau und müde waren auch die Hundertschaften von Journalisten, die sich in den Pressevorführraum drängten. Keine Spur von Glamour. Dann aber kam die Kunst. Sie kam mit Mexiko, und sie kam mit "Frida" Kahlos unbändiger Lebenslust. Und siehe da - als die Tore der Vorführhalle sich wieder öffneten, da schien die Sonne über dem Lido, das Leben krabbelte über die Promenaden. Die Natur hatte sich ein Beispiel genommen, schien es.



Von dem prekären Verhältnis zwischen dem Leben und der Kunst handelt auch "Frida". Als Mädchen wird die Malerin (gespielt von Salma Hayek) bei einem Autounfall schwer verletzt, mehr oder weniger jeder Knochen in ihrem Leib wird ihr dabei gebrochen, auch das Rückgrat arg in Mitleidenschaft gezogen. Von da an bildet Schmerz den Grundton ihrer Existenz. Das einzige Mittel gegen den Schmerz findet Kahlo in der Kunst. Später tritt die Liebe hinzu, aber auch die Liebe kommt in künstlerischer Gestalt, nämlich in der Gestalt des Malers Diego Rivera (Alfred Molina, zuvor zu sehen in "Chocolat" und "Magnolia"). Rivera ist der Star unter den lateinamerikanischen Künstlern, sogar Nelson Rockefeller (Edward Norton, bekannt aus "Fight Club") lädt den bekennenden Kommunisten nach New York ein, damit er ihm ein Wandgemälde schaffe. Jedoch überwirft der Multimillionär sich mit dem Gastfreund, als Rivera sich weigert, ein Leninporträt aus seinem Bild zu löschen. An diesem Punkt endet die Freiheit der Kunst und beginnt die Unfreiheit des Lebens.

Frida und Diego verbindet eine Liebe, die immer wieder in Extreme geht, von tiefsten Verletzungen bis zu höchsten Erhebungen, und darum treibt der Film auch immer wieder auf die Grenze des Kitsches zu. Erleichterung schaffen da Momente grotesk-surrealistischen Humors, die sich formal auf die künstlerischen Strömungen des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts beziehen. Kahlos Leben, so sagt die Regisseurin später, habe immer wieder in ihren Bildern kumuliert. Die Bilder seien gleichsam die ungeschriebene Autobiografie der Malerin. "Frida" verwendet darum Kahlos Werke als künstlerische Leitmotive ihres Lebens, haucht diesen mit Hilfe des Know-hows der Avantgarden der Moderne und der Effektspezialisten von Amoeba Proteus kineastisches Leben ein. Hinsichtlich der artistischen Gelungenheit habe "Frida" hinter den Arbeiten der Namensgeberin nicht zurückstehen sollen, so Julie Taymor, die ihre ersten filmischen Erfahrungen mit einer Shakespeare-Adaption, "Titus", gesammelt hat.



Salma Hayek ("From Dusk Till Dawn" und "Desperado") verkörpert die Lebenslust der mexikanischen Malerin überzeugend in mehr als einer Hinsicht - so überzeugend sogar, dass sie auf der Pressekonferenz von der Moderatorin mit einem überraschenden Dank an alle Beteiligten, der die Fragestunde pünktlich beendet, ausgebremst werden muss. Die Hayek sitzt da noch auf der Bühne, hat noch so viel davon zu erzählen, wie Kahlo und Hayek ihr während der Arbeit an dem Herzensprojekt eins geworden sind, rudert hilfesuchend mit den Armen in Richtung Journalisten. Vergeblich.

Später darf sie dann doch noch einmal im Mittelpunkt stehen, als der rote Teppich ausgerollt wird und die Stars einziehen ins Blitzlichtgewitter und in die Premierenarena. (Als die Loren kommt, gellen ihr begeisterte "Sophia, Sophia"-Rufe entgegen. Auch das ein Beweis dafür, was die Kunst aus dem Leben zu machen vermag. Gwyneth Paltrow wirkt übrigens in natura äußerst uncharismatisch, aber das mag auch daran gelegen haben, dass sie zwar mit dem berühmten Modezar Valentino kam, aber einer Citroen-Limousine entstieg; Citroen ist offizieller Sponsor des Filmfests, aber bekanntlich nicht besonders charismatisch.)

Noch so ein Moment, da sich Leben und Kunst anschauen und rätseln, wer denn jetzt hier wen kopiere. Man kommt aus "Frida", in dem alle Schauspieler in einem gebrochenen Amerikanisch gesprochen haben (eine Art exotischer V-Effekt), und bestellt an einem der Verpflegungszelte vor dem "Casino Lido" ein Sandwich. Und dann spricht doch tatsächlich die junge Dame, die einem das Gewünschte gibt, mit demselben Akzent wie eben noch Salma Hayek. Und sind ihre Augen nicht auch ganz ähnlich?

"Frida", USA 2002, Regie: Julie Taymor, mit: Salma Hayek, Alfred Molina, Geoffrey Rush, Antonio Banderas u.a.

Links: Mehr über Frida Kahlo (mit vielen Bildern) finden Sie bei artchive, mehr über Diego Rivera im Web Museum.