Efeu - Die Kulturrundschau - Archiv

Musik

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Efeu - Die Kulturrundschau vom 13.04.2024 - Musik

Die Kritiker versenken sich in "Haus", das neue Album von Katharina Kollmann, alias Nichtseattle, die für Berthold Seliger im Neuen Deutschland "zu den großen Songschreiberinnen unserer Zeit gehört". Seliger würde sich gar "auf den Küchentisch von, sagen wir, Gröne- oder Distelmeyer stellen und ihnen ins Gesicht sagen, dass seit Gisela Steineckert, Werner Karma oder Fritz-Jochen Kopka niemand mehr so gute deutsche 'Pop'-Songtexte geschrieben hat wie Katharina Kollmann. Sie ist eben auch eine hervorragende Lyrikerin. Da ist ein ganz eigener, zärtlich-feiner Sound in ihren Zeilen. Und hin und wieder gelingt ihr sogar ein Brecht'scher Moment, zum Beispiel, wenn sie in 'Unterstand' eine positive Utopie entwickelt, diese in der nächsten Strophe widerruft, um schließlich zu ihr zurückzukehren."

"Wer eine gute Stunde mit dem Album verbringt, dem rieselt die deutsch-deutsche Identitätspolitik fein durch die Finger", schreibt Tobi Möller auf Zeit Online, "und ein paar Sinnkörner bleiben auch hängen: Bei Nichtseattle bedeutet ostdeutsch zunächst, zugewandt, aber eigensinnig zu bleiben. Vielleicht singt sie gerade deshalb nicht explizit über ostdeutsche Befindlichkeiten, sondern verbaut hartnäckig die soziale Frage in ihren Liedern - auch dort, wo man sie nicht gleich bemerkt." Doch "da ist noch etwas anderes, das dieses Haus so ungewöhnlich erscheinen lässt. Das Hadern mit den besser Gebetteten, mit den Glücks- und Kraftpropheten, kippt regelmäßig in den Zweifel. Das Gefühl des Nichtgenügens zieht sich durch die Songs von Nichtseattle. Es ist nicht immer klar, ob immer die anderen Schuld sind, die andere Herkunft aus dem abgewerteten Land oder ob ein eigener, unverstandener Knoten im Weg ist." Ihren schönen Song "Krümel noch da" hatten wir hier bereits eingebettet, in "Beluga" fahren wir mit Nichtseattle auf dem Fahrrad durchs nächtliche Berlin:



Weitere Artikel: Tazler Oliver Tepel kann sich der allgemeinen Begeisterung für Beyoncés Country-Album "Cowboy Carter" (unser Resümee) nicht anschließen: "Ihre meist von Autoren- und Produzenten-Kollektiven arrangierten Songs wirken weniger als Statements großer Liebe, sondern eher nach der Expertise einer Unternehmensberatung." Felix Zimmermann plaudert für die taz mit Dominik Wollenweber, der bei den Berliner Philharmonikern Englischhorn und auf Instagram Hausmusik spielt. Karl Fluch blickt für den Standard darauf, wie sich die Musikszene in den USA gegen KI zur Wehr setzt. Günther Haller erinnert in der Presse an Anton Bruckners Zeit in Linz. Jakob Biazza erzählt in der SZ von seinem Treffen mit Mark Knopfler in London, dessen neues Album "One Deep River" Richard Kämmerlings in der Welt bespricht.



Besprochen werden ein von Jaap van Zweden dirigiertes Konzert der New Yorker Philharmoniker mit dem Pianistin Rudolf Buchbinder in Zürich (NZZ) und eine Vinyl-Neuausgabe des Debütalbums von Clutch aus den frühen Neunzigern (Standard).
Stichwörter: Nichtseattle

Efeu - Die Kulturrundschau vom 12.04.2024 - Musik

Matthias Nöther spricht für VAN mit dem estnischen Komponisten Jüri Reinvere, der von Frankfurt am Main aus auch als politischer Journalist für Estlands größte Tageszeitung Postimees in seine Heimat wirkt, wo er vergangenes Jahr als "Meinungsführer des Jahres" ausgezeichnet wurde. Die Hochkultur steht dort sehr solidarisch zur Ukraine - doch zugleich wird die Hochkultur von Politik und Gesellschaft zusehends an den Rand gedrängt - für Reinvere ist das "politisch gefährlich. In Estland sieht man das an Tartu, der diesjährigen europäischen Kulturhauptstadt. Tartu ist eine Stadt mit einer der reichsten Geschichten in Europa." Doch "davon ist nichts zu sehen. Stattdessen sind die Highlights der Kulturhauptstadt Conchita Wurst und Bryan Adams. ... Das zeigt so markant, wie stark das Selbstbewusstsein und Selbstinteresse verschwunden ist und wie verzweifelt die estnische Kulturszene momentan versucht, das nachzumachen, was in London sozusagen fünfte oder sechste Bühne ist." Doch "sobald Estland ohne Kultur ist, ist dieses Land Freiwild für russische Propaganda und russische Aggressionen. Das Baltikum und auch gewissermaßen Skandinavien haben eine Selbstständigkeit vorwiegend in kulturellen Dingen."

Jeffrey Arlo Brown spricht für VAN mit Stas Nevmerzhytskyi, dem Chefredakteur des ukrainischen Klassik-Onlinemagazins The Claquers, der in den nächsten Tagen als Soldat an die Front gehen wird. Seit der russischen Invasion hat man sich verstärkt mit dem Aspekt des russischen Kolonialismus befasst, erzählt er. "Russische Kultur, insbesondere russische Musik, fungierte schon immer als Deckmantel für den aggressiven russischen Kolonialismus und Imperialismus. Aber darüber wird im Westen nicht gesprochen; im Westen wird sie als eine Kultur wahrgenommen, die auf denselben Werten aufbaut wie die europäische Kultur. ... Wegen dieser 'Überlegenheit' der russischen Musik wurde ukrainische Musik immer kleingehalten und ignoriert - russische Musik wurde immer als großartig und ukrainische Musik als zweitklassig angesehen. Deshalb kennt der Westen Schostakowitsch und all die Geschichten darüber, dass er angeblich gegen die Sowjetregierung war, aber nicht Borys Ljatoschynski, einen ukrainischen Komponisten, der zur gleichen Zeit gelebt hat und der auch ein großer Komponist war. ... Es ist sehr frustrierend und demütigend zu sehen, wie ukrainische Musik in Europa in den Kontext russischer Musik gestellt wird."

Weitere Artikel: Benjamin Moldenhauer liest für die taz eine Studie über Antisemitismus in Deutschrap und Jugendkultur. Benjamin Poore erkundigt sich für VAN nach der Rolle von Orchester-Assistenten. Für die FAZ porträtiert Hannes Hintermeier den österreichischen Musiker Voodoo Jürgens, der zuletzt als Schauspieler und nun auch als Maler von sich reden macht. Luca Glenzer plaudert für die taz mit der Indiemusikerin Katharina Kollmann alias nichtseattle über deren neues Album. In ihrem aktuellen Video tastet die Kamera das Gesicht von Dirk von Lowtzow ab:



Besprochen wird ein Strauss-Konzert der Wiener Symphoniker unter Petr Popelka (Standard).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 11.04.2024 - Musik

Martin Fischer staunt im Tagesanzeiger: Die ganz großen Namen im Pop-Business - Taylor Swift, Billie Eilish und Beyoncé - kehren zusehends zum Album als Gesamtkunstwerk zurück und de-privilegieren damit den im Streamingzeitalter so wichtigen Einzeltrack. Sehr bedauerlich findet es Julian Weber in der taz, dass die mit ihrem "feministischen und avantgardistischen Kammerpop" an sich sehr interessante Künstlerin Julia Holter, die "Strike Germany" zwar unterschrieben hat, aber trotzdem auf Deutschlandtour kommt, sich mit ihrer Israelkritik so verrannt hat. Leonie C. Wagner blickt in der NZZ auf die zahlreichen Gerichtsverfahren, die dem Rapper Puff Daddy derzeit am Hals hängen. Karl Fluch schreibt im Standard zum Tod von New-Orleans-Musiker Clarence "Frogman" Henry.

Besprochen wird der von Karin Wagner zusammengestellte Band "Euer Ani, Ini, Arnold Daddi" mit Kindheits- und Familienerinnerungen an Arnold Schönberg (Standard).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.04.2024 - Musik

In der taz verteidigt Dirk Knipphals das Antilopen-Gang-Stück "Oktober in Europa" vor den Vorwürfen, die gestern unter anderem auch in der taz selbst laut wurden (unser Resümee). Es handelt sich zunächst einmal um "einen traurigen Song über das erneute Aufkommen des Antisemitismus und einen verfehlenden Umgang damit", hält er fest und bestätigt dann auch die von uns gestern stark gemachte Lesart, dass die Zeile "Schutzschild der Nachfahr'n der Juden-Vergaser" als Teil einer Auflistung verschiedener Milieus zu verstehen ist und also nicht als Bekräftigung der vorangegangenen Zeile ("Zivilisten der Gaza sind Schutzschild der Hamas"). "Das ganze Lied wird aus einer Perspektive vorgetragen, der bewusst ist, aus einer postarischen Gesellschaft zu stammen. Die Intervention richtet sich ja gerade gegen Menschen, die das vergessen. ... Dass die Zivilisten in Gaza als Entschuldigung für Antisemitismus in Deutschland herhalten und in diesem Sinne 'Schutzschild der Nachfahr'n der Juden-Vergaser' sein müssen, ist ein harter und auch diskussionswürdiger Vorwurf. Doch diese Lyrics stammen nicht aus einem Thesenpapier, sondern einem Rapsong. Sie intervenieren in eine konkrete gesellschaftliche Lage. Wer diesen Vorwurf kritisiert, sollte ihm direkt ins Auge sehen und ihn keineswegs dazu benutzen, die ratlose Traurigkeit und den mit ihr verbundenen konkret kritischen Impuls dieses Songs zu delegitimieren."

Außerdem: Nick Joyce plaudert für den Tagesanzeiger mit Roger Glover von Deep Purple, Alex Samuels spricht für die taz mit Anastasia Schmidt und Martin Fuller, die an der neu gegründeten Academy for Subcultural Understanding im Berliner Club Tresor insbesondere Clubgründer aus kleinen und mittelgroßen Städten coachen. Besprochen werden Elias Stemeseders und Christian Lillingers Album "Antumbra", das laut FR-Kritiker Hans-Jürgen Linke "eine siebzehnteilige Gegenwart" bietet, ein Konzert von Scooter (BLZ) sowie neue Alben der Black Keys (SZ), von Vampire Weekend (Standard) und Khruangbin (Pitchfork). Wir hören rein:

Efeu - Die Kulturrundschau vom 09.04.2024 - Musik

Helle Aufregung um den Song "Oktober in Europa" der Antilopen Gang: Das Rap-Trio um Danger Dan prangert darin den die Grenze zum Antisemitismus oft überschreitenden israelkritischen Konsens in Gesellschaft, Kultur und eigener Szeneblase an - und stößt damit bei vielen erwartbarerweise auf Empörung und Ablehnung. Manche stellen sich dabei vielleicht auch absichtlich dumm und deuten offensichtlich bewusst zweideutig gehaltene Zeilen wie "Zivilisten in Gaza sind Schutzschild der Hamas / Schutzschild der Nachfahr'n der Juden-Vergaser / Schutzschild der sonst immer so mutigen / 'Blabla, nie wieder Blabla'-auf-Instagram-Sager" so um, als hielte die Antilopen Gang eindeutig die Palästinenser für die Nachkommen der Nazis. "Man hört eben, was man hören will", kommentiert dazu Jana Weiss im Tagesspiegel. "Was man dabei jedoch nicht außer Acht lassen darf: Die Möglichkeit, dass Menschen diese Zeilen falsch verstehen könnten oder wollen, muss einer Band wie der Antilopen Gang bewusst gewesen sein. Die Provokation ist sicherlich kein Unfall."



Auch Lea Fauth von der taz entscheidet sich für eine eindeutige Lesart und sieht in den drei Zeilen nicht etwa eine Aufzählung dreier unterschiedlicher Milieus, sondern unterschlägt die dritte Schutzschild-Zeile, um so die zweite Zeile zu einer bloßen Emphase der ersten umzudeuten, was den mit Blick auf die Antilopen Gang eher fernliegenden Vorwurf argumentativ erleichtert, aus dem Text spreche "eine Sehnsucht im kollektiven Unterbewusstsein der Deutschen" danach, "sich der deutschen Schuld - auf welche Art auch immer - zu entledigen. ... Abgesehen von der Holocaust-Verharmlosung, die dem innewohnt, sowie der Reduzierung Zehntausender Toter auf die Funktion eines Schutzschildes: ... Die Täter-Abstammung jemand anderem anhängen zu wollen, die deutsche Schuld und Täterschaft also abzuwälzen, kann nicht im Sinne des Kampfs gegen Antisemitismus sein." Dass es eher die Hamas ist, die die Zivilisten in Gaza in diese Rolle zwingt, erwähnt Fauth nicht. Wer jetzt aus allen Wolken fällt, dass die Antilopen Gang aus dem bunten Supermarkt der linken Positionen für sich eine antideutsch grundierte wählt, hat in den letzten Jahren wohl nicht zugehört, schreibt derweil Ueli Bernays in der NZZ: Danger Dan und die Antilopen haben in zahlreichen Songs wiederholt auch den linken Antisemitismus thematisiert". Im Gespräch mit Dlf Kultur ist der Rapper Ben Salomo, der seit Jahren Antisemitismus in der Rapszene anprangert, sehr dankbar für dieses Stück: "Endlich spricht jemand aus, was wir im Herzen fühlen."

Konstantin Nowotny verzweifelt derweil im Freitag, wie brav und sozialpädagogisch sich dagegen Die Ärzte mit ihrer aktuellen Single "Demokratie" ausnehmen, in der sie Wählengehen und anheimelnde "Wir sind mehr"-Atmosphäre dem politischen Rechtsruck entgegen setzen, während sie Rechtsextremen früher noch beherzt Kraftausdrücke entgegen schmetterten: "Bloß nicht spalten, bloß nicht beißen, lieber den Schrei nach Liebe beantworten - wir können sie ja noch bekehren. Oder? Höchste Zeit, wieder mehr 'Arschloch' zu sagen."

In der SZ blickt Reinhard J. Brembeck zurück auf den Siegeszug der Alte-Musik-Bewegung, die in den Neunzigern für Furore sorgte. Von diesem lodernden Feuer ist heutzutage nichts mehr zu spüren, seufzt er: "Das Milleniumsjahr 2000 war der Endpunkt dieser Entwicklung", seitdem "hat die Historikerszene keine nennenswerten Neuerungen mehr zu verzeichnen, auch wenn sie sich nach und nach die romantische Musik eroberte, auch wenn ihr noch immer viele hinreißende Musiker folgen. Mit Ausnahme des renitent romantischen Christian Thielemann haben, angefangen bei Claudio Abbado und Simon Rattle, alle großen Dirigenten, Instrumentalistinnen und Sänger die Techniken und Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis in ihr Musizieren integriert. Egal, ob die neuen Helden Raphaël Pichon oder Jakub Józef Orliński, heißen, sie alle liefern keine neuen Revolutionen, sondern Fortsetzungen und Verfeinerungen des in den 1990er-Jahren Erreichten. ... Der Aufstand ist zu Alltag geronnen."

Weitere Artikel: Jens Uthoff spricht für die Jungle World mit Anja Huwe, die in den Achtzigern mit ihrer Gothicpunk-Band Xmal Deutschland Erfolge feiern konnte und jetzt nach 30 Jahren Musikferne ein Solo-Comeback vorgelegt hat. Beyoncés Coverversion von Dolly Partons "Jolene" enttäuscht Tagesanzeiger Philippe Zweifel. Walter Weidringer (Presse) und Ljubiša Tošić (Standard) schreiben knappe Nachrufe auf den Dirigenten Michael Boder.

Efeu - Die Kulturrundschau vom 08.04.2024 - Musik

Michael Moorstedt von der SZ hält die Warnungen von namhaften Musikern, darunter Billie Eilish, vor KI in der Musikgenerierung durchaus für gut begründet. Die KI-Macher sehen in ihren Tools zwar ein Mittel zur Demokratisierung der Musikproduktion, "aber führt die Möglichkeit, sich neue Formen der bevorzugten Musik zu imaginieren in eine mehr als nur sprichwörtliche Echokammer, in der es unerhört erscheint, etwas anderes zu hören als die eigenen, sofort befriedigten Launen? Durch den Wunsch, das Werk eines Künstlers zu erweitern, wird dieser letztlich völlig verdrängt, weil sich der vom Hörer zum Nutzer verwandelte Fan nämlich über die kreativen Entscheidungen des Vorbilds hinwegsetzt. Das ursprünglich so geschätzte Werk wird zum schnöden Input degradiert, wird mehr oder weniger willkürliches Ausgangsmaterial und Remix-Spachtelmasse für die eigenen Bedürfnisse."

Den Unkenrufen, der Dirigent Klaus Mäkelä sei mit 28 Jahren doch viel zu jung, um nach leitenden Positionen beim Orchestre de Paris und dem Oslo Philharmonic nun auch noch zum Chef des Chicago Symphony Orchestra berufen zu werfen, hält Manuel Brug in der Welt entgegen, dass Dirigenten auch nicht mehr so zwingend wie einst mit zunehmendem Alter reifen wie guter Wein: "Wir haben in den letzten Jahren erlebt, wie gestrige Vorwärtsstürmer wie Daniel Harding, Philippe Jordan, Lionel Bringuier und in gewisser Weise auch Gustavo Dudamel heute plötzlich stagnieren, nichts mehr kreativ zu sagen haben, schlecht reiften. Die einen haben trotzdem attraktive Posten bekommen, andere nicht. ... Lassen wir den frischen Finnen Mäkelä mal machen. Nicht alles wird brillant werden, manches hoffentlich schon. Versuche und irre."

Ohne Alice Coltrane hätte ihr Ehemann John Coltrane niemals den Weg in jene absolute Freiheit gefunden, die er sich in den Sechzigern erspielt hatte, ist sich SZ-Kritiker Andrian Kreye sicher und verweist zum Beweis auf Alice Coltranes eben veröffentlichtes "The Carnegie Hall Concert" (hier als Youtube-Playlist mit toller Retro-Visualisierung) aus dem Jahr 1971. Zweien der insgesamt vier ausufernden Stücke liegen Kompositionen ihres 1967 verstorbenen Ehemannes zugrunde: "'Africa' war das Stück ihres Mannes, das sie, wie es heißt, am meisten bewegt hatte. In dieser Live-Fassung ist es ein gewaltiges Aufbäumen. Sie gibt über fast eine halbe Stunde sowohl der doppelten Rhythmusgruppe als auch den beiden Saxofonisten viel Raum, sich gegenseitig hochzuschaukeln, sämtliche Nischen und Räume des Stückes auszuloten. Dann kommt das Finale. 'Leo' ist eine der kraftvollsten Kompositionen John Coltranes, das er auf seinem epochalen Duo-Album 'Interstellar Space' mit dem Schlagzeuger Rashied Ali erstmals veröffentlichte. Letztlich besteht es aus einem brachialen Oktavsprung als Thema und einer Struktur, die mehr Welle als Komposition ist."



Außerdem: Beglückt kommt NZZ-Kritiker Marco Frei von seinem Besuch in Sergei Rachmaninows vor einem Jahr als Kulturzentrum eröffneten Villa in Luzern nach Hause, die sich in seinen Augen zu einer neuen Villa Massimo entwickeln könnte: "Die Schweiz ist dabei, sich mit der Villa Senar einen eigenen, weltweit einzigartigen Kunstort zu schaffen." Ziemlich skeptisch reagiert Till Wagner in der Jungle World darauf, dass die Berliner Clubkultur zum Unesco-Weltkulturerbe erklärt wurde und damit musealisiert werde: "Damit wird genau jenes widerständige Potential abgeschliffen, das sie vormals interessant machte." Frank Heer spricht in der NZZ mit Mark Knopfler über dessen (in der FAZ besprochenes) Soloalbum "One Deep River". Jakob Biazza (SZ) und Dirk Peitz (Zeit Online) denken darüber nach, dass mit Die Ärzte und der Antilopen Ǵang gleich zwei deutsche Popbands aus dem linken Spektrum mit neuen Songs politische Statements abgeben: Die Ärzte mit "Demokratie" einen dann doch ein bisschen sehr sozialpädagogisch-biederen Aufruf, vom Wahlrecht Gebrauch zu machen, die Antilopen mit "Oktober in Europa" hingegen mit einer zugespitzten Abrechnung mit dem israelkritischen Konsens in Gesellschaft, Kulturbetrieb und eigener Szene-Blase:



Besprochen werden Molly Lewis' Album "On the Lips" (FR), Nikolaus Matthes' Neuvertonung einer "Markus-Passion" im Bach-Stil (FAZ, mehr dazu bereits hier), die Ausstellung "Anton Bruckner. Der fromme Revolutionär" in der Österreichischen Bibliothek (FAZ), eine Aufnahme aller Brahms-Streichquartette durch das Agate Quartett (FAZ), das neue Album von Vampire Weekend (SZ) und das Comeback-Album der Libertines (Standard).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 06.04.2024 - Musik

Blixa Bargeld, der mit den Einstürzenden Neubauten gerade ein neues Album veröffentlicht hat, verneint im taz-Gespräch mit Robert Mießner seine Punkwurzeln und sieht sich viel eher in der Tradition des Krautrock der frühen Siebziger und dessen Improvisationsprinzip. So funktioniere auch das neue Album über weite Strecken: "Jochen fängt an, Rudi, ich und Alex spielen, Felix Gebhardt spielt die Orgel. Und Andrew macht nix. Nachdem das nun gesungen war und so weiter befand Andrew: Da fehlt Wasser. Planet Umbra braucht Wasser. Das ist Andrew, so denkt Andrew musikalisch. Wenn man genau hinhört, bemerkt man, wie in Zeitlupe aus dem Wasser größere Flüsse werden. Ich bin jetzt in meiner Rembrandt-Zeit. Ich trete vom Bild zurück. Der Geruch der Farbe macht krank, aber ich fange an zu begreifen, was ich da in die Welt gesetzt habe. Ich bin glücklich mit dem Album." Wir hören rein:



Till Schmidt verneigt sich in der FAS vor der im Exil lebenden iranischen Sängerin Googoosh, die vor der Machtübernahme der Ayatollahs für ein modernes, hedonistisches Lebensgefühl in Iran stand. Auf ihrer Abschiedstour sah sie vor kurzem auch in Frankfurt vorbei: "Wie bei Googoosh-Konzerten üblich, befinden sich im Publikum vor allem iranischstämmige Menschen, die jedes ihrer kraftvollen Lieder mit stolzem Jubel feiern. ... In der iranischen Diaspora gelten ihre Songs seit Langem als Teil des Kulturerbes. Auch jüngere Menschen singen Klassiker wie 'Hejrat', 'Makhlough' oder 'Bavar Kon' laut und textsicher mit. Den Iran dürften viele der Anwesenden vor allem aus den Familienerzählungen und als Touristen kennen. Für große Teile der Diaspora im Westen ist Googoosh eine inoffizielle nationale Ikone, die euphorisierend-nostalgische Gefühle für das Moderne in der iranischen Geschichte freisetzt."



Weitere Artikel: Stefan Frommann spricht für die Welt mit dem spanischen Professor Jordi Ballera, der Vorlesungen über die Hardrock-Combo Kiss als Wirtschaftsmarke hält (und "selbstverständlich" vier Tattoos der Band auf seinem Körper trägt). Besprochen werden das Comeback-Album "All Quiet on the Eastern Esplanade" der Libertines (Welt, Zeit Online), ein Konzert von Gallagher & Squire (Welt), das neue Album von Mark Knopfler (WamS) sowie Gülru Ensaris und Herbert Schuchs Klavieralbum "Eternity" (SZ)

Efeu - Die Kulturrundschau vom 05.04.2024 - Musik

Zwei Jahre nach der russischen Invasion in der Ukraine und den in Folge hartnäckig geführten Diskussionen, wie mit staatstragenden russischen Künstlern umzugehen sei, beobachtet NZZ-Kritiker Christian Wildhagen "eine Sehnsucht nach Business as usual" im Betrieb und einen "gewissen Pragmatismus". Darauf setzt wohl auch Teodor Currentzis, der mit seinem hartnäckigen Schweigen zu Putin und Russland die Furtwängler-Strategie gewählt hat: künstlerischer Idealismus schlägt triviale Politik. "Er spielt offenbar auf Zeit und setzt auf die voranschreitende Abstumpfung des Publikums gegenüber moralischen Diskussionen. Gleichzeitig kann er auf die nahezu kultische Verehrung bauen, die ihm Teile der Musikwelt noch immer entgegenbringen." Doch "schon vor 2022 konnte man Unstimmigkeiten im Bild des allein der hohen Kunst verpflichteten Idealisten entdecken. Als beispielsweise publik wurde, wie hoch der Preis ist, den die Mitglieder der von Currentzis in Russland gegründeten Ensembles zu zahlen haben. Deren Perfektion wird nämlich allem Anschein nach mit autoritativen Strukturen, ausufernden Probenzeiten und einem eigenartigen Korpsgeist erkauft. Man kann solche Exzesse wiederum mit Idealismus rechtfertigen oder mit der Gruppendynamik, die nötig ist, damit die Mitglieder des Originalklang-Ensembles Musica Aeterna und des dazugehörigen Chores der Klassikwelt derart einheizen können. Nicht zu verkennen ist aber auch, dass rund um die charismatische Leiter-Figur Currentzis ein System entstanden ist, das zugleich ein lukratives Geschäftsmodell darstellt."

Stephanie Grimm hört für die taz "Kratermusik", das neue Album der mittlerweile übers gesamte Bundesgebiebt verstreuten Postpunk-Band Messer rund um den Schriftsteller Hendrik Otremba. Wobei, was heißt hier Postpunk? "Selbst dieses unscharfe Etikett beschreibt beim besten Willen nicht mehr den aktuellen Messer-Sound, trotz schnalzend-zackiger New-Wave-Momente und hechelnder Beats, etwa im Song 'Eaten Alive'. Dafür groovt es einfach zu ungebrochen. Manchmal fühlt man sich gar an die guten Songs von The Police erinnert, wenn Messer erstaunlicherweise ziemlich funky klingen. Einflüsse aus Funk, Dub und den späten 1980er Jahren sorgen ob ihrer Vertrautheit für eine Zugänglichkeit des Sounds. Und doch amalgamieren Messer ihren Mix zu etwas Eigenwilligem und ziemlich Doppelbödigem: Kryptische und doch gegenwartssatte Songtexte, die bei aller Verrätselheit Assoziationsräume aufmachen; festgeklettet in einem moosig gemütlichen Offbeat-Bett." Von den aktuellen Singles der Band müssen wir natürlich "Taucher" einbinden:



Weitere Artikel: Juliane Liebert plaudert für die SZ mit Blixa Bargeld, dessen Einstürzende Neubauten gerade ein neues Album veröffentilcht haben. Lars Fleischmann berichtet für die taz vom Musikfestival Babel Music XP in Marseilles. Ane Hebeisen stellt im Tagesanzeiger das neue Musikprojekt "Achtung Niemand" des Schweizer Sprachkünstlers Jürg Halter vor. Besprochen wird das neue Album der Black Keys, für das sich auch Beck und Noel Gallagher für Gastauftritte im Studio vorbeigeschaut haben (Standard).

Efeu - Die Kulturrundschau vom 04.04.2024 - Musik

Während die Berliner Klassikhäuser derzeit geradezu einen Run auf ihr Angebot erleben, kürzt der RBB sein Klassikangebot "antizyklisch" weiter ein, ärgert sich Frederik Hanssen im Tagesspiegel (und lügt sich damit aber vielleicht auch ein wenig in die eigene Tasche, wenn er die Ticketverkäufe eins zu eins in eins in individuelle Menschen übersetzt). Lotte Thaler resümiert in der FAZ den Heidelberger Frühling. Luzi Bernet plaudert für die NZZ mit Gianna Nannini, die in Italien gerade ein sensationelles Comeback hingelegt hat. Daniel Haas (NZZ) und Harald Hordych (SZ) berichten von Campinos Lyrik-Vorlesung an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf (mehr dazu bereits hier).

Besprochen werden Wiederveröffentlichungen aus der ukrainischen Undergroundszene der Achtziger- und Neunzigerjahre (taz) und das neue Werk der Einstürzenden Neubauten ("ein spannendes Album, das mehr Nice als Noise beinhaltet", schreibt sich Christian Schachinger im Standard).

Stichwörter: Einstürzende Neubauten

Efeu - Die Kulturrundschau vom 03.04.2024 - Musik

"Eine, ganz unironisch gemeint, wunderschöne deutsche Bürgerlichkeit" hat sich beim Auftakt von Campinos Gastprofessur an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf eingefunden, schwärmt Frédéric Schwilden in der Welt. "Jetzt ist der Marsch durch die Institutionen an seinem logischen bürgerlichen Ende angelangt: vom Punkschuppen ins Stadion, vom Soundtrack der Punks zum Wahlsieg-Song der CDU 2014, zum Gala-Dinner mit Prince Charles und jetzt auf den Lehrstuhl. Folgerichtig für den Lehrerinnen- und Richter-Sohn Campino." Seine "erste Vorlesung trägt den Titel 'Kästner, Kraftwerk, Cock Sparrer. Eine Liebeserklärung an die Gebrauchslyrik'. Und das ist auch wieder ganz ehrlich: Wie toll ist es bitte, dass sich Campino selbst als Gebrauchslyriker sieht. Er sieht sich nicht als großer, berufener Künstler, und hat damit den Schweighöfers in diesem Land einiges voraus. Campino hat eine große, ehrliche Demut in seiner Person."

Weitere Artikel: Hanspeter Künzler hat für die NZZ mit Beth Ditto gesprochen, deren Band Gossip gerade ein Comeback hinlegt. Katharina Granzin berichtet in der taz von den Bestrebungen Barcelonas, sich mit Klassikfestivals mit teils freiem Eintritt vom Party-Tourismus zu emanzipieren und stattdessen Kulturmenschen anzulocken.

Besprochen werden das neue Idles-Album "Tangk" (FR), die Neuausgabe von Brion Gysins Underground-Album "Junk" ("insofern ein klassisches Postpunk-Album, als es den Zusammenprall von Punk mit vorherigen Popgenres, von Disco zu Krautrock, Dub und Reggae abbildet", schreibt Jens Uthoff in der taz) und das Wiener Konzert von Judas Priest (Standard, Presse). Wir moshen in Berlin aus der Ferne mit:

Stichwörter: Campino, Postpunk, Krautrock