Bücher der Saison

Briefe, Essays,
Reportagen, Lyrik

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
Serhij Zhadans Aufzeichnungen aus dem Krieg. Der Briefwechsel Bachmann/Frisch, der die Liebe und ihre Unmöglichkeit dokumentiert. Isabel Fargo Coles Aufzeichnungen des Goldfiebers in Alaska. Und eine Monsteredition spanischer Lyrik.
Briefe, Tagebücher

Der ukrainische Dichter Serhij Zhadan wurde in diesem Jahr mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet - verdientermaßen, da waren sich die deutschen Kulturjournalisten einig. Seine Aufzeichnungen in "Himmel über Charkiw" (bestellen) sind allerdings weniger literarische Aufzeichnungen als Postings über den Alltag in Zeiten des Krieges, erklärt Tobias Lehmkuhl im Dlf. Zusammengenommen ergeben sie ein Dokument des Gemeinschaftsgefühls der Ukrainer, zugleich sind sie als "affektive Botschaften" Aufrufe zum Widerstand und zum Durchhalten, so Lehmkuhl. Dass Zhadan sich trotz aller Wut auf die russischen Invasoren für eine vielsprachige ukrainische Literatur einsetzt, nimmt Ulrich M. Schmidt in der NZZ mit Interesse zur Kenntnis. Ganz und gar hingerissen ist SZ-Kritiker Felix Stephan über die Momente voller Wahnwitz und "Schönheit" , die Zhadan ebenso beschreibt wie den Beschuss, Medikamentenauslieferungen oder Szenen aus dem Alltags- und Kulturleben. Und wenn er die "postapokalyptische" Sphäre der menschenleeren Straßen und brennenden Städte einfängt, denkt sich Stephan: Das könnte Cormac McCarthy nicht besser.

Ingeborg Bachmann hat nie gewollt, dass ihr Briefwechsel mit Max Frisch (bestellen) veröffentlicht wird, gibt Iris Radisch in der Zeit zu. Trotzdem ist die Kritikerin froh, dass sie die Briefe nun doch lesen kann: Sie verfolgt fasziniert, wie unmöglich die Liebe im Grunde war zwischen der selbstbewussten, aber emotional vielleicht schwächeren Bachmann, und Frisch, der die "allerletzte Epoche ungebrochener männlicher Herrschaft" offenbar voll auskostete. Große Literatur sind die Briefe auch noch, so die Kritikerin. Für Andreas Platthaus (FAZ) liest sich das Buch praktisch wie ein Roman, so heftig war die Leidenschaft dieser Beziehung. Annie Ernaux ist frisch gebackene Literaturnobelpreisträgerin. Auf Deutsch erschien in diesem Herbst "Das andere Mädchen" (bestellen), ihre als Brief formulierte Auseinandersetzung mit dem Tod der damals sechsjährigen Schwester, die sie nie kennengelernt hatte. Wie Ernaux nicht nur das Familientrauma um den Tod der Schwester, sondern auch das Verhalten der Mutter erkundet, erinnert Mara Delius (Welt) an Kafkas "Brief an den Vater". Als Schlüssel zum Werk der Literaturnobelpreisträgerin taugt das Buch auch, ahnt sie. Ein beeindruckend "kühl und haargenau" geschriebenes und ebenso übersetztes Buch, findet Judith von Sternburg (FR).

Auch interessant: Siegfried Kracauers Reisenotizen aus Europa 1960 - 65 im Band "Ideas, Talks and Some Scattered Observations" (bestellen), in denen der Philosoph über das Unbedeutende, das, was unbeobachtet existiert, kommuniziert wie kein anderer, schreibt in der SZ ein gerührter Jörg Später, der den Band als ideales Weihnachtsgeschenk für alle Kracauer-Fans empfiehlt. Ein amüsierter Michael Hesse (FR) lernt aus dem in "Gut, dass wir einmal die hot potatoes ausgraben" (bestellen) gesammelten Briefwechsel von Günther Anders mit Theodor W. Adorno, Ernst Bloch, Max Horkheimer, Herbert Marcuse und Helmuth Plessner, wie die Herren Philosophen diskutierten, sich gegenseitig beharkten und wieder versöhnten. Auch die FAZ hat sich gut unterhalten. Die Tagebücher (bestellen) von Rafael Chirbes sind Zeugnis für die äußerst lebendige spanische Literatur, lobt die FR, die besonders Chirbes' Nachdenken über seine eigene Homosexualität im konservativen Spanien, wo fanatische Priester einst Federico García Lorca zur Beichte zwangen, bevor sie ihn erschießen ließen, beeindruckt haben. Auch die Rezensenten von FAZ, SZ und taz fanden die Notate bewundernswert reich und von verstörender Traurigkeit. Bei den Tagebüchern (bestellen) von Ernst Jünger aus dem Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegszeit kommt die SZ nicht hinweg über Jüngers "mordsreaktionäres Dandytum", während der Altphilologe Jonas Grethlein in der Welt über die Aufzeichnungen urteilt: unzeitgemäß, aber nicht unaktuell.


Essays und Reportagen

Isabel Fargo Coles Ururgroßvater brach einst auf nach Alaska, um am Schlangenfluss nach Gold zu schürfen. Hundert Jahre später begibt sich die in Berlin lebende Autorin und Übersetzerin auf die Spuren dieses Glücksritters, der sein bescheidenes Vermögen bald aufgebraucht hatte. Die Kritiker sind hin und weg von ihrem Reisebericht "Die Goldküste" (bestellen): In der Zeit folgt ihr Alexander Camann widerstandlos in die gefährlich-schöne Landschaft Alaskas, erlebt die Potlatsch-Rituale der indigenen Bevölkerung und durchlebt die Strapazen einer Überwinterung im Eis. Für Camann ist der Bericht mit seiner klaren Prosa "eines der schönsten Sachbücher des Jahres". In der NZZ schwärmt auch Paul Jandl von diesem Buch, das zugleich Naturbetrachtung, Familienchronik und "Soziologie einer Träumerei" sei. Im DlfKultur erkennt Nico Bleutge, dass es vor allem die Goldsucher waren, die während des Goldrauschs gewinnbringend ausgebeutet wurden.

Als "Riesenentdeckung" feiert Marie Luise Knott in der FAZ den Bericht "Along the color line" (bestellen) des amerikanischen Bürgerrechtlers W.E.B. DuBois von seiner Reise durch Deutschland im Jahr 1936. Wie klarsichtig der schwarze Intellektuelle das nationalsozialistische Deutschland wahrnimmt, das ihn selbst nahezu unbehelligt ließ, dafür seine Grausamkeit und Rachsucht an der jüdischen Bevölkerung austobte, bewegt und beeindruckt Knott. Geradezu für eine Pflichtlektüre hält Thomas Meyer in der FAZ Sander Gilmans Essayband "Gebannt in diesem magischen Judenkreis" (bestellen). Der amerikanische Historiker denkt darin über jüdische Identität nach, über historischen Judenhass und aktuellen Antisemitismus. Lehrreich und so komplex, dass sie auch Selbstkritik vertragen, findet Meyer die Texte.

Gelobt wurde auch der Essayband "Harte Leute" (bestellen) der amerikanischen Autorin Rachel Kushner. Selbst wenn man den Kritiken kaum entnehmen kann, worum es in den hier versammelten Texten eigentlich geht, versichert Claudia Cosmo im NDR, dass Kushner toll schreibt: "angenehm cool, rau, scharfsinnig, klug und flexibel". In der Welt lässt Peter Praschl ahnen, dass es wie stets bei Kushner rasant zugeht. Hin und weg war FAZ-Kritiker Andreas Platthaus von Alberto Manguels Band "Fabelhafte Wesen" (bestellen), in dem der argentinische Autor seinen fantastischen Lieblingshelden huldigt. In der SZ empfiehlt Hilmar Klute Michael Maars Prosaminiaturen "Fliegenpapier" (bestellen) als exquisite Sammlung von literarischen Beobachtungen und Gedanken.


Lyrik

Ein Highlight der Saison - wenn auch schon im Juli erschienen - ist auf jeden Fall die von Martin von Koppenfels herausgegebene Sammlung "Spanische und hispanoamerikanische Lyrik" (bestellen): 2500 Seiten führen zweisprachig, in vier Bänden, in die spanischsprachige Lyrik vom mittelalterlichen Al-Andalus bis heute und von Spanien bis nach Lateinamerika. Reinhard J. Brembeck schwelgte in der SZ selbst wortgewaltig in dieser "Monsteredition" mit ihren "ungeschwätzig, hellsichtigen Kommentaren" und lockte mit langen Auszügen aus den barocken Gedichten. In der FAZ zeigte sich Paul Ingendaay schwer beeindruckt von Inhalt und Form: Die Auswahl schließt Lücken in der deutschen Rezeption spanischsprachiger Lyrik und verbindet bekannte Namen wie Cervantes, Paz und Neruda mit deutschen Lesern weniger vertrauten wie Hector Tenderley oder Rosalía de Castro. Ein poetischer Genuss, freut sich Ingendaay. In der FR verspricht Martin Oehlen reinstes Leseglück, an dem, da sind sich die Kritiker einig, die Übersetzer einen großen Anteil haben.

Ulrike Almut Sandigs Gedichtband "Leuchtende Schafe" (bestellen) ist ein Gesamtkunstwerk, versichert ein begeisterter Fridtjof Küchemann in der FAZ, eins, das verschiedenste Genres und Medien mischt. Der Rezensent ist hingerissen von der schwingenden Leichtigkeit und dem Innovationsgeist der Gedichte. Auch FR-Kritiker Eberhard Geisler ließ sich anregen von Sandigs Erinnerungen an die eigene Kindheit und Jugend bei Meißen, der Disparatheit der Themen und der "Wortfülle". Uwe Dick hat den siebten und letzten Teil seiner "Sauwaldprosa" (bestellen) vorgelegt. Für FAZ-Kritiker Rezensent Michael Lentz ein Fest: In seinem work in progress aus Reportage, Porträt, Brief, Reisebericht, Märchen, Gedicht, Essay und Fußnote gelangt der Ich-Erzähler laut Lentz auf den Spuren eines Novalis oder Schlegel nicht nur in immer neue Gegenden des geheimnisvollen Passauer Sauwaldes, einer Seelenlandschaft aus Realem und Vorgestelltem. Dass er auf die Art einen beachtlichen Realitätsgehalt erreicht, ist für Lentz das eigentlich Erstaunliche.

Sehr gut besprochen wurden außerdem Ernest Wichners "Heute Mai und morgen du" (bestellen), dessen Innigkeit und sprudelnder Geist Björn Hayer (FR) beeindruckte. Tadeusz Dabrowski erfreut mit seinem Lyrikband "Wenn die Welt schläft" (bestellen) das Herz Marko Martins (Dlf Kultur), der das "Urvertrauen" des Danziger Dichters in eine Sprache bewundert, die Alltagsbegebenheiten im Zug oder in einer polnischen Dorfkirche einfängt oder den Dichter liebeskrank in New York zeigt. FAZ und Dlf schließlich empfehlen wärmstens die Neuauflage der Werkausgabe (bestellen) des russischen Sprachartisten Welimir Clebnikow in der bereits vor 50 Jahren erstmals erschienenen Ausgabe von Peter Urban. Weitere Lyrikempfehlungen finden Sie in Marie Luise Knotts Perlentaucher-Kolumne "Tagtigall".