Bücher der Saison

Romane und
erzählende Literatur

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
Als sehr ergiebig erweist sich das Literaturland Spanien, das unter anderem mit Javier Marias' Geheimdienstagent Thomas Nevinson bekannt macht. Peter Nadas erkundet die Vorboten des Orbanismus, die sich schon unter Kadar ankündigten. Sedef Ecer nimmt uns mit in die Istanbuler Film- und Theaterwelt der 1950 bis 1970er Jahre. Ales Stegers Protagonistin hat eine Schreibkrise, während Europa zerfällt. Und Jennifer Egan lädt ihr Bewusstsein in einer Cloud hoch.
Die Pandemie ist noch nicht vorüber, aber längst stehen mit dem Krieg in der Ukraine oder der Inflation andere Krisen im Vordergrund. Immerhin: Die Frankfurter Buchmesse fand beinahe in alter Pracht wieder statt, auch wir Perlentaucher haben uns vor Ort von der unermüdlichen Arbeit der Verlage überzeugt. Und so erwartet uns einmal mehr eine reichhaltige Saison mit vielen guten Büchern, die uns die aktuellen Krisen erklären, Rüstzeug an die Hand geben, den Miseren zu trotzen oder die Möglichkeit schenken, ein paar Buchseiten lang einfach abzutauchen. Die literarische Konzentration auf Identität verengt sich zunehmend auf das Thema "Klassismus", nach den Franzosen beschäftigen sich nun auch die deutschen SchriftstellerInnen mit ihren Herkunftsmilieus. Aber nicht nur: Wir schippern mit europäischen Staatschefs übers Meer, machen ein altes Boot wieder seetauglich, tummeln uns im Geheimagentenmilieu der Neunziger, amüsieren uns mit Zwerginnen und Riesen im Ungarn der Sechziger und kosten Igel in Kurkumasoße.  

Und falls Sie oft besprochene Titel vermissen: Viele der großen Romane der Saison, darunter Romane von Giulia Caminito, Sergej Gerassimow, Abdulrazak Gurnah, Andrea Tompa, Juri Andruchowytsch oder Eckhart Nickel haben wir bereits in unseren Bücherbriefen der vergangenen Monate empfohlen. Noch ein Hinweis in eigener Sache: Unsere Bestelllinks führen auf eichendorff21, den Buchladen des Perlentauchers. Bestellen Sie dort und unterstützen Sie damit den Perlentaucher. Auch bei einer Bestellung über buecher.de bekommt der Perlentaucher eine Umsatzprovision!


Gastland Spanien

Blickt man auf die spanische Literatur, die pünktlich zum Buchmessenauftritt des Gastlandes ins Deutsche übertragen wurde, könnte man zu dem Schluss kommen: In Spanien sieht es aktuell besonders düster aus. Allen voran ist natürlich der erst kürzlich an Covid verstorbene Javier Marias zu nennen, dessen letzten Roman, eine Fortführung von "Berta Isla", die KritikerInnen in den höchsten Tönen loben. Wir folgen hier noch einmal dem titelgebenden "Tomas Nevinson" (bestellen), einem britischen Agenten im Vorruhestand, ins Geheimagentenmilieu der späten Neunziger, wo Nevinson die Nordirin Magdalena Orue O'Dea aufzuspüren versucht, die mutmaßlich für die ETA-Terroranschläge in Barcelona und Saragossa von 1987 verantwortlich ist. SZ-Kritiker Rainer Moritz bewundert, wie Marias in diesen herrlich entschleunigten, zugleich spannenden Roman Exkurse zu Shakespeare, Hölderlin, Baudelaire oder Yeats, außerdem moralphilosophische Fragen einflicht. Fast schon ehrfürchtig blickt auch FR-Kritiker Arno Widmann auf diese Symphonie von einem Roman, in dem essayistische und erzählerische Passagen einander geradezu musikalisch abwechseln. Großes Lob auch vom Dlf und der FAZ, die den Roman als "prophetisches Schlusskapitel" in Marías' gewaltigem Werk würdigt.

Auf den ersten Blick recht finster scheint es auch in Fernando Aramburus "Der Mauersegler" (bestellen) zuzugehen, der uns von dem geschiedenen Selbstmordaspiranten Toni erzählt, der über Klimakatastrophe, Terrorismus, Sexismus und dysfunktionale Familien sinniert. Aber der Roman steckt so voller Witz, Warmherzigkeit und skurrilen Einfällen, dass sich SZ-Kritiker Reinhard J. Brembeck nicht ohne Vergnügen Toni und seinem Kumpel Humpel anschließt: Gänzlich auf Chronologie verzichtend, notiert Toni Erinnerungsfetzen und Mini-Essays über "sexuelle Vorlieben und Grobheiten", Frauenfeindlichkeit, Uwe Seeler, Schopenhauer, Spinoza oder Biodiversität und Stierkampf, resümiert Brembeck, der sich zudem mit Aramburus Romanpersonal amüsiert - auch wenn er die meisten lieber nicht persönlich kennenlernen möchte. Diesem "großen humanistischen Autor" folgt auch FR-Kritiker Dominik Bloedner gefesselt über 800 Seiten hinweg. Witz suchen wir in Ray Lorigas dystopischem Roman "Kapitulation" (bestellen) offenbar vergeblich, dafür gibt es eine geballte Ladung Realität. In dem 2017 im Original veröffentlichten Roman erzählt Loriga von einer Welt, in der die Menschen nach Krieg und Wassermangel in eine neue, durchsichtige Stadt umquartiert werden. Die Lebensbedingungen dort sind in China und anderswo längst Realität, stellt Dlf-Kultur-Kritiker Thomas Wörtche erschrocken fest. Was geschieht, wenn Wohlstand gegen Freiheit gehandelt wird, zeigt ihm der Text anhand einer kriegsmüden Gesellschaft, die der Verlockung eines auf Konformismus getrimmten Systems erliegt.

Erst eine Kritik hat "Was bleibt, ist die Freude" (bestellen) von Manuel Vilas erhalten, aber die fällt hymnisch aus:  Für den SZ-Kritiker Samir Selami ist dieser Roman ein Meisterwerk, mehr noch: eine "Liturgie", erinnernd an Balthasar Gracián oder Teresa von Ávila. Er liest das Buch als Fortsetzung von Vilas' Roman "Ordesa". Fasziniert lässt er sich ein auf den hermetischen Vilas-Kosmos, taucht ein in dessen Biografie, liest in dichten Aphorismen voller Humor von dessen Eltern, von Klassenbewusstsein und Depressionen, die bei Vilas die Gestalt von Arnold Schönberg annehmen. Überhaupt ist der Text von großer Musikalität, fährt der Kritiker fort. Und wie Astrid Roth den zwischen "Mystik und Moralismus" mäandernden Text, reich an Erinnerungen, Alltagsbeobachtungen und klugen, mitunter unvergesslichen Reflexionen, ins Deutsche übertragen hat, ringt dem Rezensenten größte Anerkennung ab. Viel und gut besprochen wurde Elena Medels Debütroman "Die Wunder" (bestellen), der uns am Beispiel einer Großmutter und ihrer Enkelin die Gesellschaftsgeschichte des spanischen Feminismus, aber auch von Klassenschranken erzählt. Poetisch, komplex und elegant, loben die Kritiker.

So verstört wie fasziniert bleiben die Kritiker nach der Lektüre von Sara Mesas Roman "Eine Liebe" (bestellen) zurück. "Rätselhaft brillant" nennt Meike Feßmann in der SZ die Geschichte, die von der unsicheren Natalie handelt, die auf dem Land ein neues Leben beginnen will und dort dem deutschen Handwerker Andreas begegnet, der ihr gegen Sex das Dach reparieren will. Ein ungeheuer kühl erzählter Roman über städtische Ausbruchsfantasien und weibliches Begehren, versichert Feßmann. Auch Dlf-Kultur-Kritikerin Manuela Reichart ist beeindruckt. Einen vergnügten spanischen Schelmenroman legt uns taz-Kritiker Ruthard Stäblein mit Miqui Oteros "Simón" (bestellen) ans Herz. Der titelgebende Held Simón hat als Kind zu viele Abenteuerromane des 19. Jahrhunderts gelesen und erweist sich somit herrlich ungeeignet für ein Leben in Barcelona des 21. Jahrhunderts. Den Abenteuern dieses poetischen Fantasten folgt Stäblein gern, zumal Otero mit "Witz und Aberwitz" glänzt, kunstvoll die Register wechselt und seine Figuren so schillern lässt wie seine gewagten Bilder.


Nahaufnahmen

Was könnte momentan aktueller sein als ein Roman über Europa? Fünf Jahre, nachdem Robert Menasse mit "Die Hauptstadt" den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, legt er nun mit "Die Erweiterung" (bestellen) den zweiten Teil seiner Trilogie vor: Erneut mischt Menasse Fakt und Fiktion, was ihm schon einmal Kritik einbrachte. Aber die Kritiker können gut damit leben, denn Menasse blickt mit Witz und Herzblut auf Europa, versichern sie. In diesem Fall geht es um Albanien, das in die EU möchte, aber Macron mauert. Dann verschwindet auch noch der Helm des albanischen Volkshelden Skanderbeg und die europäischen Staatschefs schippern führerlos, aber mit einem Virus an Bord übers Meer. In der NZZ amüsiert sich Paul Jandl, wie präzise Menasse die "Arroganz" des Westens gegenüber dem Osten aufspießt. Niemand erkennt das "Absurde der Wirklichkeit" so genau wie Menasse, staunt er. FAZ-Kritikerin Katharina Teutsch kommt gut klar mit dem "epischen" Figurengeflecht, weil Menasse sie mit Slapstick und Spannung bei der Stange hält.

Der Deutsche Buchpreis für Kim de l'Horizon führte in den sozialen Medien zu einigen Aufwallungen (unser Resümee). Vor allem der Vorwurf, hier werde in erster Linie Queerness ausgezeichnet, wurde laut. Die KritikerInnen waren jedenfalls schon vor der Auszeichnung hin und weg vom "Blutbuch" (bestellen) - in der Welt sah Richard Kämmerlings de l'Horizon gar in der Tradition der klassischen Avantgarden: "Rimbauds 'Il faut être absolument moderne' - wird heute unter anderem von denjenigen angetreten, die wie Kim Sprache und Erzählformen jenseits der binären Geschlechterdifferenz suchen", schrieb er. Der Roman ist alles andere als "brave Identitätsprosa", befand Welt-Kollegin Marie-Luise Goldmann, die zwar mit Blut, Sperma und Goethe-Bashing im Text fertig werden musste, dann aber von der "Sprachmacht" des Buchs überwältigt wurde. Lob auch von FAZ, SZ und NZZ. taz-Kritiker Dirk Knipphals hätte allerdings nicht jede Analsex-Szene in voller Ausführlichkeit gebraucht. Der einzige ernstzunehmende andere Kandidat für den Buchpreis war laut Andreas Platthaus (FAZ) Jan Faktors Roman "Trottel" (bestellen). Auch Paul Jandl (NZZ) hätte der autobiografisch grundierten Familiengeschichte, die laut Jandl klug, witzig und "messerscharf" vom Aufbruch in Prag und der Dichteravantgarde im Prenzlauer Berg der Achtziger erzählt, den Buchpreis gegönnt. FR-Kritikerin Katharina Granzin liest hier gleich zwei Romane, die jedoch ohne einander nicht auskommen würden: Die eigentliche Geschichte erzählt vom Tod des eigenen Sohnes - ein Trauma, vermutet Granzin, das der Autor ohne die "narrative Ummantelung" durch den zweiten Roman nicht hätte literarisch verarbeiten können. In der SZ empfiehlt Jörg Magenau den Roman als Mittel gegen Schmerzen aller Art, jedoch müsse man Faktors Strategie eines alles und jeden "zersetzenden Humors" begreifen.

Christine Wolters "Alleinseglerin" (bestellen) erschien bereits vor vierzig Jahren, zu dieser Zeit war Wolter selbst Lektorin beim Aufbau Verlag. In der DDR war der Roman ein Bestseller, 1987 wurde er verfilmt. Dass die Geschichte um eine junge Frau, die von ihrem Vater ein Segelboot erbte, für das sie sich jahrelang körperlich und finanziell verausgabte, aber durch das sie auch die Freiheit entdeckte, nun noch einmal neu aufgelegt wurde, ist für FAZ-Kritikerin Emilia Kröger eine Bereicherung: Das liegt für sie zum einen an der starken Sprache, zum anderen an der weiblichen Perspektive auf patriarchale Strukturen und an dem thematisierten Generationenkonflikt zwischen der Protagonistin und ihrem SED-treuen Vater. Auch Dlf-Kultur-Kritiker Helmut Böttiger liest den Text als kämpferische Erzählung einer Selbstverwirklichung und als Gesellschaftskritik. Reizvoll findet er auch den schwebenden Ton der Erzählung. Für Zeit-Kritikerin Katharina Teutsch ist der Roman ein "kleines Meisterwerk", proletarisch und elegant zugleich, mit einer Erzählerin, die die DDR und die Landschaft um Köpenick nie ganz verlassen hat. Eine Wiederenteckung ist auch Helga Schubert, die vor zwei Jahren den Bachmann-Preis gewann, zwanzig Jahre lang allerdings vom Literaturbetrieb ignoriert wurde. Völlig unverständlich findet das Renatus Deckert in der SZ, denn Schuberts Bücher, überwiegend zu DDR-Zeiten entstanden, sprießen vor "Lebenserfahrung und Zartsinn" Nun erscheint auch ihr im Jahr 1975 erstmals publiziertes Debüt "Lauter Leben" (bestellen) noch einmal, freut sich der Kritiker, der in den Erzählungen Figuren begegnet, wie er sie von Fotografien Helga Paris' kennt. Nicht zuletzt bewundert er Witz, Mitgefühl und Experimentierfreude der Autorin.

Empfohlen werden außerdem der Roman "Jahre mit Martha" (bestellen) von Hanser-Lektor Martin Kordić über die Beziehung eines jungen Mannes zu seiner Nachbarin, einer wesentlich älteren Professorin. Der Roman bannt NZZ-Kritiker Paul Jandl vor allem wegen der geradezu filmhaft erzählten Migrations- und Coming-of-Age-Story, in der SZ warnt uns Christian Mayer vor: Hinter der Leichtfüßigkeit der Erzählung über das Schicksal eines Zuwanderers und Rassismus steckt eine "brutale Abrechnung" mit der deutschen Gesellschaft. Die Bildungsgeschichte einer Frau im Westdeutschland der Achtziger erzählt uns Daniela Dröscher in ihrem Roman "Lügen über meine Mutter" (bestellen), den wir bereits in unserem September-Bücherbrief empfohlen haben. Christoph Peters nimmt das Berliner Politikermilieu während des Coronajahres 2020 in seinem Roman "Der Sandkasten" (bestellen) aufs Korn. Kein Kritiker, der nicht den im Klappentext beschworenen Vergleich mit Wolfgang Koeppens Roman "Das Treibhaus" aufgreift. In Martin Mosebachs neuem Roman "Taube und Wildente" (bestellen) rund um ein deutsches Bildungsbürgerpaar, kommen einige seelenkranke Exzentriker im schönen Südfrankreich zusammen, bis am Ende die ganze europäische Bürgerlichkeit in Flammen aufgeht: Meisterwerk, ruft die Welt, ein "ungeheures ästhetisches Vergnügen", die FAZ. Aus der Zeit gefallen ist auch Karen Duves "Sisi"-Roman (bestellen). Moderne Liebhaber der britischen Royals kommen mit diesem Buch voll auf ihre Kosten, versichert NZZ-Kritiker Paul Jandl.


Von Ost bis West

Das Roman-Ereignis der Saison ist vermutlich der lang erwartete neue Nadas. Aber es stellt sich schon die Frage, weshalb uns Peter Nadas in seinem Spätwerk "Schauergeschichten" (bestellen) ausgerechnet in ein ungarisches Dorf während des Kadar-Regimes führt. Antwort gibt Iris Radisch, die sich für die Zeit mit dem ungarischen Autor getroffen hat: Er wolle zur "ungarischen Realität" zurückkehren, zu den "Vorboten des Orbanismus", erfährt sie. Das scheint ihm brillant gelungen zu sein: Kaum eine Kritik, die nicht den Vergleich mit Hieronymus Bosch bemüht, wenn Nadas furzende Tagelöhnerinnen, Exorzisten, Zwerginnen und gewalttätige Riesen ihr Unwesen treiben lässt. Radisch taucht mit diesem Roman ein in das "kollektiven Unbewusste" Mittel-Osteuropas und die "dunkle Sehnsucht seiner Intellektuellen nach Selbstauslöschung". NZZ-Kritiker Paul Jandl liest einen "hochintellektuellen Thesenroman" voller überschäumender Kraft und bei aller Enthobenheit der Zeit auch einen sehr aktuellen Text, kurz: "große Kunst". In der FAZ lobt Hubert Spiegel einmal mehr Nadas' genaue Beobachtungsgabe und sein "feines Ohr", das auch Ungesagtes wahrnimmt, wenn er seine Figuren noch so viel schimpfen und fluchen lässt, während Lothar Müller (SZ) dem Roman sprachliche Wucht und große Musikalität attestiert. Nur im Dlf muss Wolfgang Schneider gestehen: Hier wird auch viel "gebrabbelt".

Die Vergleiche der flämischen Autorin Lize Spit mit Tolstoi oder John Irving mögen ein wenig hochgegriffen sein, dennoch erkennt FR-Kritiker Stefan Michalzik in Spit eine außergewöhnliche Erzählerin: In ihrem Roman "Ich bin nicht da" (bestellen) erzählt sie von der Beziehung mit einem manisch-depressiven Partner, von dessen Leid, aber auch vom Leid der Angehörigen. Die Kritiker bewundern die Direktheit, die Nüchternheit und besondere "Dringlichkeit" ihrer Sprache. Unerbittlich nennt Rainer Moritz in der NZZ den Roman, der ihm die ganze existenzielle Verzweiflung einer von Verfolgungswahn und Manie geprägten psychischen Krise deutlich spürbar macht. Einen neuen Roman hat diesen Herbst Ian McEwan vorgelegt. Zuletzt konnte er ja nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen, meinte Rainer Moritz in Dlf Kultur. Ein bisschen von der alten Größe erkennt Moritz aber in "Lektionen" (bestellen), der ihm von dem alleinerziehenden Vater Roland erzählt, der eine Affäre, die er zu Internatszeiten mit seiner Klavierlehrerin hatte, erst im Nachhinein als Missbrauch erkennt. NZZ-Kritiker Roman Bucheli ist tief beeindruckt von McEwans Erzählton: Distanziert, knapp, zeitlich sprunghaft und mit vielen Abzweigungen. Genauso, denkt sich Bucheli, funktioniert Erinnerung. Wenn McEwans Held hier die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts inklusive Kubakrise, Tschernobyl, Mauerfall Revue passieren lässt, hat FR-Kritikerin Sylvia Staude das Gefühl, auf das eigene Leben zurückzublicken.

Bisher hat erst Christiane Schlötzer, Türkei-Korrespondentin der SZ, den Debütroman "All die Frauen, die du warst" (bestellen) der türkischen, in Paris lebenden Autorin und Regisseurin Sedef Ecer besprochen, aber Schlötzers Kritik sprüht vor Begeisterung. Ecer nimmt uns mit in die Istanbuler Film- und Theaterwelt der 1950 bis 1970er Jahre und erinnert sich an die Freizügigkeit jener Jahre und die Erfolge muslimischer Schauspielerinnen. Anhand von drei Akten - eingeteilt durch die drei Militärputsche 1960, 1971 und 1980 - erzählt Ecer die autobiografisch geprägte Geschichte einer Mutter-Tochter-Beziehung: Die Mutter, einst nationale Schauspiel-Ikone, meldet sich bei ihrer in Paris lebenden Tochter, mit der Bitte, eine Trauerrede für ihre perfekt inszenierte Beerdigung zu schreiben. Und so verfasst jene Hülya, die sich in Paris Julya nennt, einen Text, der auf Theaterbühnen und hinter die Kulissen des anatolischen Kinos führt, die Frauen feiert und die Risse in der türkischen Gesellschaft beklagt und fast nebenbei von Vätern erzählt, die in Polizeikellern verschwinden. Ein Text "voll emotionaler Wucht und Zärtlichkeit", schließt Schlötzer. Vergangenes Jahr erschien auf Deutsch Leila Slimanis Roman "Das Land der Anderen", nun liegt mit "Schaut, wie wir tanzen" (bestellen) der zweite Teil einer Trilogie vor - und die Kritiker sind noch immer angetan. Nun folgen wir dem Schicksal der französisch-marrokanischen Familie Belhaj im Marokko der späten sechziger Jahre, die Moderne hat Einzug gehalten, aber das Patriarchat regiert noch, resümiert Stefan Michalzik in der FR. Auf den Welt-Kritiker Tilman Krause wirkt die Geschichte wie eine moderne Version des französischen Romans der Dreißiger, erzählt mit viel Feingefühl und anregenden Humor. Slimani schildert ein zwischen Moderne und traditionellem Autoritarismus zerrissenes Land in "atmosphärisch dichten Sätzen", immer dicht dran an den ganz konkreten Folgen von Unterdrückung und der Suche nach der eigenen, postkolonialen Identität, lobt Sandra Kegel in der FAZ.

Im Jahr 2024 wird Slowenien Gastland der Frankfurter Buchmesse sein, zur Einstimmung empfehlen wir Ales Stegers Roman "Neverend" (bestellen). Der Roman, der laut FR-Kritikerin Cornelia Geißler wie eine Matrjoschka funktioniert, ist zwar im Original bereits 2017 erschienen, liest sich aber gerade wegen des aktuellen Bezugs zum neuen Krieg in Europa so beklemmend, meint Steger. taz-Kritikerin Sophie Wennerscheid staunt, wie der slowenische Autor die Lebens- und Schreibkrise einer Autorin mit den zerfallenden Demokratien in Europa, Kriegsangst, Gefängnisalltag und immer wieder mitunter an Perversion grenzenden Szenen über Esskultur verknüpft. Vom Fäulnisprozess von Bananen und "lebendig gehäuteten Igeln in Kurkumasoße" erzähle der Autor ebenso anschaulich und spannungsreich, wie er von den Traumprotokollen der durch die Szenen treibenden Heldin und den Erlebnissen von Gefängnisinsassen berichte, meint sie. Auch FAZ-Kritiker Wolfgang Schneider erkennt die Aktualität in diesem Mix aus "Groteske und Satire", nur die pauschale Verurteilung von Politik und Medien riecht für ihn ein wenig nach "literarischem Populismus". Auf die großen Titel, die uns diese Saison aus der Ukraine erreichten, haben wir in unseren Bücherbriefen der vergangenen Monate oder in unserer eichendorff21-Liste zum Thema bereits hingewiesen: Auf Juri Andruchowytschs "Radio Nacht" (bestellen) etwa, oder auf Sergej Gerassimows "Feuerpanorama" (bestellen). Lohnenswert ist sicher auch die Lektüre der Kurzgeschichten von Tanja Maljartschuk, die unter dem Titel von "Hasen und anderen Europäern" (bestellen) versammelt sind: In dem bereits 2009 im Original veröffentlichten Band erzählt uns Maljartschuk von verschiedenen Frauen, einer Fischverkäuferin, einer Arbeiterin in einer Zoohandlung, einer ehemaligen Lehrerin -, die während der 1990er und 2000er Jahre in prekären Umständen und Nischen leben und sich Tagträumen und Wunschvorstellungen hingeben.

Einer der ganz großen Romane der Saison ist Giulia Caminitos "Das Wasser des Sees ist niemals süß" (bestellen), den wir bereits im Bücherbrief des Monats September empfohlen haben. Exzellent recherchiert - und übersetzt - besticht der Roman durch die "garstige Lebensenergie" seiner nicht zwingend sympathischen Heldin und durch eine Sogkraft, der man sich nicht entziehen kann, jubelt Marc Reichwein in der Welt. Sehr gut besprochen wurde außerdem Jean Malaquais' Roman "Planet ohne Visum" (bestellen), der zum Erscheinungsdatum 1947 seiner Zeit voraus war, heute aber aktueller denn je ist, wie uns taz-Kritiker Fokke Joel versichert. Malaquais schildert das selbst erlebte Martyrium von Flucht und Exil im Faschismus, einsetzend im Sommer 1942, als Zeitgenossen des Autors wie Hannah Arendt oder Heinrich Mann in Marseille ihrer Ausreise harren. Der neue Roman von Goncourt-Preisträger Nicolas Mathieu wurde bisher merkwürdigerweise kaum besprochen, immerhin Dlf-Kultur-Kritiker Dirk Fuhrig legt uns "Connemara" (bestellen) ans Herz: Mathieu erzählt in diesem "atmosphärischen" Generationen- und Familienroman von Hélène, die mit ihrem Kindern nach einem Burn-out in ihre Heimatprovinz zurückgekehrt ist und dort ihrer gealterten Jugendliebe Christophe wiederbegegnet. Fuhrig ist beeindruckt, wie genau und mitfühlend Mathieu das Leben in der Provinz ausleuchtet. Last but not least gilt es noch den neuen Roman von Edouard Louis, "Anleitung ein anderer zu werden" (bestellen), zu erwähnen: Zeit-Kritiker Florian Eichel scheut den Vergleich mit Stendhal, Balzac oder Maupassant nicht, Dlf-Kultur-Kritiker Dirk Fuhrig vermisst allerdings den alten "Hau-drauf"-Sound: Der alte Louis mit neuem Thema - das wär's für Fuhrig.


Fernsicht

Viele der großen außeuropäischen Romane haben wir schon in unseren Bücherbriefen der vergangenen Monate empfohlen, darunter Abdulrazak Gurnahs "Nachleben" (bestellen), Gayl Jones' "Corregidora" (bestellen), Hernan Diaz' "Treue" (bestellen) oder Fiston Mwanza Mujilas "Tanz der Teufel" (bestellen).

Empfehlenswert ist sicher noch Jennifer Egans neuer Roman "Candy House" (bestellen), der lose an ihren Roman "Der größere Teil der Welt" anschließt. Dieses Mal geht es um ein Tech-Unternehmen in der nahen Zukunft, dessen neueste Erfindung es Menschen erlaubt, in einer Art "Cloud" ihr Bewusstsein hochzuladen und auf das anderer zuzugreifen. FAZ-Kritiker Tobias Döring hatte viel Spaß mit diesem "raffiniert verschlungenen Erzählgehäuse", das nicht zuletzt eine Reflexion über das Erzählen selbst sei. Auch taz-Kritikerin Julia Lorenz mag die Mischung aus Experimentierfreude und "klassischem Erzählton". Von der Zukunft geht es mit Lauren Groffs "Matrix" (bestellen) zurück in die Vergangenheit, ins 12. Jahrhundert nämlich, als die Nonne Marie von Frankreich lebte, die es als Äbtissin nach England verschlug. Ausgehend von der historischen Figur entwickelt Groff ein feministisches Setting, um das unsentimentale Porträt einer für den Heiratsmarkt zu groß gewachsenen Protagonistin zu zeichnen, die sich in einem abgelegenen Kloster mit Ehrgeiz und auch Skrupellosigkeit durchsetzt, resümiert eine begeisterte Dorothea Westphal im Dlf Kultur. Zu erwähnen ist natürlich auch "Der Passagier" (bestellen) von Cormac McCarthy, ein "hartgesottener Noir-Thriller", wie Xan Brooks im Guardian schreibt: Mit 89 Jahren feuert McCarthy nochmal aus allen Rohren, meint Brooks: "Sein Schreiben ist kraftvoll, berauschend und gleicht üppige Dialoge mit sparsamen, lebendigen Beschreibungen aus." Ganz so angetan ist die deutsche Kritik nicht, ein "Monster-Roman", eine eigentümliche Mischung aus verschwurbeltem Pathos, "Hardcore-Theorie"-Abhandlungen über Quantenphysik und Mathematik, die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts und sturer "Plot-Verweigerung" - und das alles ohne Zusammenhang, stöhnt FAS-Kritiker Peter Körte.

Die Erzählungen "anderswo, daheim" (bestellen) der schottisch-sudanesischen Autorin Leila Aboulela über Frauen zwischen Aberdeen, Kairo und Khartum, die gegen das Heimweh und um Anerkennung kämpfen, hatte Perlentaucherin Thekla Dannenberg bereits in ihrer Kolumne "Wo wir nicht sind" besprochen: "Die raffiniert gewirkten Geschichten kreisen um den Islam und die Familie. Politik, Geschichte und Gesellschaft spielen keine Rolle. Aboulela ringt um das Bild der islamischen Frau, die den Begriff der Moderne nicht unbedingt westlich verstehen möchte. Sie schreibt aus der Defensive heraus, oft doppelbödig, aber nicht immer." In der NZZ staunt Susanna Petrin, wie nuancenreich die Autorin ihr Thema variiert und wie unangestrengt sie  Figuren und Stimmungen zeichnet. Über manche Klischees und den Hang zum Wertkonservativen sieht Petrin hinweg, beachtlicher findet sie die Zwischentöne, die dem entgegenwirken. Um das gewaltvolle Leben verschiedener Frauen auf Barbados geht es in Cherie Jones Debütroman "Wie die einarmige Schwester das Haus fegt" (bestellen), den uns FAZ-Kritikerin Maria Wiesner empfiehlt.

Viele weitere tolle Empfehlungen zu internationaler Literatur finden Sie in Thekla Dannenbergs Kolumne "Wo wir nicht sind" und in Angela Schaders Kolumne "Vorworte", darunter etwa Gloria Naylors Romane "Linden Hills" (bestellen) und "Die Frauen von Brewster Place" (bestellen).