Philipp Sarasin

1977

Eine kurze Geschichte der Gegenwart
Cover: 1977
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021
ISBN 9783518587638
Gebunden, 502 Seiten, 32,00 EUR

Klappentext

1977 startete die RAF ihre "Offensive 77", wurde in Paris das Centre Pompidou eröffnet, in Kalifornien der Apple II lanciert - und das Internet erfunden. Was bedeuten diese merkwürdigen Gleichzeitigkeiten? Warum sprach zur selben Zeit Jimmy Carter von den "human rights", sprachen schwarze Aktivistinnen von "identity politics", Esoteriker vom "New Age" und Architektinnen von "symbolischen Formen"? Warum gleichzeitig Punk, Disco und Hip-Hop? Und warum sagte Michel Foucault 1977: "Wir müssen ganz von vorne beginnen"? Philipp Sarasin untersucht in seinem Buch die Linien, Muster und Ähnlichkeiten, die diese und andere Ereignisse des Jahres 1977 miteinander verbinden - und er erzählt davon, wie der Glaube an ein gemeinsames Allgemeines, der die Moderne formte, zu zerbröckeln begann.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 11.11.2021

Rezensent Ulrich Gutmair hält Philipp Sarasins Studie für klug gemacht. Wie der Autor sich den Wendeereignissen des Jahres 1977 widmet, deren Auswirkungen noch heute spürbar sind, findet er trotz aller Willkür der Jahreswahl einleuchtend. Der Kniff, sich über den Tod je einer öffentlichen Figur im Jahr 1977, Anais Nin, Ernst Bloch oder Fanny Lou Hamer, sowie den Zeitgenossen bekannte Ereignisse den historischen Brüchen zu nähern, findet Gutmair schlau, weil zu erkennen ist, wie wirkmächtig der Einzelne in unserer Zeit ist, und weil der Autor so "Rückwärtsprojektionen" vermeidet.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 06.11.2021

Auch für die Gegenwart findet Rezensent Christian Thomas höchst aufschlussreich, was Philipp Sarasin über das Jahr 1977 schreibt. Anhand von fünf Nekrologen bekannter Persönlichkeiten (darunter Ernst Bloch, Fannie Lou Hammer und Jacques Prévert) beschreibt der Schweizer Historiker dieses Jahr hier vor allem als Grundbewegung weg vom marxistischen Ideal hin zur Individualisierung der Gesellschaft, so Thomas. Wie der Autor sich dabei "im besten Sinne stoisch" durch die chaotische Gemengelage und die disparatesten Phänomene bewege (von den Morden der RAF über Hip Hop bis zur Deklaration der Menschenrechte), findet der Kritiker beeindruckend. Erschreckende Parallelen findet er außerdem in Pop-Zitaten, die Sarasin anbringt: Bei der Zeile "God save the queen / the fascist regime" der Sex Pistols etwa liegt der Vergleich zu Querdenkern nicht fern, schließt er.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.09.2021

Rezensent Diedrich Diederichsen findet spannend, dass Philipp Sarasin in seinem Buch über das Jahr 1977 einen anderen Ansatz wählt als viele andere Jahresbücher in letzter Zeit. Denn nicht um die große Umwälzung oder den großen Einschnitt gehe es dem Historiker hier, sondern eher darum, diese Narrative "zerbröseln" zu lassen und zu zeigen, dass viele der dargestellten Phänomene (Hippie-Kultur, Identitätspolitik, sexuelle Selbstverwirklichung) schon lange vor 1977 ihren Ausgang nahmen, lobt Diederichsen. Stellenweise drifte das auch etwas in den Kulturpessimismus ab, was dem Kritiker dann weniger gut gefällt und wovon Sarasin sich eigentlich auch selbst abgrenzen wolle, merkt Diederichsen an. Auch scheinen ihm Sarasins Grunddiagnosen zuweilen "monolithisch" - dennoch spricht er von einem fesselnden und differenzierten Buch.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 20.08.2021

Der Historiker Frank Bösch nimmt Philipp Sarasins Buch als reiches Reservoir der Ideen und Experimente um 1977, deren Linien der Leser bis in die Gegenwart weiterverfolgen kann. Dass der Autor letzteres selber nicht leistet, findet Bösch angesichts der Materialfülle aus zeitgenössischen öffentlichen Quellen verzeihlich. Was Sarasin laut Rezensent leistet, eine Analyse der Avantgarde in Deutschland, den USA und Frankreich in der zweiten Hälfte der 1970er, scheint Bösch enorm. Der "originelle" Aufbau des Buches, deren Kapitel von Biografien einflussreicher Personen eingeleitet wird, Sarasins Themenvielfalt vom Körperkult über die "Kulturmaschinen" wie dem Centre Pompidou bis zu Disco und dem PC findet der Rezensent überwältigend und anregend präsentiert. Die Verscheibung der Gewissheiten bei der westlichen Linken wird für Bösch deutlich.  Dem Leser sollte aber die Ausschnitthaftigkeit des Ganzen bewusst sein, rät er. Politik und Lebenswelten abseits des linken Milieus kommen im Buch nur am Rande vor, meint er.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.07.2021

Für Florian Meinel ist Ambivalenz das Erbe von 1977. Das lernt er aus der Universalgeschichte des Schweizer Historikers Philipp Sarasin. Das Buch gefällt Meinel gut, weil der Autor eine Epochenschwelle markiert, die sich gerade durch das Fehlen systematischer Zusammenhänge auszeichnet. Was 1977 alles los war, Apple II, Punk, Deutscher Herbst, verfolgt Meinel am liebsten, indem er parallel zur Lektüre im Netz die dazugehörigen Bilder und Tracks zusammensucht. Hinreißend für Meinel, wie Sarasin nie nur den Beginn von etwas sucht, sondern immer auch das Ende von etwas mitdenkt, das "Ende der Revolution als Paradigma der Politik" etwa, oder wie er die "Verschiebung der Wahrheitsregeln" bereits im Jahr '77 feststellt. Was den Neoliberalismus angeht, den der Autor mit Hayek, Thatcher und Reagan untersucht, hat Meinel zwar woanders schon Gründlicheres gelesen, doch Überraschendes hat Sarasin auch hier beizusteuern, versichert der Rezensent.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 15.07.2021

Der hier rezensierende Professor für Neuere deutsche Literatur Steffen Martus scheint überzeugt von Philipp Sarasins Zugriff auf das Jahr 1977. Elegant wie materialreich und analytisch scharf geht der Autor laut Martus vor, wenn er den Blick auf das Nebeneinander von sich gegenseitig stimulierenden Phänomenen richtet, auf RAF und Apple II, Punk und Hip-Hop, Bhagwan und Thatcher-Liberalismus, und historisch Bedeutsames wie Banales notiert. Die Erwartung nach Zusammenhängen wird laut Martus dabei bedient, aber ohne verschwörungstheoretische Tendenzen. Der Autor verfolgt Entwicklungslinien bis ins Jahr 1977 und bietet Leitthemen an, wie Revolution, Sex, Wirtschaft, die er mit Biografien von Ernst Bloch bis Fannie Lou Hamer einleitet, erläutert der Rezensent. Dass Sarasin das Narrativ des Wertewandels im Westen seit den 1950ern bestätigt, findet Martus okay. Überraschend wird die Lektüre für ihn nochmal, wenn der Autor tiefe Transformationen verfolgt oder den "Chic der Menschenrechte" in den 70ern.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 26.06.2021

Den Verdacht, bei Philipp Sarasins Buch handle es sich nur um eine "trotzige Konkurrenzveranstaltung" zur überbordenden Literatur zum Jahre 1979, verwirft Rezensentin Marianna Lieder schnell. Denn dem Schweizer Historiker gehe es nicht um politische Großereignisse, sondern um den Wechsel von der klassischen Moderne, die den Bezug zum Allgemeinen suche, hin zum wachsenden Individualismus in der Postmoderne, den Sarasin am Jahr 1977 besonders deutlich ablesen kann, resümiert Lieder. In ganz verschiedenen Bereichen (Architektur, Hip-Hop, Lifestyle, Sex) zeichnet Sarasin diese Fokussierung aufs Individuum nach und zieht dabei auch immer wieder sehr kenntnisreich, so Lieder, Foucault heran, in dessen Werk der Autor den beschriebenen Bruch ebenso wiederfindet. Wo die enorme Stimmenvielfalt unserer Zeit letztlich hinführen soll, darauf wisse auch Sarasin keine Antwort - er setze aber ein "schicksalhaft funkelndes Jahresmosaik" zusammen, mit einem besonderen Gespür für Parallelen und mit großem "Scharfsinn", lobt die Kritikerin.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 26.06.2021

Rezensent Jörg Später ist sich der Willkür des Autors bewusst, wenn der Historiker Philipp Sarasin ausgerechnet das Jahr 1977 hernimmt, um daran Gleichzeitigkeiten, Verdichtungen und Wendungen politischer, technologischer, kultureller, gesellschaftlicher Art festzumachen. Faszinierend findet er das Unterfangen aber allemal, weil die von Sarasin hergestellten Verknüpfungen von Apple, Menschenrechten, Star Wars, RAF, Foucault und Travolta auf ihn so unterhaltsam wie anregend wirken. Die Beschränkung der Betrachtung auf Westeuropa und die USA und ihre Querschnittmethodik sollten dem Leser allerdings gegenwärtig bleiben, findet Später, dann beglückt das Buch als "konventionelles" geschichtswissenschaftliches Werk durchaus.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 21.06.2021

Rezensentin Andrea Roedig ist nur halb begeistert von Philipp Sarasins Chronik "1977". Der Historiker ergründet in dem Buch den Zeitpunkt, an dem die Moderne zu Ende ging und das "Ideal der Allgemeinheit" abgelöst wurde durch den Drang nach Individualisierung , wie Roedig erklärt. Die These findet die Rezensentin spannend und eigentlich auch plausibel entwickelt. Aber dass sich der Autor dafür auf fünf berühmte Persönlichkeiten - Anais Nin etwa oder Ludwig Erhard -  fokussiere, die in demselben Jahr starben, überzeugt die Rezensentin nicht ganz. Zudem verliehen die vielen Beispiele und manchmal konstruierten Bezüge den Nachrufen den "Charme eines gut erzählten Telefonbuchs", wie die Rezensentin etwas spöttisch schließt.