9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Kulturpolitik

1202 Presseschau-Absätze - Seite 4 von 121

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.02.2024 - Kulturpolitik

Harry Nutt berichtet seltsamerweise als einziger in der Berliner Zeitung über eine Anhörung im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages zum Thema Antisemitismus im Kulturbetrieb. "Gute Argumente wechselten sich ab mit Schlagworten", schreibt er: "Schnell fielen Stichworte wie Leitfaden, Antisemitismusklausel und der sogenannte 'Code of Conduct', den Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) erarbeiten lässt. Als kulturpolitisch Verantwortliche sind sie und die jeweiligen Minister auf Landesebene bemüht, Problembewusstsein und Handlungsbereitschaft zu signalisieren. Hat ein erkennbarer Bewusstseinswandel eingesetzt oder haben wir es mit beflissenen Scheinaktivitäten zu tun? Letzteres unterstellte Gitta Connemann (CDU) der Kulturstaatsministerin. Bislang seien von ihr vor allem Plattitüden zu vernehmen gewesen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.02.2024 - Kulturpolitik

So schlecht wie die Franzosen etwa mit Blick auf die geschlossenen Goethe-Institute meinen, steht es um die deutsch-französischen Beziehungen nicht, meint Lena Bopp in der FAZ. Immerhin gebe es genug Beispiele, "die umgekehrt von größerem, deutschen Interesse am Nachbarland zeugen. Allen voran in der Literaturbranche, die ihre Übersetzungen teils mithilfe staatlicher Subventionen finanziert: Nach wie vor werden weit mehr französische Gegenwartsautoren ins Deutsche übersetzt als umgekehrt; anders als Gewinner des Deutschen Buchpreises werden Bücher, denen der Prix Goncourt zuerkannt wird, immer ins Deutsche übertragen; von den vielen Neuübersetzungen französischer Klassiker in den vergangenen Jahren mal ganz abgesehen. Das Interesse ist jedenfalls wach. Und wo es fehlt, wird sein Fehlen so wortreich beklagt, dass man sich um die kulturellen und gesellschaftlichen Beziehungen beider Länder weit weniger sorgt als man bedauert, dass sie nicht nutzbarer gemacht werden."

Marlene Militz konstatiert auf Zeit Online eine schwere Krise der deutschen Erinnerungskultur: "Die Berechtigung, die Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit bei der Umsetzung des Projekts der deutschen Erinnerungskultur anzuzweifeln, lässt sich bereits anhand der Diskussionen um ihre wohl größte Manifestation in Berlins Stadtmitte - dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas - begründen. Die Debatte um das Holocaust-Mahnmal dauerte zehn Jahre an. James E. Young, damaliges Mitglied der Findungskommission, machte in einer Rede vor dem Bundestag 1997 den polemischen Punkt, man solle doch statt eines architektonischen Symbols lieber die Debatte darum fest verankern: 'Lieber tausend Jahre Holocaust-Gedenkwettbewerbe in Deutschland als eine 'Endlösung' für Deutschlands Holocaust-Gedenkfrage.'

9punkt - Die Debattenrundschau vom 10.02.2024 - Kulturpolitik

Für den Abriss jedes Atomkraftwerks entstehen Kosten von etwa einer Milliarde Euro, da sollten sie doch besser als Denkmäler erhalten werden, fordern der Architekt Philipp Oswalt und Wolfram König, Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung in der FAS: "Egal, wie man zur Atomenergie persönlich steht: Unstrittig ist, dass sie einen enormen Einfluss auf die Nachkriegsgeschichte in Deutschland und anderen Industrieländern hatte. Während man andernorts exemplarische Anlagen unter Denkmalschutz stellte und über die Geschichte dieser Technologie informiert, ist dies in Deutschland ein Tabu. Atomenergie gilt als heikles Thema, bei dem politisch nichts mehr zu gewinnen ist. Die der Politik unterstellten Denkmalschutzbehörden trauen sich nicht zu widersprechen, auch wenn sie eigentlich den gesetzlichen Auftrag haben, historisch bedeutende Bauwerke zu bewahren. Fachlich ist kaum zu bestreiten, dass Atomkraftwerke Denkmalschutzkriterien in mehrfacher Hinsicht erfüllen, aber bis heute steht keine der kommerziellen Atomanlagen in Deutschland unter Denkmalschutz."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.02.2024 - Kulturpolitik

"Natürlich gibt es bei deutschen Politikern und Würdenträgern einen seltsamen Übereifer, eine philosemitische Beflissenheit, ein klezmerunterlegtes Strebertum, das man eher als Selbstgespräch des guten deutschen Gewissens verstehen darf, als dass damit den in Deutschland lebenden Juden geholfen wäre", meint Claudius Seidl, dem in der FAZ unbehaglich wird, auch weil er im"offiziösen Philosemitismus etwas Herrisches" erkennt. Aber all jenen, die Deutschland boykottieren wollen oder wie Susan Neiman in der New York Review of Books von einem neuen McCarthyismus in Deutschland sprechen, erwidert Seidl: "Niemand wird zum Schweigen gebracht; das Schlimmste, was jüdischen wie nichtjüdischen Israelgegnern, BDS-Sympathisanten und Anklägern eines vermeintlichen israelischen Genozids und seiner angeblichen deutschen Mittäter hier geschehen kann, ist, dass es dafür kein deutsches Staatsgeld gibt. Das ist aber zu kompliziert, als dass es sich schon herumgesprochen hätte bei den Israelfeinden in England, in Amerika und im sogenannten globalen Süden, wo die Künstler und Aktivisten sitzen, die jetzt Deutschland boykottieren wollen. So wie es dort offenbar auch unbekannt ist, dass es nicht Palästinenser, sondern Juden sind, die in der deutschen Hauptstadt angespuckt, krankenhausreif geprügelt und an manchen Universitäten gemobbt, beschimpft und aus den Lehrveranstaltungen herausgeekelt werden."

Unter anderem Jörg Häntzschel meldet in der SZ, dass Carola Lentz, Präsidentin des Goethe-Instituts, zurücktritt. In ihrem Schreiben begründet sie den Rückzug mit der Verfolgung persönlicher Projekte, aber auch mit den kürzlichen Schließungen von Instituten in Frankreich und Italien (Unsere Resümees): "Diese Maßnahme habe das 'Vertrauen in das Institut als verlässlichem Partner erschüttert. Dem zu begegnen, war und ist eine große Herausforderung, die mich auch persönlich intensiv beschäftigt hat'. Die Proteste gegen die Schließungen etablierter Häuser in Europa zeigten, 'welch wichtige Arbeit das Goethe-Institut für das Ansehen und die Glaubwürdigkeit Deutschlands leistet'. Etwas verklausulierter kritisiert Lentz in ihrem Brief auch die Mittelkürzungen, die das Institut wegen der angespannten Haushaltslage zuletzt hinnehmen musste."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.01.2024 - Kulturpolitik

Im Interview mit der taz warnt der Architekturkritiker Philipp Oswalt vor rechtsextremen und identitären Einflüssen bei großen Städtebauten wie dem Humboldt Forum in Berlin oder der Garnisonkirche in Potsdam. "Als Frankfurter muss ich lachen, wenn mir das Berliner Schloss als Nationalsymbol verkauft werden soll. Der Frankfurter Bürgermeister hat sich umgebracht, als die Stadt von den Preußen besetzt wurde. ... Tatsächlich ist die Stiftung Humboldt Forum sehr um political correctness bemüht. Das Problem ist, dass das nicht funktioniert. Die Erscheinung des Gebäudes von außen wird getrennt wahrgenommen von der Programmierung im Inneren. In Potsdam stören die Pläne zur Bespielung im Inneren die Identifikation der Rechtsextremen mit diesem Bauwerk überhaupt nicht. Dabei wäre es gar nicht so schwierig, da den Stecker zu ziehen". Zum Beispiel durch die "Rettung des Rechenzentrums. Und der Verzicht auf die Haube und den militärischen Bauschmuck. Die Koexistenz von Rechenzentrum und nur zum Teil wiederaufgebautem Kirchturm wäre eine interessante Lösung, weil sie deutsche Geschichte sichtbar macht. Noch ist das auch nicht entschieden, gerade gibt es eine Pattsituation. Aber natürlich gibt es bei dieser Unvollständigkeit immer das Problem, dass sie vervollständigt werden kann."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.01.2024 - Kulturpolitik

Die Lagerbildung in der deutschen Kulturlandschaft nimmt neue Formen an, kritisiert die Künstlerin Hito Steyerl in einem Beitrag zur Veranstaltungsreihe "A Mentsh is a Mentsh" in der Bundeskunsthalle Bonn, organisiert von Meron Mendel und Nicole Deitelhoff, den die FAS heute bringt. Was aber auf der Strecke bleibt, ist die Kunst selbst, so Steyerl: "Künstler oder Künstlerinnen kommen nur vor, falls sie an Skandalen beteiligt sind, ob freiwillig oder unfreiwillig. Konkrete Arbeiten höchstens, sofern sie einschlägig auffällig werden. Sogar Kuratoren - in den letzten Jahrzehnten die wichtigsten Akteure im Feld - sind nur noch Kulisse. Es geht nicht mehr um die Kunst selbst, was sie kann oder auch nicht, sondern darum, was sie können dürfen soll. Mittlerweile sind die meisten Akteure der Debatten um Kunstfreiheit ziemlich kunstfern. Es handelt sich vor allem um Bürokraten, Verwaltungs- und Verfassungsjuristinnen, Konfliktforscher, Antisemitismusexpertinnen und -beauftragte, Anwälte, Historiker, Vertreterinnen verschiedener Interessensverbände und so weiter, die zunehmend unversöhnlich ihre internen Differenzen im Kulturbereich austragen. Vermutlich auch, weil es viele von ihnen dort nichts kostet."

In der Welt erkennt Deniz Yücel nicht nur in der Antidiskriminierungsklausel, sondern auch in der Rede vom linken Antisemitismus im deutschen Kulturbetrieb vor allem eins: Eine "kollektive Übersprungshandlung", Ausdruck eines "moralischen Rigorismus", der nicht mehr zeige, als dass der Kampf gegen Antisemitismus immer "woker" werde. Von "Judenhass" im deutschen Kulturbetrieb könne kaum eine Rede sein: "In Deutschland sind diese Tendenzen weit davon entfernt, tonangebend zu sein. Die deutsche Erinnerungskultur mag allzu ritualisiert sein und die immer gleichen Phrasen wiederholen. Doch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und als Folge der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um diese - von der Debatte zum Frankfurter Auschwitz-Prozess 1963-65 über die Kritik der 68er-Bewegung bis zu den erinnerungspolitischen Debatten der 1980er-Jahre - hat sich hierzulande, nicht nur, aber insbesondere in der kulturellen Elite und im Bildungsbürgertum, tatsächlich eine Sensibilität in Sachen Antisemitismus entwickelt. Vor 40 Jahren war Jürgen Habermas' Vorschlag aus dem Historikerstreit, nationale Identität nicht aus der Relativierung und Abwehr des Holocaust, sondern aus 'der kritischen Aneignung der eigenen Geschichte' zu beziehen, noch umstritten, heute ist seine Idee Allgemeingut - genau deshalb beklagen Leute wie Björn Höcke das, was sie 'Schuldkult' nennen." Außerdem, ergänzt Yücel: "Keine andere Linke der Welt ist heute grosso modo so proisraelisch wie die deutsche."

Nachdem die Ruhrbarone offengelegt hatten, dass die New Yorker Performance-Künstlerin Laurie Anderson zu den Unterstützern des "Letter against Apartheid" gehörte (Unser Resümee), hat sie nun ihre Gast-Professur an der Folkwang Universität der Künste in Essen zurückgezogen, meldet unter anderem Jörg Häntzschel, der in der SZ von Hochschuldirektor Andreas Jacob erfährt, er sei nach der Veröffentlichung erschrocken gewesen, habe aber im Gespräch mit Anderson "keinen Grund gesehen, sie auzuladen". "Laurie Anderson selbst ist auf SZ-Anfrage nicht zu erreichen. Jacob sagt, sie sei 'verstört' gewesen, dass die Frage ihrer Gesinnung überhaupt Thema wurde, was angesichts einer Unterschrift unter einem offenen Brief im Internet erstaunlich ist. Daraufhin erklärte sie ihren Verzicht auf die Professur. Das wiederum kann Jacob 'total verstehen'. 'Wir waren uns einig, dass Gesinnungsprüfungen nicht gehen.' Abgesehen davon wäre das künstlerische Arbeiten nach dem Anrollen der 'medialen Welle' nicht mehr möglich gewesen."

"Was es mit 'Gesinnungsprüfung' zu tun haben soll, wenn jemand seine Gesinnung öffentlich bekannt gegeben und große Reichweite erzielt hat mit ihr, erschließt sich allerdings nicht", kommentiert Thomas Wessel bei den Ruhrbaronen: "Sie ist schon erstaunlich, diese Unfähigkeit des Kunstbetriebs, sich zu sich selber zu verhalten. Die Reaktion von Anderson setzt die Erfahrung mit Ruangrupa fort, den Documenta-15-Kuratoren, die das Gespräch als eine Form der künstlerischen Selbstverständigung proklamiert, es dann aber mit keinem geführt haben, der nicht ihrer eigenen Meinung war."

Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, hat den vom Dlf erhobenen Vorwurf, die SPK habe sich selbst Gelder aus "Neustart Kultur" bewilligt (Unser Resümee), zurückgewiesen, meldet Susanne Lenz in der Berliner Zeitung: "Diese Unterstellungen weisen wir in aller Deutlichkeit von uns. Um es ganz deutlich zu sagen: Niemand in der Stiftung hat sich hier etwas vorzuwerfen. Wir haben für viele Bund-Länder-Projekte die Geschäftsführung, aber das bedeutet nicht, dass wir hier nur im Sinne unserer eigenen Häuser agieren." Aber: "Der Deutschlandfunk teilte am Freitagabend mit: 'Nach nochmaliger Prüfung bleiben wir in Anbetracht der Fakten bei unserer Darstellung.'"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 26.01.2024 - Kulturpolitik

Im Tagesspiegel versucht Rolf Brockschmidt einen Überblick über die in Gaza bislang zerstörten Kulturstätten zu geben: "Zu den schmerzlichen Verlusten gehört auch das völlig zerstörte Zentralarchiv von Gaza-Stadt mit seinen Plänen historischer Gebäude, bedeutenden Handschriften und Büchern, ebenso wie die Stadtbibliothek von Gaza, die als das kulturelle Gedächtnis von Gaza gilt. Der International Council on Archives (ICA) hat seine Sorge über die Zukunft des Archivgutes von Gaza ausgedrückt und alle Seiten aufgefordert, sich an die Haager Konvention von 1954 zu halten. Die arabische Regionalgruppe von ICOMOS (International Council of Monuments and Sites) äußerte sich alarmiert über das Ausmaß der Vernichtung des palästinensischen Kulturgutes. (...) Aus der Mamlukenzeit sind inzwischen der Qasr al-Bascha von 1260, der Qissariya-Souk von 1329, die Ibn Uthman-Moschee von 1394 und der einzige Hammam von Gaza aus dem 15. Jahrhundert schwer beschädigt. Auch für die Weitergabe des kulturellen Erbes wichtige Kultur- und Handwerkszentren wurden zerstört oder schwer beschädigt, so der Bericht der ICOMOS-Regionalgruppe. Sie fordert deshalb von der internationalen Staatengemeinschaft Unterstützung für den Erhalt."

Laut neusten Dlf-Recherchen soll bei den Corona-Hilfen in der Kulturbranche weit mehr getrickst worden sein als angenommen. Zudem war nicht gewährleistet, dass für die Vergabe Verantwortliche nicht selbst über eigene Anträge entscheiden konnten, wie etwa im Fall der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, resümiert Susanne Lenz in der Berliner Zeitung: "Die Stiftung war … sowohl Geldgeber als auch Zahlungsempfänger. Für 16 bewilligte Anträge gingen insgesamt knapp sechs Millionen Euro an die Stiftung und angeschlossene Institutionen. Dazu kamen 20,1 Millionen Euro, um die durch die Pandemie verminderten Einnahmen und zusätzliche Ausgaben aufzufangen. Von den 16 Anträgen wurden jedoch 13 von Stellen bewilligt, die mit der Stiftung in Verbindung stehen: neunmal war es die Stiftung selbst; viermal die Deutsche Digitale Bibliothek, die mit der Stiftung organisatorisch und personell eng verflochten ist. Die SPK weist Kritik zurück: Bei den neun Anträgen seien Antragsteller und Entscheider an unterschiedlichen Stellen der Stiftung angesiedelt gewesen, 'sodass hier eine inhaltliche, organisatorische und personelle Trennung vorlag'."

Aber: "Schon zweimal gingen die Versuche der DLF-Journalisten, vermeintlichen Missbrauch bei den Corona-Hilfen nachzuweisen, ins Leere - und auch diesmal sucht man nach einer wirklichen 'Smoking Gun'", kommentiert Jörg Häntzschel in der SZ: "Das Problem liegt tiefer, und es ist Jahrzehnte alt: Die Corona-Hilfen sind nur ein weiteres Beispiel von staatlicher Kulturförderung, in der Förderer und Geförderte viel zu eng verwoben sind. In der das Geld reichlich fließt, ohne dass man immer genau wüsste, wohin."

In der FAZ ist Claudius Seidl vor allem aufgefallen, dass mehr als zwei Drittel der Corona-Gelder für die Kultur an Kultureinrichtungen und Unternehmen gingen. "Nur 28 Prozent wurden direkt an Künstler oder Künstlergruppen ausgezahlt. Das allerdings liegt wohl, wie auch die meisten anderen Fehler, Doppelbuchungen und Unstimmigkeiten, weniger an den bösen Absichten irgendwelcher Akteure. Sondern vielmehr an der für Einzelpersonen fast undurchdringlichen Kompliziertheit des Verfahrens, die wiederum ihre Ursache im deutschen Kulturföderalismus hatte. Die Kulturhoheit der Länder ist unantastbar; der Bund hätte geradezu verfassungsfeindlich gehandelt, wenn er seine Fördergelder direkt an die Künstler ausgezahlt hätte. Das Geld musste also weitergereicht werden, an mehr als vierzig Organisationen, die dann Anträge bearbeiteten und Mittel verteilten."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.01.2024 - Kulturpolitik

Im Tagesspiegel-Interview mit Katrin Sohns begrüßt Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, das vorzeitige Aus für die Berliner Antidiskriminierungsklausel, die gegen viele BDS-nahe Organisationen gegriffen hätte: "Der Versuch, einen Teil der Szene durch solche Klauseln zu 'erziehen', führt eher dazu, dass hier von 'Zensur' gesprochen wird." Dennoch seien Boykott-Bewegungen wie "Strike Germany" zu verurteilen. "Sie vertreten eine totalitäre Ideologie, die sie mit allen Mitteln durchsetzen wollen. Sie sind auch nicht an einem Gespräch und einem Weiterkommen interessiert. Aber das ist nur ein Teil. Ein großer Teil der Kunst- und Kulturwelt hat bestimmte Einstellungen eher fraglos übernommen. Dann gehört es halt dazu, dass man Israelis boykottiert oder Israel als Kolonialstaat bezeichnet. Dieser Rhetorik und diesem Weltbild etwas entgegenzusetzen, das sehe ich als eine sehr wichtige Aufgabe. Und ich sehe hier eine ganz große Verantwortung bei Museumsleitungen, Festivalleitungen, Kuratoren, Theaterintendanten. Sie müssen die Expertise haben, sie müssen den Dialog suchen, sie sind die Gatekeeper."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.01.2024 - Kulturpolitik

In der taz kommt Ilija Trojanow nochmal auf die inzwischen zurückgezogene Berliner Antidiskriminierungsklausel zurück, die er für eine Einschränkung der Meinungsfreiheit hält: "Sollte es eine solche Definition von Staats wegen überhaupt geben? Das Grundgesetz vertraut auf die Kraft der freien Auseinandersetzung als wirksamstes Mittel gegen Menschenverachtung. Das Bundesverfassungsgericht hat in mehreren Urteilen zum Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) festgestellt, dass die gesellschaftliche Willensbildung sich 'staatsfrei', ergo ohne 'lenkende und steuernde Einflussnahme des Staates' und somit 'von unten nach oben und nicht umgekehrt' zu gestalten habe. Mit Denkverboten lässt sich keine humanere, tolerantere Gesellschaft aufbauen. Das bürokratische Einhegen des Diskurses läuft auf eine Entmündigung der Gesellschaft hinaus."

Chialos Klausel war falsch in der Form, niemand darf zu einem Bekenntnis genötigt werden, kommentiert Claudius Seidl, der in der FAZ Chialos Ansinnen trotzdem richtig findet: "Überall dort, wo Künstler sich in den Dienst der einfachheitshalber postkolonial genannten Sache stellen, erklären sie, dass der Begriff der Kunst überwunden werden müsse, weil dieser Begriff nur die geistige und ästhetische Hegemonie des Westens perpetuiere und die Künstler gewissermaßen zu dessen Hofmohren mache. Kaum einer, der sich nicht mindestens als 'Künstler und Aktivist' vorstellt. Kaum einer, der nicht trotzdem den Schutzraum der Kunst für sich beansprucht, jenen Raum, in dem die Kunst mehrdeutig, schwer verständlich, rätselhaft und sinnlos sein darf. Aktivismus zielt aber auf Eindeutigkeit und Verständlichkeit. Aktivismus provoziert Zustimmung oder Gegnerschaft - und dass der Kultursenator einen Aktivismus, der Israel als Apartheidstaat und Siedlerkolonie verleumdet, das Gebiet vom Jordan bis zum Mittelmeer von den Juden befreien und den Terror der Hamas als Befreiungskampf feiern will, dass Chialo also diesen antisemitischen Aktivismus nicht mit Steuergeld fördern möchte, ist nichts, was man ihm vorwerfen müsste."

Die gefeierte Performance-Künstlerin und Musikerin Laurie Anderson soll die Pina Bausch-Professur an der Folkwang Universität der Künste erhalten. Selbstverständlich hat sie sich in deutlichster Weise pro BDS geäußert, weiß Thomas Wessel von den Ruhrbaronen, dem Blog, das die Debatten um Achille Mbembe, die Documenta, aber auch Sharon Dodua Otoo maßgeblich mit angestoßen hatte. Otoo hatte sich nicht nur von ihren früheren Äußerungen distanziert, sondern sich im Blick auf den 7. Oktober auch wirklich damit auseinandergesetzt. Ähnliches schlägt Wessel für Anderson vor. Anderson hatte 2021 zusammen mit Bonaventure Ndikung, Annie Ernaux und 1.100 anderen Prominenten den "Letter against Apartheid" unterzeichnet, darin heißt es "Israel ist die kolonisierende Macht. Palästina ist kolonisiert. Das ist kein Konflikt: das ist Apartheid." Es ist übrigens durchaus von Belang, die antiisraelischen Engagements von Künstlern zu prüfen, denn sie prägen den Betrieb, meint Wessel: "Auf der letzten Documenta, der Ausstellung für zeitgenössische Kunst im Sommer 2022, hat sich gezeigt, wie effektiv diese kaum merkliche Form des Antisemitismus ist. Pro-israelische Künstler werden bereits bei der Programmplanung ausgesiebt, unmerklich fallen sie durchs Netz der Netzwerker."

Warum darf eine "Israelhasserin" auf einem Klimakongress in Hamburg auf großer Bühne sprechen, fragt Frederik Schindler in der Welt. Die Einladung der Klimaaktivistin Zamzam Ibrahim, die BDS-Unterstützerin ist und das Existenzrecht Israels verneint, muss vom Senat unbedingt zurück gezogen werden, fordert Schindler: "Die Hamburger Kulturbehörde schließt sich zwar der Kritik an den antisemitischen Äußerungen Ibrahims an, verweist aber darauf, dass es sich um eine Veranstaltung zu einem anderen Thema handele und die Veranstalter zugesagt hätten, keinen Judenhass zu dulden. Die Behörde des Senators Carsten Brosda (SPD) übersieht dabei, dass Zamzam Ibrahim beide Themen miteinander verbindet. Klimagerechtigkeit sei der 'globale Ruf nach dem Ende der Zerstörung', was 'perfekt zu den Erfahrungen der Palästinenser' passe, sagte die Aktivistin dem Auslandssender des iranischen Antisemiten-Regimes."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.01.2024 - Kulturpolitik

Gute Nachricht für Antisemiten in Berliner Kulturinstitutionen: Sie dürfen nun wieder mit Subventionen rechnen, wenn sie BDS-nahe Künstler beschäftigen und Ereignisse stillschweigend so organisieren, dass sich diese nicht von Israelis oder proisraelischen Kollegen gestört fühlen. Nach Protesten im Berliner Kulturbetrieb (4.000 Unterschriften!) zieht der Berliner Kultursenator Joe Chialo seine Antidiskriminierungsklausel zurück, meldet unter anderen die BZ Berlin. "Als Senator habe er die Argumente ernst genommen. Zudem gebe es juristische Bedenken, dass die Antidiskriminierungsklausel in dieser Form nicht rechtssicher sei. 'Wenn es berechtigte Zweifel gibt, ordne ich meinen Willen der Verfassungsmäßigkeit unter', sagte Joe Chialo. 'Die Klausel wird deshalb vorerst nicht mehr zur Anwendung kommen.'"

Für den amerikanischen Juristen Kenneth S. Stern, der für die IHRA-Definition verantwortlich zeichnet, war Chialos Klausel ohnehin "McCarthyismus", wie er im Gespräch mit Susanne Lenz von der Berliner Zeitung sagt. Überhaupt sei die Definition "oft als stumpfes Instrument missbraucht worden, um jemanden aus vielerlei Gründen als antisemitisch abzuqualifizieren, auch für Kritik an Israel. (…) Vielleicht gar nicht so sehr dafür, Kritik an Israel als antisemitisch zu disqualifizieren, sondern vor allem für propalästinensische Einstellungen. Ich mag mit manchen dieser Einstellungen oder Aussagen nicht einverstanden sein, aber sie antisemitisch zu nennen ist falsch, es ist sogar schädlich. Ich weiß, dass Deutschland eine andere Tradition hat, was Meinungsfreiheit angeht, als die USA, aber das schadet auf jeden Fall einer freien Diskussion, die in einer Demokratie so wichtig ist. Und es schadet dem Kampf gegen Antisemitismus, wenn man ihn auf diese einfachen Bedingungen reduziert, denn man verliert dann die Fähigkeit zu erkennen, was Antisemitismus wirklich antreibt."

Chialo ist "eingeknickt" und steht nun vor einem "Scherbenhaufen", kommentiert Swantje Karich in der Welt: "Die Klausel hat das Gegenteil dessen erreicht, was sie wollte. Eine späte Erkenntnis: Klauseln bekämpfen keinen Antisemitismus! Sie schränken den Austausch ein. Fatal aber wäre, wenn das Scheitern der Klausel nun auch ein Scheitern des Kampfes gegen Antisemitismus wäre. Die Museen, Theater, Institutionen müssen endlich selbst dafür sorgen, 'dass sie die Fähigkeit entwickeln, eigenständig über Antisemitismus zu urteilen'. Diese Worte hatte der Direktor des Deutschen Historischen Museums, Raphael Gross, in seiner Rede vor dem Abgeordnetenhaus Joe Chialo ins Stammbuch geschrieben, als draußen demonstriert wurde. Und er fügte etwas hinzu, was jetzt wirklich wichtig wird: 'Dazu gehört aber notwendigerweise auch Freiheit - auch Freiheit sich in seinem Wissen zu irren.'"

Im Tagesspiegel sekundiert Nicola Kuhn: "Es verdient Respekt, dass Joe Chialo nachgibt und die Stümperhaftigkeit seines Vorstoßes eingesteht. Lob verdient es nicht, das ihm manch Politiker im Kulturausschuss des Abgeordnetenhauses wohl vor allem aus Erleichterung darüber zollte, weil er Berlin damit aus der Kritik holt. Bei der anschließenden Aussprache ließ der Senator kaum erkennen, mit welchen Institutionen er sich denn nun zu beraten gedenkt außerhalb seiner Verwaltung, die ihn so schlecht präparierte."