Vorgeblättert

Leseprobe zu Heinrich Detering: Thomas Manns amerikanische Religion. Teil 1

01.10.2012.
"Unser Unitarier":
Fluchthilfe und Lebensrettung


Im 15. Kapitel seines Erinnerungsbuches Ein Zeitalter wird besichtigt erzählt Heinrich Mann, unter der Kapitelüberschrift Über den Berg, (164) von seiner beschwerlichen Flucht aus Frankreich über die Pyrenäen im Frühherbst 1940, zusammen mit seiner Frau Nelly, seinem Neffen Golo Mann, Franz Werfel und Alma Mahler-Werfel. Wie ein Schutzengel steht am Beginn dieses Abschnitts, als verstehe sich von selbst, wer gemeint sei, "unser Geleiter, der wackere Unitarier". Ähnlich beiläufig wird er wenig später als "unser Unitarier" erwähnt, als hilfreicher Wanderführer auf dem unwegsamen Pfad über das Gebirge. (165)
     Was war geschehen? Am 12. September 1940 waren die Manns mit dem Zug von Marseille nach Cerbère am Rand der Pyrenäen gefahren. Ziel ihrer Bergwanderung tags darauf ist das katalanische Port-Bou. Dort werden sie mit einem Wagen abgeholt und nach Barcelona gebracht, von wo aus Heinrich und Nelly am 18. September mit dem Flugzeug nach Lissabon reisen; hier erwartet sie Erika Mann. Da für die Manns nur zwei Plätze zur Verfügung stehen, kommt Golo mit dem Zug nach. Am 4. Oktober beginnt, auf dem griechischen Schiff Nea Hellas, die neuntägige Schiffsreise von Lissabon nach Amerika. In einer der ergreifendsten Passagen seines Erinnerungsbuches Ein Zeitalter wird besichtigt hat Heinrich Mann diesen Abschied von Europa geschildert. Mit dem Hafen von Lissabon verschwindet ihm, "unbegreiflich schön", Europa in der Ferne. "Überaus leidvoll war dieser Abschied."(166)
     Thomas Mann notiert am 20. September 1940, als die Seinen in Lissabon angelangt sind, voller Erleichterung ins Tagebuch:

Beim Frühstück Telegramm von Golo und Heinrich aus Lissabon, wo sie [auf] ein Schiff warten. Freude und Genugtuung. Depeschen vom Committee, von den Unitariern, die behilflich waren […].(167)

Wenig später hält Thomas Mann anlässlich einer Rettungsfeier eine Ansprache, deren vollständiger Text als Typoskript im Thomas-Mann-Archiv nachzulesen ist und die ein ausführliches Zitat verdient.(168) Sie zeigt, welche außerordentliche Bedeutung er diesem Ereignis beimaß - für die Familie, die diese Rettung geradezu als ein "Familien-Dünkirchen" erlebt habe, und für sein Verhältnis zum neuen Land:

We are celebrating a retreat, which was so difficult and successful, that it deserves the name of victory - - a civil Dunkerque. We have snatched from the clutches of Nazi hate and Nazi revenge a whole company of important European writers and scholars, who seemed lost after the fall of France […]. Although among the freed and rescued are found such great and beloved names as those of our guests of honor, Franz Werfel and Fritz von Unruh(169), it will not be taken amiss, if I greet with particular joy, emotion, and gratitude my dear and esteemed brother, Heinrich, and my good son, Golo, at this festive table - - we had to endure months of fearful doubt(170) over their fate. Indeed, it was an anxious summer. While we did not know whether and when it would be possible to bring over a brother and son from lost France, we had to allow our brave Erika to travel over there - whither she was irrisistibly [sic] drawn - where a nation with heroism(171), forever memorable, stands firm beneath the most horrible ordeal - that a civilized nation has ever inflicted upon another - stands there and answers for the freedom of us all. A younger daughter lived married in afflicted London. We had been successful in procuring permission for her and her husband to enter Canada; they sailed on the "City of Benares", and the enemy committed one of those acts, that are in keeping with his "Weltanschauung": hundreds of miles from the coast, with a high-swelling sea, the child-refugee ship, that carried our couple too, was torpeadoed [sic], and before the eyes of the young wife - - she held on to her life, by what power, God alone knows! - - her husband disappeared beneath the waves - aquis submersus.(172) Now once again she set out and has arrived - - alone.(173) But she too, after the others, has found her way to us(174), and all of us, at least united again, will face the adventures and shocks, which are still in store for this world of decline and renewal. Excuse me - - that I speak of our family Dunkerque which represents only a small section of a greater singularly noteworthy process. This retreat of the thinkers and writers from Europe, which is happily with your assistance already partially complete, still partly in strategic motion, - this landing of almost the entire intellect of Europe on the coast of America is really an extremely remarkable and memorable historic event.(175)

Schließlich folgen der Wunsch nach guter Aufnahme der Geretteten in den USA inmitten einer bedrohlichen politischen Weltlage und eine nochmalige besondere Begrüßung Heinrichs, eine Art persönlicher und politischer Toast:

I am just half an American - an American in the making. Do not take it then as a presumption, Ladies and Gentlemen, that I allow myself to welcome Heinrich Mann in the name of free America and promise him, that this country will grant the evening of his life respectful gardianship(176).

Die Helfer, die zu dieser Rettung so wesentlich beigetragen hatten, diese "Unitarier, die behilflich waren", das Unitarian Service Committee - wer und was war das?
     Gegründet worden war das Unitarian Service Committee erst vier Monate zuvor: im Mai 1940 in Boston, gemeinsam mit Vertretern der Quäker; den unmittelbaren Anlass zur Konstituierung dieser offenbar schon seit längerem geplanten Hilfsorganisation hatte das Münchner Abkommen gegeben. Ihr erstes und dringlichstes Ziel war die Rettung bedrohter und verfolgter Juden und Antifaschisten aus der Tschechoslowakei. Sehr bald aber hatten sich diese Aktivitäten - und mit ihnen Umfang und Reichweite der international operierenden Organisation selbst - in weiteren Ländern fortgesetzt; sie umfassten nun organisatorische, finanzielle, medizinische Hilfen für Verfolgte und Flüchtlinge, für Kriegsopfer in den besetzten Ländern, Erwachsene wie Kinder. Und sie wurden noch über das Kriegsende hinaus umfangreich fortgesetzt, unter anderem im Dienste des Wiederaufbaus in Frankreich, Deutschland und anderen Ländern Europas, und schließlich auch auf sozial bedürftige Amerikaner ausgedehnt.(177)
      Das größere Emergency Rescue Committee, mit dem die Unitarier seit 1940 zusammenarbeiteten, war nur einen Monat jünger als deren Flüchtlingsorganisation; sein Gründungsdatum ist der 25. Juni 1940 (auch wenn die Organisation sich erst im September ins New Yorker Vereinsregister eintragen ließ; seit 1951 - und bis heute - trägt es den Namen International Rescue Committee). In diesem Fall war es das deutsch-französische Waffenstillstandsabkommen, das einen Einsatz für verfolgte Künstler, Wissenschaftler und Politiker, Franzosen ebenso wie nach Frankreich geflohene Mittel- und Osteuropäer, aus dem besetzten Frankreich höchst dringlich erscheinen ließ. Die Absicht, mit anderen Hilfsorganisationen zusammenzuarbeiten, leitete aber schon diese Gründung; so gewann das Büro des Unitarian Service Committee in Lissabon "besondere Bedeutung für den Ablauf der Arbeit in Europa".(178)
      Von Beginn an war Thomas Mann in diese Arbeit involviert. Er gehörte, zusammen mit Reinhold Niebuhr, Paul Hagen, Hermann Kesten, Hans Sahl und anderen Exilanten, zu den Gründungsmitgliedern des ERC, und er blieb engagiert in seinem Beirat, dem Advisory Committee. "Unter den Exilschriftstellern, die die Arbeit des ERC unterstützten, ist zunächst Thomas Mann zu nennen", erläutert der Exilforscher Wolfgang Elfe. "Thomas Mann wirkte bei der Gründung des ERC wie auch bei der Beschaffung von Geldern mit, wobei ihm zeitweilig ein Teil der dabei anfallenden Kleinarbeit von Erika Mann abgenommen wurde."(179) Zumindest zeitweise konnte er offenbar sogar als Sprecher des Unitarian Service Committee auftreten; dafür spricht jedenfalls ein Dankbrief für eine Spende, den er am 23. Juni 1940 namens des USC unterzeichnet.(180)
     Es war das ERC, das in enger Zusammenarbeit mit dem Unitarian Service Committee im August 1940 beschloss, den Journalisten Varian Fry in den nicht besetzten Teil Frankreichs zu schicken. Fry sollte Kontakt zu den Verfolgten aufnehmen und ihnen finanziell und organisatorisch bei der Flucht wie auch bei der Beschaffung amerikanischer Sondervisa helfen.(181) Fry berichtet von den Vorgängen ausführlich in seinem Buch Surrender On Demand.(182) Die unmittelbare Verbindung zu Heinrich, Nelly und Golo Mann kam offenbar über Lion Feuchtwanger zustande, der auch später wie Thomas Mann enge Beziehungen zur Unitarischen Kirche in Los Angeles unterhalten wird: Feuchtwanger, so schreibt Heinrich Mann, schätze "seine Freunde, die frommen und tatenlustigen Mitglieder verschiedener Sekten von drüben, Unitarier, Quäker und so".(183) Wahrscheinlich ist Frys Mitarbeiter Leon (in manchen Quellen auch: Richard) Ball jener "wackere Unitarier", der Heinrich Mann und die anderen Flüchtlinge "über den Berg" geführt hat; Fry, "the Unitarians' most important collaborator",(184) hat die Flucht offenbar nur organisiert.

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