Vorgeblättert

Ian Buruma: Chinas Rebellen. Teil 3

24.08.2004.
Chai studierte in Peking, wo, wie sie betont, "wir alle dem amerikanischen Traum nachhingen". Auf meine Nachfrage, was das bedeutete, erklärte sie: "Das Amerika der Cowboyfilme - in dem man sich abrackert und ans Ziel kommt. Ich wollte immer schon nach Amerika, hatte mich 1989, als die Demonstrationen begannen, dort an einer Schule beworben." Das Land, in dem man "sich abrackert": Diesen Ausdruck hatte sie mir gegenüber jetzt schon zum zweiten Mal benutzt. Vielleicht kann nur jemand aus einem kommunistischen Land, das Arbeitseifer und Zielstrebigkeit oft mehr bestraft als belohnt, auf die Idee kommen, daß "sich abrackern" ein Ausdruck von Freiheit sein kann. Doch dem Vernehmen nach war die Vision eines amerikanischen Traums, der Ehrgeiz mit sentimentaler Hybris verbindet, in einer viel anheimelnderen Gestalt als der von Cowboyfilmen über Chai gekommen: Als Jugendliche hatte sie von einer eigenen Fernsehsendung für Eltern und Kinder geträumt, um mit Hilfe des darin aufgebauten Themenparks Kleidung und Spielzeug zu "vermarkten". Ihr Vorbild war Walt Disney: "Er hat seine Leidenschaft wahr gemacht." Und diese Art Leidenschaft sei auch in die Tian’anmen-Bewegung eingeflossen.
Disneyland-Phantasien und Hungern zur Rettung Chinas schienen mir eine ziemlich seltsame Kombination. Doch Chai beteuerte, daß auch ihr Hungerstreik ganz der Liebe zum Leben entsprach, denn die Studenten hätten das Leben selbst so sehr geliebt, daß sie ihr eigenes für andere zu opfern bereit waren. Das sei absolut "aufrichtig " und nicht bloß politische Taktik gewesen. "Wir wollten damit die Politik überwinden - jedenfalls ihr Klischee."
Das Bekenntnis zur Unschuld, Aufrichtigkeit und jugendlichen Reinheit verlieh, ob als taktisches Manöver oder nicht, dem moralischen Appell der Studenten besondere Überzeugungskraft. So erfüllten sie das traditionelle Ideal selbstloser Vaterlandsliebe, paßten jedoch auch erstaunlich gut in die Welt des amerikanischen Traums. Genau diese durch westliche Freiheitsphantasien genährte absonderliche Textur aus der idealistischen Tradition Chinas und dem romantischen Individualismus brachten die Studenten mit ins Exil, und in Amerika konnten Chai Ling, Li Lu und andere schließlich tun, was sie schon immer gewollt hatten - ihr Leben selbst in die Hand nehmen und ihrem Ehrgeiz folgen. Doch wie bei vielen Immigranten überzeichnete ihre neue Lebensweise manche Schwächen des Gast-, aber auch des zurückgelassenen Heimatlandes. So verbanden sich Idealismus mit Selbstverwirklichung (die amerikanische Lebensweise) und Durchhaltevermögen mit der Neigung zur Paranoia (das chinesische Erbe). Nach Chai Lings Plädoyer für die USA erklärte ich sie zur amerikanisiertesten Chinesin, die mir je begegnet sei. Da glitt ein Anflug von Wut und Furcht über ihre Züge. "Das dürfen Sie nicht sagen! Ich bin eine Überlebende. Wenn Sie das schreiben, wird man mich in China hassen!"
Das stimmte. Doch einige der Älteren, denen man noch übler mitgespielt hatte als ihr, lebten ebenso wie sie in Amerika.

Liu Binyan war einst der berühmteste Journalist Chinas. In den achtziger Jahren erreichten seine Illustrierten- und Zeitungsartikel, in denen er den allgemeinen Filz und Amtsmißbrauch anprangerte, ein Millionenpublikum. Wenn Liu in diese oder jene Stadt kam, um den jüngsten Skandal zu recherchieren, begrüßte man ihn wie eine Art Erlöser. In Peking kampierten Menschen sogar vor seinem Haus, nur in der Hoffnung, er könnte etwas über ihre Leidensgeschichten schreiben. Es gab Millionen, ja Abermillionen solcher Geschichten, doch Lius Zeit reichte nur für einige wenige.
Liu Binyan war als loyaler Kommunist ein echt chinesischer Held und versuchte, den Idealen der konfuzianischen Gelehrten nachzueifern. Zwar wollte er das offizielle Dogma - den Marxismus-Leninismus - in Ehren halten, ihn aber von aller Korruption gereinigt wissen und die in seinem Namen Regierenden wieder auf den Pfad der Tugend führen. Doch wie alle Chinesen, die dem kritischen Denken nicht abschworen, mußte auch Liu für seine Opposition büßen. 1987 schloß man ihn wegen "übler Nachrede und Verleumdung" sowie Förderung des "bürgerlichen Liberalismus" aus der Partei aus - übrigens schon zum zweiten Mal: Bei Maos Hatz auf kritische Intellektuelle hatte er 1957 bereits seinen Posten und die Parteimitgliedschaft verloren sowie Schmähungen als mieser "Rechtsabweichler " ertragen müssen. Nachdem man seine Kinder gegen ihn aufgewiegelt und seine Frau gezwungen hatte, ihn öffentlich zu denunzieren, mußte er jahrelang Schweine hüten und Jauche ausfahren. Alles nur, weil Liu die Parteiführung zu kritisieren gewagt und sich dadurch als "unaufrichtig" oder, schlimmer noch, "eigensinnig " erwiesen hatte. 1961 wurde er "rehabilitiert", 1969 jedoch mit verstärkter Brutalität und Grausamkeit erneut verfolgt, um 1980 wieder in die Partei eintreten und eine mehrjährige Schonzeit als Starreporter beim offiziellen Parteiorgan, Renmin Ribao (Volkszeitung), erleben zu dürfen.
Liu liebte die Partei, konnte indes nicht davon ablassen zu berichten, was er sah: Parteikader, die sich persönlich bereicherten und Frauen mißbrauchten (manchmal mit schäbigen Essensresten kauften), während man Menschen, die dagegen protestierten, folterte und tötete. "China", schrieb er in seiner Autobiographie A Higher Kind of Loyality, "erschien mir wie ein ungeheures Räderwerk, das immer weiterlief und jegliche Individualität aus dem Nationalcharakter herausmahlte. Alle unsere Worte und Taten, jeder einzelne Aspekt unseres Daseins mußte der Norm entsprechen. … Die unsichtbare Maschine rotierte still und heimlich immer weiter mit dem Ziel, alle Kanten abzuschleifen und eine Volksmasse zu schaffen, die ihren Herrschern nur mit einem subalternen, schmeichlerischen Ausdruck begegnete. Das Endergebnis war, die Heuchelei als Tugend auszugeben. Im Verhältnis zwischen Oberen und Niederen, aber auch zwischen Gleichen herrschte oberflächlich ein gutes kameradschaftliches Klima, doch hinterrücks liefen Komplotte und Intrigen ab. An die Macht gelangt, zeigten dann jedoch einige offen ihre Krallen."(4)
Lius Erlebnisse müßten, so könnte man meinen, seinen Glauben an den Kommunismus ein für allemal erschüttert haben, doch nach wie vor sucht er die Schuld nicht beim Dogma, sondern bei denen, die sich von der Macht korrumpieren ließen und es pervertierten. Ebenso wie seine Peiniger nimmt er an, daß seine Feinde aus niederen Beweggründen handeln. Und weil er das unverblümt ausgesprochen hat, lebt er heute in der Kleinstadt Plainsboro in New Jersey.
Die biedere Phalanx neuer, weiß-beige gestrichener Reihenhäuser läßt keine Geschichte oder ästhetische Tradition ahnen, erscheint bei aller Sauberkeit etwas provisorisch, wie nicht für sehr lange gebaut. Die stille Straße wirkte, von ein paar durchfahrenden Autos abgesehen, verwaist. Plainsboro schien fernab von allem zu liegen. Eines Novembernachmittags saß ich mit Liu in seinem Wohnzimmer. Der Raum war nur spärlich eingerichtet: eine chinesische Kalligraphie an der Wand, diverse Grünpflanzen und ein mit Ausschnitten aus amerikanischen Zeitungen und chinesischen Emigrantenblättern übersäter Holztisch. Liu saß im Schatten der durchs Fenster scheinenden Wintersonne - ein Hüne mit langsamen, schwerfälligen Bewegungen und einem ledernen, tief zerfurchten nordchinesischen Gesicht, der an einen traurigen Bären erinnerte. In einem Kauderwelsch aus Englisch und Chinesisch erklärte er mir seine Einstellung gegenüber den Studentenführern von 1989.
"Der Haken ist", sagte Liu, "daß sie keine Ahnung von Geschichte hatten und sich für die ersten Demokraten Chinas überhaupt hielten. Das schlimmste jedoch war ihr persönliches Machtstreben." Dabei fiel mir etwas ein, das Liu nach dem Massaker von Peking geschrieben hatte. Sein Vorwurf lautete, die Studenten seien "die egoistischste Generation seit 1949" gewesen und hätten nicht einmal gewußt, was es bedeutete, sich für eine größere Sache zu opfern.
Ich fragte Liu, woran das liege, und er machte den gewöhnlich negativen Einfluß des Westens auf Chinesen dafür verantwortlich: den Materialismus, die sexuelle Revolution und so fort. Im Mittelalter zu leben und dann plötzlich der westlichen Kultur ausgesetzt zu werden, das könne doch nur zur übelsten Form von Egoismus führen.
Auch Liu zweifelte also an der Aufrichtigkeit der Studenten. Nun wußte ich aus seinem Buch, daß seine frühen Protestkundgebungen denen der so getadelten jüngeren Generation durchaus entsprachen. Manche Bekenntnisse aus seiner Autobiographie erinnerten mich an Äußerungen von Wu’er Kaixi. 1925 im eisigen Nordosten Chinas geboren, hatte sich Liu den revolutionären Kommunisten angeschlossen, um nicht nur die japanischen Invasoren zu vertreiben, die das Land in den dreißiger Jahren drangsalierten, sondern auch gegen Armut und Ungerechtigkeit zu kämpfen. Doch sei es auch darum gegangen, "mich selbst zu befreien und zu verwirklichen. Zwar wußte ich nicht genau, was dieses ›Selbst‹ war, spürte aber schon in mir etwas keimen, das irgendwann zur Blüte kommen und mich eines Tages auf einen ganz besonderen Weg schicken würde."
Liu liebte das traditionelle chinesische Theater und las patriotische kommunistische Legenden über Arbeiter und Bauern, die sich für die Nation opferten. Als Junge hatte ihn der Heldenmut des Generals Yue Fei aus dem 12. Jahrhundert begeistert, von dessen Selbstlosigkeit noch heute Singspiele und Bilderbücher handeln. Yue Fei stand in einer langen Reihe chinesischer Dickschädel, die feindlichen Barbaren - in seinem Fall Nomaden nördlich der Chinesischen Mauer - kein Jota nachgeben wollten. Vor dem Feldzug habe Yue Fei seiner Mutter kniend vier ihm ins Genick tätowierte Schriftzeichen gezeigt, die besagten: "Diene nur deinem Land!"
Der Unterschied zwischen Liu und den Tian’anmen-Studenten liegt darin, daß die Kommunistische Partei ihm einen Rückhalt für seine Zuversicht, den Patriotismus und die Loyalität bot: Der Kommunismus war das Beste im Dienste Chinas. Doch leider stand Liu dabei sein anderes Ziel im Weg, nämlich das der Selbstverwirklichung, wodurch er zum "bürgerlichen Liberalen", "Rechtsabweichler" und "Konterrevolutionär" wurde, und das nicht ganz unfreiwillig. Er wollte ja gerne glauben, aber die Realität stellte seinen Glauben immer wieder auf die Probe, und am Ende wies ihn die Partei zurück. Die unter Mao herangewachsenen Studenten hingen nicht solchen Illusionen an. Sie hatten zwar patriotische Gefühle, aber keine Ideologien und waren bei der Ankunft in Amerika noch flexibel genug, um sich im Exil selbst verwirklichen zu können. Im Gegensatz dazu fand Liu Binyan nur Ernüchterndes vor. Seine Welt brach zusammen. Heute sitzt er in einem amerikanischen Vorort fest, weil seine Zuversicht in der Heimat ihn Lügen strafte.
Während Liu von seinen Enttäuschungen sprach, wurde es dunkel im Raum. Der Tian’anmen-Aufstand habe ihn sehr erregt und fest mit dem Zusammenbruch des Regimes rechnen lassen, als ihm das mörderische Vorgehen vom Sommer 1989 den letzten Rest von Legitimität nahm. Am Ende würde er im Triumph heimkehren können, um die Tugend der chinesischen Politik wiederherzustellen und nicht nur sein Land, sondern auch das Beste von seinen marxistischen Überzeugungen zu retten. Doch es kam anders. Vielleicht spiegelt sich in Lius Bitterkeit über die "egoistischen" Studenten seine Verzweiflung wider, und vielleicht will er ihnen die Zerschlagung seiner Hoffnungen in die Schuhe schieben. Liu schreibt weiter Artikel für die Emigrantenpresse und Beiträge für Radio Free Asia; zwar sei der Sender in China gestört, aber manchmal könne man ihn frühmorgens oder spätabends knisternd empfangen. In China darf der Name Lius offiziell nicht erwähnt werden, weshalb es ihn zutiefst rührt zu hören, daß man "sich in China noch an mich erinnert und mich vermißt".
Ich fragte ihn nach den Feindseligkeiten in der chinesischen Diaspora - warum man einander so sehr hasse. Still seufzend durchforstete er die auf dem Tisch liegenden Zeitungsausschnitte, auf der Suche nach einen Artikel über irgendwo in Zentralchina neu aufgenommene Experimente mit Volkskommunen. Den solle ich mal kurz lesen, um zu sehen, daß der Maoismus auch sein Gutes habe und es noch manches aus dem Trümmerhaufen zu retten gelte. Die Bauern in den "Volkskommunen" mochten nicht frei sein, hätten aber genug zu essen, und mehr brauchten sie ja im Grunde nicht. Jedenfalls habe unter Mao wirklich Gleichheit geherrscht. Es müsse einen Mittelweg geben zwischen Kommunismus und Kapitalismus amerikanischen Stils. Da Liu den gesuchten Artikel nicht fand, entschloß er sich, erst einmal auf meine Frage zu antworten. In der Demokratiebewegung gebe es keine politischen Brüche. Alle wollten die Demokratie. Nein, es gehe nur um persönliche Dinge, da zu viele Leute um Profit und Ruhm kämpften.
"Ich denke", sagte er nach einer weiteren Pause, "ein Großteil dieser Animositäten hat mit der han-chinesischen Kultur zu tun. Schon seit zwei Jahrhunderten haben wir keine großen Denker mehr hervorgebracht, zwar gewiß viele nützliche Dinge erfunden, aber keine Philosophen wie Deutschland und keine Romanciers wie Rußland aufzuweisen. Tausend Jahre lang mußten wir Chinesen um das nackte Überleben kämpfen und sind deshalb jetzt nicht mehr in der Lage, im Dienste einer größeren, unsere Eigeninteressen übersteigenden Sache abstrakt zu denken. Wir sind zu kompliziert, zu trickreich. Die konfuzianische Kultur gebiert Heuchler. Hier sitzen die Armen nach wie vor ohne Strom im Dunkeln, brüten über ihren Ressentiments und sinnen auf Rache, was sie grausam macht. Ich denke, wir haben unsere Probleme geerbt, und daher liegen sie uns Chinesen im Blut."
Immer wieder sprachen Chinesen, ob im In- oder Ausland, von diesem ethnischen Selbsthaß, von einer tiefen Verzweiflung über ihre nationale Identität. Der bekannte taiwanische Schriftsteller Bo Yang hat in den achtziger Jahren mit Der häßliche Chinese ein vielbeachtetes Buch über die "Entartung" der chinesischen Kultur veröffentlicht und darin beklagt, daß die Chinesen "keine gemeinsame Sprache finden, sondern einander stets an die Kehle gehen". Dafür macht er einen "neurotischen Virus" in ihrer Kultur verantwortlich, der sie daran hindere, ihre Fehler einzugestehen und Kompromisse mit anderen zu schließen.(5)
Vermutlich erwächst dieses Mißfallen aus einem enttäuschten Kulturchauvinismus, und in der Tat betont Bo Yang, daß "kein anderes Volk auf Erden eine so alte Geschichte und derart gut bewahrte Kulturtradition hat, die einst eine äußerst fortgeschrittene Zivilisation hervorbrachte. … Wie konnte eine so großartige Nation so tief sinken? Nicht nur ließen wir uns von Fremden herumkommandieren, sondern, schlimmer noch, jahrhundertelang auch von unseresgleichen - von tyrannischen Kaisern über despotische Beamte bis hin zu skrupellosen Banden …" Bo Yang mußte zwei Haftstrafen wegen Volksverhetzung absitzen: die erste unter der kommunistischen Regierung seiner Heimat China, die zweite in Taiwan, weil er sich in einer Karikatur über den Generalissimus Chiang Kai-shek lustig gemacht hatte.
"Eine so großartige Nation!" Daraus folgt, daß die politischen Probleme Chinas eigentlich nur aus irgendeiner kulturellen Katastrophe erwachsen sein konnten, einem gefährlichen Erreger, der das hanchinesische Blut vergiftete. Doch in der Verzweiflung Bo Yangs oder Liu Binyans äußert sich nicht nur ein perverser Kulturchauvinismus; sie resultiert auch aus Demütigung: aus der Unfähigkeit, den Despotismus abzuschütteln, aus der Schmach, unfrei zu sein. 1989 kamen bei Chinesen weltweit kurz Hoffnungen auf, jetzt würde der Bann endlich gebrochen und China den Schritt in die Freiheit tun. Deshalb wälzt man die Demütigung der Niederlage auf die "radikalen" Studentenführer ab, die entweder aus purem "Egoismus" nicht bereit waren, sich für China zu opfern, oder als die typisch "häßlichen Chinesen" unfähig, den nötigen Kompromiß zu schließen und ihre Fehler einzugestehen.
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(4) Liu Binyan, A Higher Kind of Loyalty, New York: Pantheon 1990.
(5) Bo Yangs Bemerkungen sind zitiert nach Geremie Barme und John Minford
(Hg.), Seeds of Fire. Chinese Voices of Conscience, New York: Hill
and Wang 1988.

Mit freundlicher Genehmigung des Hanser-Verlages

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