Vom Nachttisch geräumt

Weltkrieg und Weltbild

Von Arno Widmann
20.06.2016. Es gibt kaum eine bessere Einführung in die Entstehung der Nachkriegsordnung als Victor Sebestyens "1946".
Dem Titel konnte ich nicht widerstehen: "1946 - Das Jahr, in dem die Welt neu entstand". Wer 1946 geboren wurde, wird durch ihn seinen schon vor Jahrzehnten abgelegten Kinderwahn plötzlich bestätigt sehen. Ich hatte immer bedauert, nicht 1945 geboren worden zu sein. In diesem Jahr war der zweite Weltkrieg zu Ende gegangen, mit den Bomben auf Hiroshima und Nagasaki hatte das Atomzeitalter begonnen, eine wirklich neue Epoche der Menschheit. Auch die Nürnberger Prozesse, die, wenn man sie nicht als ganz normale Siegerjustiz betrachtete, eine Wende im Internationalen Recht einleiteten, hätten einleiten können, später einleiten würden..., begannen 1945. Aber 1946? Was war da schon los gewesen? Der deutsche Winter war kalt, die Menschen hatten nichts zu heizen und nichts zu essen, so hatte ich es von meiner Familie gehört. Später erfuhr ich dann, wie gering diese Leiden waren, im Vergleich zu denen ein paar Hundert Kilometer weiter östlich.

Als ich sechs Jahre alt war, lebten wir im portugiesischen Cascais. Dort und im Nachbarort Estoril sahen wir oft beim Spazierengehen oder einmal auch abends in einem Restaurant einen zierlichen Herrn, von dem meine Eltern sagten, es sei der Ex-König Jugoslawiens, Umberto, der 1946 ins portugiesische Exil gegangen sei. Das war mein erster wirklicher König. Um die Wahrheit zu sagen: Umberto blieb mein einziger König. Kein anderer hat mich je wieder gegrüßt. Bei aller Lust an der Spekulation, der niemals nachlassenden Leidenschaft hinter die Dinge zu blicken, hatte doch der Sechsjährige begriffen, dass ein König eine Fiktion ist. Er ist nichts Besonderes. Er ist wie wir alle. Diesem gefiel meine große, üppige, blonde Mutter und so grüßte er uns, wenn unsere Wege sich kreuzten. Märchen waren Lügengeschichten. 1949 wurden die Bundesrepublik und die DDR gegründet. Naja, kein Vergleich zu 1945, das waren ja nichts als ephemere Randerscheinungen der Teilung der Welt, die wiederum die Signatur des Atomzeitalters war. Viel später merkte ich mir noch an Hand meines Geburtsjahres, dass damals der Bikini erfunden wurde und die DEFA den ersten deutschen Nachkriegsfilm "Die Mörder sind unter uns" produzierte.

Schluss mit den Abschweifungen. Hin zu "1946 - Das Jahr, in dem die Welt neu entstand". Autor ist Victor Sebestyen. Der für Newsweek arbeitende Journalist wurde 1956 in Budapest geboren. Er hat ein weltweit erfolgreiches Buch über den ungarischen Volksaufstand von 1956 geschrieben und natürlich warf ich mich sofort auf den Band über 1946. Zunächst auf die englische Ausgabe. In der ist Ernst Jünger ein Historiker und ein "Nazi fellow traveller". Die deutsche Ausgabe korrigiert das. Sie lässt den Nazi fellow traveller ganz weg und etikettiert Jünger als "nationalistischen Schriftsteller".

Will ich Ihnen das Buch madig machen? Im Gegenteil. Ich kann mir keine bessere Einführung in die Entstehung der Nachkriegsordnung vorstellen. Sebestyen zeichnet das - fast - weltweite Panorama dieser Zeit in kurzen Kapiteln, die alle mit einem sprechenden Detail und mit einem ganz präzisen Datum beginnen. Daraus erwachsen dann Skizzen unterschiedlichster Standorte, die sich im Kopf des Lesers zu einem großen Historienbild der Epoche zusammenfügen. Nach dem Krieg setzten zum Beispiel, haben wir gelernt, alle Parteien Deutschlands auf den Staat. Das berühmte Ahlener Programm der CDU ist ein immer wieder gern angeführter Beleg für diese Tendenz auch in der Partei der sozialen Marktwirtschaft. Ja, diese selbst wird zu Recht verstanden als ein Versuch, dem Markt staatlicherseits Grenzen zu ziehen. Der Leser von Sebestyens "1946" lernt, dass das keineswegs eine deutsche Besonderheit war. In allen Ländern gab es ein die politischen Lager von Rechts und Links übergreifendes Bewusstsein davon, dass die "Laisser-faire-Politik der freien Marktwirtschaft katastrophal gescheitert sei. Die Unfähigkeit der herrschenden Eliten, etwas gegen die Weltwirtschaftskrise der dreißiger Jahre, gegen Massenarbeitslosigkeit, Handelseinbrüche und den extremen Nationalismus zu unternehmen, hatte ins Chaos und zu Faschismus und Krieg geführt - praktisch zum Zusammenbruch der gesamten europäischen Zivilisation… Nur der wohlwollende Staat, so erschien es den meisten, könne die großen Probleme lösen…"

Sebestyen zitiert diese von England bis Japan verbreitete Ansicht. Der Krieg habe den Menschen den Staat als Retter gezeigt. Der Weltkrieg hat auch ein Weltbild produziert. Wem von Sebestyen so die Augen geöffnet wurden, der wird vielleicht auch noch einen oder zwei Schritte zurücktreten und dieses Bild in ein noch weiteres Panorama einfügen. Er wird dann sehen, dass Faschismus und Nationalsozialismus auch Kriegsprodukte waren, selbst schon Versuche waren, Markt und Staat neu auszutarieren und neu zu organisieren. Das zwanzigste Jahrhundert hat überall auf der Welt mörderisch experimentiert. Forscher und Probanden tauschten unentwegt die Rollen.

Nicht nur die. Wer das Kapitel über den Anschlag auf das King David Hotel am 22. Juli 1946 liest, der wird daran erinnert, dass die Gründung des Staates Israel herbeigebombt wurde. Sie war nicht nur eine Reaktion auf die Erkenntnis, dass das nationalsozialistische Deutschland die Ermordung der europäischen Juden zu seiner Staatsdoktrin und -praxis gemacht hatte, sie war auch ein Einknicken Großbritanniens vor dem jüdischen Terrorismus der Irgun. Das Hotel war das Hauptquartier der britischen Mandatsverwaltung in Palästina. Der Anschlag stieß unter den in Palästina lebenden Juden auf scharfe Kritik. Ben Gurion, der spätere Staatschef Israels, erklärte, der damalige Chef der jüdischen Terroristen und Jahrzehnte später ebenfalls Staatschef Israels, Menachem Begin "stelle eine Gefahr für den Zionismus da und wenn man ihm gestatte, Amok zu laufen, dann werde es einen Bürgerkrieg zwischen Juden geben". Sebestyen weist darauf hin, dass Ben Gurion keineswegs prinzipiell gegen die Anwendung von Gewalt war. Aber gar nichts davon hielt, sie unabhängig von ihm und seinen strategischen Plänen einzusetzen. Man wird bei der Betrachtung der heutigen Situation im Nahen Osten nicht diese Erfahrung vergessen dürfen: Terrorismus ist nicht Ausdruck der Verzweiflung. Er ist eine Strategie. Der Staat Israel ist auch herbeigebombt worden. Das wissen die damals "Araber" genannten Palästinenser. Das wissen auch die Israelis.

Victor Sebestyen: 1946, Das Jahr, in dem die Welt neu enstand, Rowohlt Berlin, Berlin 2015, aus dem Englischen von Hainer Kober und Henning Thies, 541 Seiten, s/w Abbildungen, 26,95 Euro.