Vom Nachttisch geräumt

Mein einzig wahrer Feind bin ich selbst

Von Arno Widmann
01.08.2018. Explodierende Mandalas, Blütenträume und der Krieg in einem selbst: Über "outsider art" aus dem Archiv des C.G. Jung-Instituts.
Am 8. Juli ging die Ausstellung "Im Land der Imagination - Die Sammlung C.G.Jung" (mehr im pdf) im Museum im Lagerhaus in St. Gallen zu Ende. Es war das erste Mal, dass man besichtigen konnte, was der Begründer der Analytischen Psychologie C.G. Jung (1875-1961) an künstlerischen Produktionen seiner Patienten zusammengetragen hatte. Es sind insgesamt rund 4500 Gemälde, Zeichnungen und Stickereien seiner Patienten aus den Jahren von 1917 bis 1955. Jung begriff diese Bilder als Teil des therapeutischen Prozesses, in dem die inneren Bilder nach Außen gebracht wurden - eben nicht nur mittels der Sprache.

Anonym, "Painting to represent my", undatiert. © C.G. Jung Institut, Zürich/Küsnacht
Die Arbeiten entstanden mit Jung zusammen. Vielleicht haben sie darum so große Ähnlichkeiten mit seinen eigenen Traumbildern, die er im "Roten Buch" darstellte und analysierte. In Jungs Theorie liegt diese Ähnlichkeit aber weniger an seiner Mitwirkung als vielmehr an der Tatsache des kollektiven Unbewussten. Wo der Mensch am tiefsten in sich gräbt, stößt er aufs Allgemeinste. Er findet Archetypen wie das Mandala, das Licht, die Schlange, das Weltenei. Sie tauchen in immer wieder neuen Bildern bei den unterschiedlichsten Menschen, mit den unterschiedlichsten Fallgeschichten auf. "Ab 1916 forderte Jung seine Patienten zu einem Dialog mit ihren inneren Figuren auf, den Personifizierungen der psychischen Komplexe. Später motivierte er sie, Träume, Erlebnisse oder eben Aktive Imaginationen kreativ in Zeichnungen, Malerei, Stickerei, Skulpturen, Tanzen etc. auszudrücken. Er beobachtete, dass seine Patienten dadurch einen Weg fanden, ihre psychischen Erlebnisse zu verarbeiten und damit Konflikte und Elemente ihrer inneren Welt zu integrieren - ein Weg, um nicht getrennt von sich selbst zu sein."

Integration durch Auseinander-Setzung. Das bedrängend Fremde in einem muss herausgearbeitet werden, muss eine eigene Gestalt bekommen, damit man es endlich akzeptieren und aufnehmen kann als Teil der eigenen Existenz.

Anonym, "Blütenbaum", um 1925, © C.G. Jung Institut, Zürich/Küsnacht
Nach dem Zweiten Weltkrieg schrieb Carl Schmitt, der besessen war von der Idee der Trennung der Menschheit in Freund und Feind: "Der Feind ist unsere eigene Frage als Gestalt. Das bedeutet in concreto: nur mein Bruder kann mich in Frage stellen und nur mein Bruder kann mein Feind sein." Bei Jung ist das noch radikaler: Mein einzig wahrer Feind bin ich selbst. Ich bin eine Koalition einander bekämpfender Mächte. Souverän bin ich erst, wenn ich Herr über den Bürgerkrieg in mir bin. Souveränität ist aber kein Zustand, sondern nichts als ein Moment. Die Konfliktparteien stürzen sich sofort wieder in neue Kriege. Sie tun damit, was sie tun müssen, so wie man versuchen muss, sie zu pazifizieren. Das steht nicht bei Jung, das steht auch nicht im Katalog zur Ausstellung. Das sind meine von den Bildern der Ausstellung, von den Texten des Kataloges ausgelösten, freigelassenen Assoziationen.

Anonym, Ohne Titel, 22.09.1934, © C.G. Jung Institut, Zürich/Küsnacht
Ein Beitrag im Katalog arbeitet die Bedeutung heraus, die C.G.Jung für die von ihm verachtete Dada-Bewegung hatte: "Im Februar 1916 ist in Zürichs Altstadt Dada gegründet worden, nur wenig früher der Psychologische Club an der nahen Gemeindestraße. Das könnte Zufall sein und nichts bedeuten, doch gibt es unzweideutige Belege dafür 'dass sich die Veranstaltungen des Psychologischen Clubs und Dada Zürich ihr Publikum oftmals teilten'. Jung'sche Analytikerinnen waren mit Dadaisten befreundet, und Erika Schlegel, Bibliothekarin des Psychologischen Clubs, trat mit ihrer Schwester Sophie Taeuber sogar im Cabaret Voltaire auf. Ja, Jung selbst berichtet von Patientinnen, die 'Mandalas nicht zeichneten, sondern tanzten'."

Anonym, Ohne Titel, undatiert, © C.G. Jung Institut, Zürich/Küsnacht
Von Hans Arp und Sophie Taeuber ist überliefert, dass sie nachdem sie in der Dada-Bewegung nicht nur den Unsinn gepredigt, sondern auch nach einem Ursprung gesucht hatten, 1919 im Sanatorium in Arosa Werke von C.G. Jung lasen. Der brachte ja nicht nur die Zerrissenheit einer aus den Fugen geratenen Welt zum Ausdruck, sondern auch das Verlangen danach, das Auseinandergefallene wieder neu zusammenzubringen. Neu? Jung suchte nach dem ältesten Grund, nach dem kollektiven Unbewussten, von dem aus wieder aufgebaut werden sollte. Er mochte die Moderne hintergehen wollen, aber gerade das war, so wenig er selbst das sah, so wenig das seine Gegner sehen wollten, das Moderne an ihm. Zur Moderne gehört der Wille, ihr zu entkommen.

Anonym, Ohne Titel, undatiert, © C.G. Jung Institut, Zürich/Küsnacht
Die Bilder. Ich habe die Bilder vergessen. Dabei geht es in Ausstellung und Katalog natürlich um sie. Da sind die Mandalas, die kunstvollen Kreise, in deren Mitte ein Kind sitzt, ein Ei oder auch gar nichts. Die Sonne selbst ist auch nur ein ruhiges oder auch explodierendes Mandala. Ich weiß nicht, ob es in Jungs Theorie ein explodierendes Mandala gibt. In diesen Abbildungen aber findet man es. Das Wissen, die Ahnung, dass auch das Gerundete, das ewig in sich zu ruhen scheint, eine Geschichte hat. Es scheint doch nichts zu sein, auf das man einfach zurückgreifen kann. Es ist entstanden und vergangen. Es wird wieder entstehen und vergehen.

Anonym, Ohne Titel, Text verso, 1928, © C.G. Jung Institut, Zürich/Küsnacht
Die Bilder mögen das Innere nach außen tragen, aber es gibt auch Bilder, die unverkennbar das Äußere abbilden. Zum Beispiel Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, die in Rot, Schwarz und Nachtblau zerstörte Straßen und ausgebombte Häuser zeigen. Eines davon ist datiert "Dezember 1939" und trägt den Titel "Tote Straße. Traum zu Beginn des Krieges". Das ist, wenn es keine Vordatierung ist, eine Vorahnung. Es fällt schwer, dieses Bild als Abbild eines inneren Zustandes zu sehen. Zu übermächtig ist der Eindruck des: So war es. Es gibt ganz offensichtlich noch andere Feinde als das eigene Selbst.

Das Buch der Bilder - Schätze aus dem Archiv des C.G. Jung-Instituts Zürich, hrsg. von Ruth Ammann, Verena Kast und Ingrid Riedel, Patmos Verlag, Ostfildern 2018, 250 Seiten mit ca. 250 farbigen Abbildungen, 36 Euro.