Vom Nachttisch geräumt

Angst ist ein Schwarm, der in einem Baum ausruht

Von Arno Widmann
10.02.2020. Über Schwimmbäder, Väter und die Liebe wird gedichtet in der Lyrik-Anthologie "Grand Tour". Eine Entdeckung ist die Dichterin Maria Barnas.
Auf sieben Reisen wurden in 49 Ländern, wenn ich mich nicht verzählt habe, 780 Gedichte von 429 Autoren aufgelesen. Israel, Türkei und Russland gehören hier zu Europa. Die meisten Gedichte - 46 - wurden aus England mitgebracht, 44 aus Italien, 41 aus Spanien und 40 aus Polen, 29 aus den Niederlanden. Aus Litauen und Armenien jeweils nur eines. Die armenische, in Polen lebende Dichterin Tatev Chakhian und der luxemburgische Dichter Luc van den Bossche wurden beide 1992 geboren und sind so die jüngsten Autoren der Anthologie. Die ältesten sind die Griechin Katerina Iliopoulou und die Französin Valérie Rouzeau: beide Jahrgang 1967.

So schön es wäre, zur Statistik noch die Daten zu m/w/d nachzutragen, ich muss darauf verzichten. Ich bin einfach zu faul, mir diese Arbeit zu machen. Aber dass zwei von acht georgischen Gedichten den Vater thematisieren, das entgeht einem durchs Inhaltsverzeichnis schweifenden Leser nicht. Schwimmbäder haben auch mehrere Auftritte. Bäume aber deutlich mehr. Die höchste Einschaltquote hat unter Europas Dichtern nach wie vor die Liebe. Nach dem Umfang der Gedichte zu fragen, scheint sinnlos. Die Jäger und Sammler Federico Italiano und Jan Wagner, das zeigt schon das flüchtigste Blättern, haben sich gegen das Langgedicht entschieden. Es hat keinen einzigen Auftritt auf den mehr als 500 Seiten der Anthologie. Nur zu verständlich. Ein einziger Lukrez hätte den ganzen Band gefüllt. Die beiden Herausgeber sind sehr überzeugt von ihrer Sache. Aber ich verstehe nicht, wie sie zu der Auffassung kommen, das Gedicht erlaube "einen besonders präzisen und klaren Blick auf die Gegebenheiten und Gemütslagen im Norden, Süden, Osten und Westen des Kontinents". Schon gar nicht, wenn man die Gedichte liest.

Die in Amsterdam und Berlin lebende holländische Dichterin und Künstlerin Maria Barnas, geboren 1973, hat ein sehr kurzes, sehr schönes Gedicht in diesem Band. "Jaja der Urknall" heißt es, und es geht so: "Jaja der Urknall höre ich mich sagen./ Wie passt das nur in meinen Mund?/ Alles Entstehen ein Kloß auf meiner Zunge./ Stille. Angst ist ein Schwarm, der in einem Baum ausruht./ Oder sind es Worte die sich tintenschwarz/ auf Zweigen drängen. Es ist eine Art/ von Panik. Sie steigt in mir empor und bricht als auffliegender/ Schwarm aus meinem Schlund hervor. Das Universum breitet/ die Schwingen aus. Wir schlagen mit den Flügeln und jauchzen schrill." (Übersetzung: Stefan Wieczorek)

Ich liebe dieses Gedicht, ich bewundere die Autorin. Aber ist das Gedicht besonders präzise? Wer sich einmal in ein tiefes Tal gestürzt hat, der kennt dieses schrille Jauchzen. Aber welchen Erkenntnisgewinn bringt es, die Urangst mit dem Urknall kurzzuschließen? Null, behaupte ich. Aber es macht einen gewaltigen Effekt in meinem Gemütsleben. Präzise und klar sind Augentugenden. Mit denen hat dieses Gedicht nichts zu tun. Es lebt davon, dass es uns gleichzeitig aus verschiedenen Richtungen anspringt. Und das gewissermaßen von innen. Ich mag die Zeile "Angst ist ein Schwarm, der in einem Baum ausruht". Aber die Angst, die ich kenne, "ruht nicht aus". Sie mag lauernd in einem Baum ruhen, wartend auf die nächste Gelegenheit auszubrechen, um mir den Verstand zu rauben. An ausruhen, das doch nach getaner Arbeit kommt, ist nicht zu denken. Ich weiß nicht, ob ich an der Übersetzung oder an Maria Barnas' Gedicht herummäkele. (Auf Holländisch lautet die Zeile "Angst is een zwerm die rust in een boom.")

Es geht mir nur darum, dass "clare et distincte" das Programm des Descartes war und zu keinem Zeitpunkt das einer Poetik. Dichter zeigen uns, dass wir Ambivalenzen ertragen können, dass wir nicht alles sofort verstehen müssen. Maria Barnas ist eine große Dichterin.

Grand Tour - Reisen durch die junge Lyrik Europas. Im Auftrag der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung herausgegeben von Federico Italiano und Jan Wagner, Carl Hanser Verlag, München 2019, deutsche Übersetzung und Originalfassung, 581 Seiten, 36 Euro.
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